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Der Teil, in dem aus zwei drei werden

BETTYS MIXTAPE

The Specials – You’re Wondering Now

Ich lag im Bett und brütete. Es war fast fünf Uhr morgens. Mein Kopf dröhnte vom Alkohol und der lauten Musik, von meinen Pflichten als Hochzeitsplanerin und wahrscheinlich auch, weil der Stress nachließ, nachdem alles, was schiefgegangen war, von meiner Mutter entweder nicht bemerkt oder ignoriert worden war. Wie ihr allerdings hatte entgehen können, dass ein ganzes Stockwerk Torte gefehlt hatte, wollte mir einfach nicht in den Kopf. Ein ganzes Stockwerk!

Ich brachte die Plastikbeißschiene mithilfe meiner Zunge in Position, konzentrierte mich auf die Leiter und die halb abgerissene Tapete in der Ecke neben dem Fenster und versuchte, jegliche Gedanken an Torte fürs Erste weit von mir zu schieben. Weit, weit weg.

»Sie haben nichts gemerkt. Gar nichts.« Richard ließ sich mit Schwung neben mir ins Bett fallen. Sein Atem roch trotz Zähneputzen nach Alkohol. »Eine ganze Etage fehlt, und keiner sagt etwas. Besser hätte es nicht laufen …«

»Können wir über was anderes reden?«, fuhr ich ihm über den Mund. Das war hart und tat mir im selben Moment leid. »Oder vielleicht gar nicht reden?«, fügte ich etwas sanfter hinzu. »Ich bin müde. Ich hab Kopfschmerzen.«

Richard schaltete das Licht aus und atmete im Halbdunkel hörbar aus. »Du hast oft Kopfschmerzen in letzter Zeit. Geh doch mal zum Arzt.«

Vielleicht war es nur eine Feststellung. Ziemlich sicher war es das. Aber in meinen Ohren, in meinem übellaunigen Kopf, klang es wie ein Vorwurf. Mal ganz abgesehen davon, dass ich es hasste, wenn jemand dachte, mir sagen zu müssen, was ich zu tun hatte, vor allem wenn dieser Jemand Richard war: Wann hatte er denn mal etwas getan, worum ich ihn gebeten hatte. Gebeten. Mit »bitte« und allem. Nicht der unverschämte Imperativ, den er benutzte.

Ich nahm das Stück Plastik wieder aus meinem Mund, damit ich besser reden konnte. »Die Leiter steht da auch schon seit Wochen.«

»Ja«, antwortete er knapp. Das Thema kannte er. Darauf hatte er so wenig Lust wie ich.

»Wann machen wir das fertig?«

»Wenn ich dazu komme.«

»Und wann wird das sein?«

Ich hörte und merkte, wie er sich umdrehte. Von mir weg. »Morgen?«

»Morgen.« Ich lachte bitter. »Du stehst doch nie im Leben vor drei auf. Und dann hast du einen Kater.«

»Du doch auch, Daphne.«

»Aber ich versetze dich nicht ständig wegen irgendwelcher ›spontanen‹ Termine, weil ich eigentlich gar keinen Bock darauf habe, die Wohnung fertig zu machen.« Ich hielt den Atem an und wartete, wie er auf diese Unterstellung reagieren würde.

Er nahm sich seine Zeit, und als er antwortete, tat er das in einem erstaunlich ruhigen, aber auch merklich genervten Tonfall. »Ich bin unseretwegen aus New York zurückgekommen und hab dich gebeten, bei mir einzuziehen. Natürlich hab ich darauf Bock, die Wohnung mit dir zu renovieren. Aber mein Job ist eben sehr … arbeitsintensiv.« Ich prustete. Er seufzte. »Dafür sehen wir uns jetzt öfter als damals, als ich noch in Amerika gelebt habe.«

»Kaum«, giftete ich, den Blick an die Zimmerdecke geheftet. »Und ich lebe auf einer Baustelle. Vielen Dank auch.«

Richard seufzte. »Wenn es dich so nervt, dann renovier doch allein.«

»Nein!« Wutschnaubend setzte ich mich im Bett auf. »Das ist unsere Wohnung, und die renovieren wir zusammen. Ich meine, wenn du nicht einmal dafür Zeit findest …« Achtung, der finale Schlag: »… dann ist ja wohl klar, was dir unsere Beziehung bedeutet. Gar nichts nämlich.«

Das hatte ich so eigentlich nicht sagen wollen. Das hatte ich nicht einmal so gemeint. Ich hatte den Satz im Kopf gebildet und mir selbst befohlen: Was auch immer du jetzt sagst, das sagst du nicht. Aber der Imperativ, wie gesagt, funktionierte bei mir einfach nicht. Leider. Denn jetzt lagen wir hier und stritten uns wegen Kleinigkeiten. Um fünf Uhr früh. Im grauen Morgenlicht. Streiten war das Erste, was wir am neuen Tag taten, die letzte Handlung vor dem Einschlafen. Grundloses Aufeinandereinhacken. Und ich hatte angefangen. Die Entschuldigung lag mir auf der Zunge. Aber mein Kopf tat so weh.

»Ich hab Kopfschmerzen«, sagte ich und sank zurück ins Bett. Der Tonfall stimmte. Aber die Worte waren die falschen. ›Es tut mir leid‹, hatte ich eigentlich sagen wollen.

»Ich weiß.«

Wir lagen schweigend nebeneinander, während es im Zimmer heller wurde. Ich machte im Kopf mehrere Anläufe, mich zu entschuldigen, aber immer, wenn ich die erlösenden Worte endlich aussprechen wollte, war etwas im Weg, ich wartete zu lang und sagte schließlich nichts. Ich war kurz davor »I Wanna Riot« zu singen, aber auch das ließ ich bleiben. Und je länger wir schwiegen, desto schwerer wurde es, auch nur einen Ton rauszubringen. Irgendwann begann Richard gleichmäßig und tief zu atmen. Jetzt oder nie.

»Richard?«

»Hm?«

»Ich wollte nur sagen, dass es mir …«

Das Handy begann neben meinem Kopf zu vibrieren und in einer Lautstärke zu klingeln, die mich erst einmal in eine Schockstarre verfallen ließ, bevor ich panisch den Annahmeknopf drückte. Richard drehte sich neben mir mit einem mürrischen Stöhnen zur Seite.

»Ja?«, flüsterte ich ins Telefon. Obwohl Flüstern natürlich überflüssig war, alle Anwesenden waren schließlich wach.

»Daphne?« Hannes’ Stimme am anderen Ende der Leitung klang weinerlich. »Entschuldige, dass ich jetzt noch anrufe. Oder schon. Noch oder schon. Also, jedenfalls ist jetzt keine gute Zeit, das weiß ich auch.«

»Ist was passiert?«

»Ja.« Im Hintergrund hörte ich das lallende Gegröle von Betrunkenen. Dasselbe Gegröle drang von der Straße herauf in unser Schlafzimmer. »Ich steh vor deinem Haus.«

»Das ist mir auch gerade aufgefallen.«

»Ich weiß nicht, wo ich hinsoll. Kann ich bei euch auf dem Sofa schlafen?«

Ich dachte an den Tapeziertisch und die eingetrockneten Kleisterpinsel und -eimer im Wohnzimmer. Aber das würde einen Mann in Not nicht stören. Ich fragte Richard, ob es okay wäre, wenn Hannes bei uns übernachtete. Die Antwort, ein verschlafenes »Hm«, hätte alles heißen können, aber ich interpretierte es als »Ja«.

»Klar. Komm hoch.« Ich stieg aus dem Bett, und mir wurde kurz schwarz vor Augen. »Warte, ich mach dir auf, dann musst du nicht klingeln.« Das hätte meinem Kopf den Rest gegeben.

Die Vögel zwitscherten im Hinterhof vor dem Küchenfenster, der Wasserkocher brodelte und schaltete sich mit einem Klicken von selbst ab. Ich machte Tee für Hannes und mich. Er hätte lieber Kaffee gehabt, aber ich besaß keine Kaffeemaschine, und Richard hatte zwar versprochen, eine von diesen kleinen Espressokannen mitzubringen, war aber, wie es mit so vielen anderen Dingen (den Staubsaugerbeuteln, der Lampe im Flur …) der Fall war, noch nicht dazu gekommen. Ich stellte meinem Überraschungsgast einen dampfenden Becher vor die Nase, und er begann freudlos, den Teebeutel ein- und auszutunken.

»Danke.«

»Bitte.« Ich setzte mich auf die Küchenbank beim Fenster und zog meine Füße unter den Po. Obwohl Sommer war, fror ich ein wenig. Typisch Altbau, da war es meistens fußkalt. Sagte meine Mutter: fußkalt. Wer dachte sich nur solche Wörter aus?

Hannes schniefte und wischte sich über die Nase.

»Also: Was ist los?« Es war ja nicht so, als wäre Hannes obdachlos. Er hatte eine Wohnung, in der er mit seiner Freundin Lucy lebte, die auch meine Freundin war, seit wir Kolleginnen bei Markwardt & Söhne, der dümmsten Werbeagentur der Welt, gewesen waren. Manchmal war sie mit ihrer Naivität, ihrer Anhänglichkeit und ihrer überbordenden Begeisterung für alles Niedliche und Rosafarbene schwer zu ertragen. In der letzten Zeit hatte ich mich prophylaktisch von ihr ferngehalten, weil ein weiterer dieser Prinzessin-Lillifee-Filme in den Kinos angelaufen war und sie mich damals überredet hatte, mit ihr (und der fünfjährigen Tochter einer Bekannten) den ersten Teil anzusehen. Es waren die schlimmsten anderthalb Stunden gewesen, die ich je in einem Kinosaal zugebracht hatte. Ich fühlte mich, als würden kleine pinkfarbene Glitzertierchen mein Gehirn auffressen. Unser Alibikind war übrigens derselben Meinung. Lucy aber war hingerissen. So war sie eben.

Und das Wunderbare war: Hannes liebte sie trotzdem. Vielleicht konnte er sie und ihren Spleen von uns allen einfach am besten verstehen. Schließlich war er ja derjenige mit dieser Ork-Sammlung, für die er des Öfteren schon belächelt worden war. Hannes und Lucy waren vereint in Liebe und Seltsamkeit, zwei ganz spezielle Menschen – der lange Dünne und die kleine Dicke –, wie füreinander gemacht.

»Lucy hat mich rausgeschmissen.«

Oder auch nicht.

»Oh!« Ich saß da mit offenem Mund, zu viele Fragen in meinem müden Kopf, um auch nur ein Wort herauszubringen. Hätte Hannes nicht einfach seinen Schlüssel verlieren können? »Oh«, wiederholte ich.

»Ja«, sagte er.

Und das war alles, was er sagte. Die Details musste ich dann wohl durch kluges Nachfragen herausfinden. Ich seufzte und dachte, wie viel leichter und befriedigender es wäre, eine Frau zu sein, wenn man im Kommunikationssektor wenigstens ab und zu mal etwas Unterstützung von männlicher Seite bekommen könnte. »Okay, sie hat dich rausgeschmissen. Dann ist sie sauer auf dich, weil du irgendetwas Schlimmes gemacht hast?«

»Sonst würde ich ja wohl kaum seit Stunden durch St. Pauli laufen und nicht wissen, wo ich schlafen soll«, antwortete er schroff, merkte, dass ich das nicht verdient hatte, und rieb sich die müden Augen. »Es tut mir echt leid, dich so zu überfallen. Aber ich konnte sonst nirgendwohin.«

Ich legte meine Hand in einer, wie ich fand, beruhigenden Geste auf seine. »Das ist total in Ordnung. Dafür sind Freunde ja da.«

Er nickte müde. »Weißt du, was mich an dieser Sache fast am allermeisten nervt?«

»Dass du deine Orks zurücklassen musstest?«

Hannes redete einfach weiter, als hätte er meinen schlechten Witz nicht gehört. »Wenn sie irgendeinen Scheiß gebaut hätte und wir uns ihretwegen getrennt hätten, hätte trotzdem ich gehen müssen.« Er schüttelte ernüchtert den Kopf. »Es ist nie die Frau, die nachts über den Kiez irrt und nicht weiß, wohin.« Ich schob die Unterlippe vor und kommentierte das nicht weiter. »Dabei geht es mir doch auch total beschissen. Ist ja nicht so, als hätte ich gerade die Zeit meines Lebens.«

»Klar.« Ich wagte einen erneuten Versuch, der Sache auf den Grund zu gehen. »Aber was genau ist denn passiert?«

Hannes zog den Teebeutel aus der Tasse, hielt Ausschau nach einem Ort, an den er ihn tun konnte, fand nichts in der Nähe und ließ ihn frustriert wieder in die Tasse plumpsen. Dann vergrub er seinen Kopf in den Händen. »Ich hab es nicht mehr ausgehalten.«

»Was hast du nicht mehr ausgehalten?«

»Sie!« Er sah mich so aufgebracht an, dass ich unwillkürlich ein bisschen vor ihm zurückwich. Zu meiner Erleichterung entspannte sich sein Gesicht aber einen Moment später und zeigte wieder denselben jammervollen Ausdruck, mit dem es schon ausgestattet gewesen war, als Hannes durch meine Wohnungstür gekommen war. Die pure Tristesse.

Ich ließ ein paar Sekunden vergehen, um sicher zu sein, dass sich Hannes’ Gemütslage stabilisiert hatte. »Hä?«

Er seufzte. »Versteh mich nicht falsch: Ich liebe sie. Sehr. Wirklich.« Er sah aus, als würde er gleich weinen. »Aber es gibt ein paar Dinge in unserer Beziehung, die mich wahnsinnig machen. Ständig will sie wissen, was ich mache, wo ich bin und mit wem. Sie nennt mich Bärchen. Vor Zeugen!« Das stimmte, aber daran hatten wir uns inzwischen eigentlich alle gewöhnt. Ich lachte nur noch ungefähr jedes dritte Mal, wenn ich es hörte. »In der Wohnung gibt es keine Wand mehr, an der nicht ihre Malen-nach-Zahlen-Bilder hängen«, fuhr Hannes fort, nur um gleich wieder eine dramatische Pause einzulegen, die die Schwere des nächsten Vergehens unterstreichen sollte. »Sie kommt ins Badezimmer, wenn ich auf dem Klo sitze!«

»Okay, ich kann mir vorstellen, dass …«

»Und ständig, mehrmals täglich, redet sie vom Heiraten. Vom Heiraten und Kinderkriegen. Und je länger das so geht, desto dringender will ich weg. Ich kann das nicht … für den Rest meines Lebens. Sie ist wunderbar, sie ist süß und gut und treu. Aber sie ist schlimmer als meine Mutter!« Er schüttelte den Kopf, als wollte er den Wahnsinn loswerden. »Der einzige Unterschied zwischen Lucy und meiner Mutter ist, dass meine Mutter mich nicht heiraten will.«

Ich sah ihn irritiert an. Er hob abwehrend die Hände. »Nein, also, nicht, dass ich mir wünschen würde, dass meine Mutter mich heiraten will, ich meine, das wäre überaus seltsam. Und falsch. Und … Ach, du weißt doch, was ich meine …«

»Ich denke schon«, sagte ich. Aber bis jetzt hatte Hannes keinen Grund genannt, weshalb Lucy ihn verlassen haben könnte. Eher hatte ich den Eindruck, dass Hannes ernsthaft mit dem Gedanken gespielt hatte, die Beziehung zu beenden, doch sie war ihm zuvorgekommen. Warum? Ich nahm einen Schluck Tee. »Vielleicht renkt sich ja alles wieder ein? Morgen sieht die Welt sicher ganz anders aus.« Jetzt klang ich wie meine eigene Mutter. Wir Frauen wurden alle irgendwann Mütter. Selbst wenn wir keine Kinder bekamen. »Du kannst ja noch einmal mit ihr reden. Ich bin mir sicher, sie will sich von dir eigentlich genauso wenig trennen wie du dich von ihr.«

Hannes schüttelte langsam den Kopf. »Sie will nicht mit mir reden.«

Ich lachte. »Quatsch. Lucy will immer reden.«

»Nein. Nicht mehr. Nicht mit mir. Es gibt da noch was anderes.« Jetzt endlich nahm Hannes den Teebeutel und trug ihn zum Mülleimer. Wahrscheinlich weil er das, was er zu sagen hatte, sowieso lieber mit dem Rücken zu mir sagte. »Ich hab ihr gesagt, dass ich das nicht mehr mitmache, diese Zwangsjackennummer, wenn unsere Beziehung ansonsten gar keine ist. Wir haben ja nicht einmal Sex. Als ich das gesagt habe, ist sie wütend geworden. Ich glaube, sie war noch nie so wütend …«

Ich winkte beschwichtigend ab. »Das war bestimmt nur eine Überreaktion. Niemand hört gern von seinem Partner, dass man zu selten …«

»Nicht selten, Daphne. Nie.« Hannes drehte sich zu mir um und sah mich ernst an. »Lucy und ich haben noch nie miteinander geschlafen. Ich warte jetzt fast schon drei Jahre. Das macht man aus Liebe, oder? Aber irgendwann … Du musst das verstehen … Ich hab genug. Sie will, dass wir erst heiraten. Ich kann sie doch nicht deswegen heiraten! Ich will gar nicht heiraten. Und sie sagt, ich meine es nicht ernst mit ihr. Dass ich sie die ganze Zeit nur belogen habe. Und dass ich nicht wiederkommen soll. Nach all der Zeit, die ich immer für sie da war – kannst du dir das vorstellen? Wie sich das anfühlt? Wie es mir damit geht?« Hannes setzte sich wieder an den Tisch und vergrub seinen Kopf in seinen Händen. »Wie kann sie so etwas sagen? Ich liebe sie doch.«

»Tja.« Ich schluckte und wusste nicht, was ich sagen sollte, probierte es aber trotzdem. »Das ist ja …« Ein dicker Hund? Ein starkes Stück? Unfassbare Enthüllungen. Um sechs Uhr früh.

Wahrscheinlich war es keine gute Idee, nach vierundzwanzig Stunden ohne Schlaf und mit Restalkohol im Blut auf eine Leiter zu steigen und die Küche zu streichen, aber nachdem ich Hannes mit Schlafsack und Kissen bestückt und ins Wohnzimmer verfrachtet hatte, war an Schlaf nicht mehr zu denken gewesen. War es für mich ohnehin nie, wenn die Sonne schon schien und die Vöglein sangen, und jetzt war ich außerdem auch noch aufgewühlt von dem, was Hannes mir erzählt hatte. Also beschloss ich, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und mich sowohl auf bewährte Art und Weise ein bisschen abzureagieren als auch ganz nebenbei die Renovierungsmaßnahmen in der Wohnung voranzutreiben. Für die große Wand in der Küche hatte ich die graue Farbe, die ich auch schon auf meinem Hochzeitskleid zur Schau getragen hatte, besorgt. Ich wollte damit eine quadratische Fläche malen, die die Längsseite des Esstischs umrahmen sollte, und als Richard um halb zwölf in die Küche kam, hatte ich den Bereich bereits unter Vermeidung jeglicher rechter Winkel abgeklebt und vorgestrichen. Wie gesagt: So etwas tat man besser nicht in meinem Zustand.

Er blieb im Türrahmen stehen und kratzte sich am Kopf. »Hast du gar nicht geschlafen?«

»Ich konnte nicht.«

»Ist Hannes da?«

»Im Wohnzimmer.« Ich kletterte von der Leiter und betrachtete die Wand mit ein bisschen Abstand. »Irgendwie schief.«

»Ich kann das später ausbessern.« Richard schlurfte zum Kühlschrank, nahm den Orangensaft heraus und trank direkt aus der Flasche.

Ich hätte es gut gefunden, wenn er ein Glas genommen hätte, aber ich hatte keine Lust auf Diskussionen. Alles, was ich wollte, war Harmonie. Harmonie und eine Schmerztablette. Ich stellte mich neben ihn und wartete, bis er seinen Arm um meine Taille legte, wie er das immer machte. Andocken. Dann lehnte ich meinen Kopf an seine Schulter. »Es tut mir leid, dass ich heute Morgen so blöd war. Ich weiß auch nicht, was los ist. Irgendwie …« Irgendwie konnte ich dieses »Irgendwie« auch nicht näher erklären. Denn eigentlich war alles gut. Ich hatte einen guten Job, tolle Freunde und mit dem besten aller Männer, die mir in den letzten Jahren unter die Augen gekommen waren, eine Beziehung, die das Potenzial hatte, etwas Großes zu werden, zu sein und zu bleiben – wenn wir hier und dort ein bisschen daran arbeiteten. Wenn Richard ab und zu auch mal vor zehn Uhr abends nach Hause kam. Und damit anfing, Gläser zu benutzen. Wenn er mir endlich wieder zuhörte, wenn ich mit ihm sprach und sich so wichtige Dinge merkte, wie dass wir am Sonntag bei meiner Mutter zum Essen eingeladen waren. Und dann auch mitkam. Und ich nicht allein gehen musste, weil er verpflichtet war, mit irgendwelchen Möchtegern-Rockstars Bier zu trinken. Wenn sein »tut mir leid« in diesen Fällen etwas ehrlicher und etwas weniger erleichtert klang. Wenn endlich diese verdammte Tapete an der Wohnzimmerwand klebte und diese Lampe im Flur hing, damit ich nachts auf dem Weg zum Klo nicht ständig Gefahr lief, mir beim Fallen über die Farbeimer das Genick zu brechen. Wenn er endlich zwei Wochen seiner Zeit dafür opferte, in denen wir nebeneinander an irgendeinem Strand dieser Welt in der Sonne herumlagen … Ich hätte die Reihe endlos fortführen können. Womit klar war: Hier ging es um unerfüllte Wünsche. Meine Wünsche. Die gute Nachricht war: Wurden diese Wünsche irgendwann endlich erfüllt, konnte ich einen Haken dahinter machen, und alles war gut. Die schlechte: Ich fühlte mich ein bisschen wie das Kind auf dem Spielplatz, das immer Bestimmer sein will und heulend zu Mutti rennt, wenn es seinen Willen nicht bekommt. Das Problem: Niemand mag dieses Kind, nicht einmal Mutti.

Mein Freund stellte die Flasche auf dem Kühlschrank ab und strich mir über den Kopf. »Es ist gut, dass du nächste Woche in den Urlaub fährst.«

»Weil du dann deine Ruhe vor mir hast?«

»Nein. Weil ich glaube, dass du ein bisschen Entspannung bitter nötig hast.« Ein liebevoller Blick und ein Kuss auf die Stirn. »Schade, dass ich nicht freinehmen kann, sonst würde ich mitkommen.«

»Ja, schade«, sagte ich so neutral wie möglich, um zu vermeiden, dass es wegen dieses explosiven Themas wieder zu einem Streit kam, »aber so ist es jetzt nun einmal.«

»Ich kann ja in der Zeit die Wohnung weiter renovieren«, bot Richard an.

»Ha!«

»Du glaubst mir nicht?« Er verschränkte in gespielter Empörung die Arme vor der Brust. »Meine Liebe: ein Mann, ein Wort. Das ist der Ehrenkodex, nach dem ich lebe.«

»Soso.« Ich klappte die Leiter zusammen und legte den Deckel auf den Farbeimer. »Tja, also wenn das so ist, dann lasse ich mich überraschen. Und falls du Hilfe brauchst, frag Hannes. Der schuldet uns was.«

»Weil?«

»Weil ich ihm erlaubt habe, bis auf Weiteres bei uns zu wohnen. Lucy hat ihn rausgeworfen, und jetzt hat er kein Zuhause mehr.«

»Sie hat ihn rausgeworfen?« Richard sah ehrlich betroffen aus. »Armer Kerl. Das ist der Haken am Zusammenziehen. Definitiv.«

»Na wunderbar.« Das war genau das, was ich nicht hören wollte.

»Daphne. Der einzige Haken. Abgesehen davon hat das alles hier nur Vorteile. Zum Beispiel könntest du dich jetzt hinlegen und ein bisschen schlafen. Und später weck ich dich mit einem köstlichen Abendessen. Wir haben …« Er öffnete die Kühlschranktür noch einmal und schloss sie wieder mit einem schiefen Grinsen. »… nichts im Haus.«

»Du wolltest einkaufen.«

»Ich hol uns was vom Chinesen.«

»Nicht nötig.« Ich warf einen Blick auf die Uhr. »Ich bin eh mit Betty in der Kleinen Pause verabredet. Und vorher muss ich noch telefonieren. Und duschen.«

»Na gut.«

Ich nickte, wischte meine Hände an den Hosenbeinen ab und war schon halb aus der Küche raus.

»Daphne?«, rief Richard mir hinterher.

»Ja?« Ich blieb im Türrahmen stehen.

»Ich liebe dich.« Er zuckte mit der Schulter. »Nur so.«

Und das war schön, das konnte man nicht anders beschreiben. »Okay«, sagte ich und musste lächeln. »Ich dich auch.«

»Schätzelein, du siehst echt beschissen aus.«

»Danke. Und du bist fett.« Ich setzte mich Betty gegenüber an unseren Stammtisch in der Kleinen Pause.

Sie hatte Max’ Karre neben sich und einen Teller mit Currywurst und Pommes vor sich stehen. »Bin ich nicht.«

»Nein. Nicht immer.« Eigentlich nie. Betty war alles andere als fett, allerhöchstens nach eigener Aussage, wenn sie einen schlechten Tag hatte.

Im Fernseher in der Ecke lief die Live-Übertragung eines Bundesligaspiels. Der Laden war voll mit Fußballfans, und dass wir überhaupt einen Tisch für uns hatten, grenzte an ein Wunder. Aber Max hatte sich schon in der Vergangenheit als sehr hilfreich erwiesen, wenn es darum ging, nicht stehen oder lange warten zu müssen. Auf Kinder nahmen die meisten Menschen Rücksicht.

»Hast du schon bestellt?«

»Beim Reinkommen. Ich sterbe vor Hunger.« Ich seufzte und streckte mich einmal lang auf der klebrigen Tischplatte aus. »Und ich bin hundemüde.«

»Schlecht geschlafen?«

»Gar nicht geschlafen.« Erschöpft stützte ich meinen Kopf auf der Handfläche ab, anders ging es nicht. Betty sah mich fragend an und stopfte Max gleichzeitig ein Stück Wurst in den Mund. »Streit mit Richard. Um fünf Uhr …«, schob ich zur Erklärung hinterher.

»Wenn du jetzt gesagt hättest, dass du Gewissensbisse wegen der Tortenangelegenheit hast …« Ich stöhnte genervt auf und hob abwehrend die Hände. Bloß nicht wieder dieses Tortenthema. »Ja, was soll ich denn bitte dazu sagen?«, redete Betty weiter. »Alles Quatsch, mein Schatz. Das könnt ihr eigentlich gleich bleibenlassen, diese Streitereien. Ihr wohnt jetzt zusammen, dann heiratet ihr, dann kriegt ihr Kinder. Oder, nein, von mir aus auch ohne heiraten, ich bin da nicht so konservativ eingestellt, wie du weißt. Von mir aus könnt ihr auch gleich Kinder machen, das fänd ich eigentlich ganz gut. Jedenfalls, da es das ja jetzt nun mal ist, müsst ihr euch gar nicht streiten. Das ist die reine Zeitverschwendung.«

»Da es das jetzt nun mal ist?«

»Ja, das ist es jetzt nun mal. Ist doch so.«

»Klingt deprimierend.«

»Du liebst Richard, er liebt dich, ihr bleibt für immer zusammen, was ist denn bitte daran deprimierend?«

»Wir streiten uns ein bisschen zu oft für meinen Geschmack, und um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob ich Bock darauf hab, das ›für immer‹ mitzumachen …«

»Ihr seid jetzt eben seit zwei Jahren ein Paar, da gibt’s langsam Risse im Zuckerguss.«

»Betty, bitte, keine Tortenvergleiche.«

»’tschuldigung. Also, was ich sagen will ist: Das ist eben irgendwann nicht mehr so wie mit sechzehn. Verknallt sein und so, das ist baybeierleicht. Aber irgendwann geht es in Sachen Liebe eben ans Eingemachte. Und dann kommen so Fragen auf den Tisch wie ›Verbringen wir unser Leben miteinander bis wir in der Erde verrotten, oder was?‹ oder ›Kriegen wir jetzt Kinder oder gleich oder nie und wie viele überhaupt?‹. Mehr Druck, weniger Illusionen. Und Schwuppdiwupp ist der Glitzerlack ab. Dann läuft es auch mal scheiße, aber das ist eben Liebe für Erwachsene. Rohe Liebe, die harte Tour. Du kannst das nicht wissen, weil du ja immer nur an so Kurzgeschichten dran gewesen bist. Du warst ja immer nur verknallt, allerhöchstens. Und kaum gab es die ersten Kratzer auf der glänzenden Oberfläche, war es auch schon wieder vorbei. Aber lass dir das von jemandem sagen, der seit neun Jahren mit ein und demselben Mann …«

»Du und Mo habt auch immer nur Kurzgeschichten miteinander«, korrigierte ich sie. »Der einzige Unterschied zwischen dir und mir ist, dass du dich immer wieder von demselben Typen verarschen lässt.«

Betty lächelte nachsichtig. »Schlaf du dich erst mal ordentlich aus.«

Ein Tor fiel, und der Laden brach in ohrenbetäubendes Gejohle aus. Max machte mit und hielt sich gleichzeitig die Ohren zu. Seine Mutter tätschelte ihm stolz den Kopf. »Wenn der Winter kommt, kauf ich ihm seinen ersten Pauli-Schal.«

»Richtig so.«

»Einmal Currywurst, Pommes, Mayo!«, rief die Frau am Tresen, und ich kämpfte mich durch die Menschenmasse zu meiner Bestellung durch und dann mit dem vollen Teller und äußerster Vorsicht wieder an meinen Platz zurück.

»Ich hab vorhin mit Sky telefoniert. Er stellt den Bus am Freitagabend hier an der Ecke ab, bringt mir den Schlüssel, dann holen wir ihn Samstagvormittag, laden ein, und am Nachmittag heißt es dann: Bon voyage!«

Ich nickte und kaute und sagte mit vollem Mund: »Sehr gut.«

»Die Torte ist im Gefrierfach. In meinem. Und in Mos. Und in meinem Kühlschrank. Und in Mos Kühlschrank. Das Ding war riesig.«

»Ich weiß.«

»Dass das niemandem aufgefallen ist …«

»Betty, bitte, lass uns nicht mehr darüber reden, ich fühl mich eh schon mies genug.«

»Aber essen musst du sie. Oder wir verschenken sie unterwegs. Das fänd ich auch ganz gut. Der Kuchenexpress. Oder: das Tortentaxi. Falls wir einen Anhalter mitnehmen, oder so.«

Ich ließ von den widerspenstigen, harten Pommes ab, die sich nicht mit der Gabel aufpieksen lassen wollten, und sah Betty skeptisch an. »Anhalter?«

»Klaro.«

»Nee, Betty.«

»Wie, nee?«

»Ich möchte keine Anhalter mitnehmen. Die sind mir unheimlich.«

Betty drückte Max drei Pommes in die Hand und machte dann ein sehr, sehr ernstes Gesicht. »Schätzelein. Ich möchte dir eine Frage stellen: Wenn du mutterseelenallein an irgendeiner Raststätte in Belgien stehen würdest, wie würdest du dich dann fühlen, wenn ein großer, gemütlicher VW-Bus voll mit Torte vorbeikäme, in dem mehr als genug Platz für dich wäre, der dich aber nicht mitnimmt, weil die herzlose Beifahrerin sagt, du wärst unheimlich? Und dabei hast du selber Angst, weil du ja schließlich in Belgien bist …«

»Wahrscheinlich würde ich das ungerecht finden, ja, fies und gemein. Vielleicht hätte ich aber auch Verständnis für die vorsichtige, sehr vernünftige Beifahrerin und würde mich einfach über mich selber ärgern, weil ich mir kein Bahn- oder Flugticket gekauft habe.«

»Anhalter können sich keine Bahn- oder Flugtickets leisten. Das ist ja der Punkt.«

Ich seufzte genervt. »Wir können jedem Anhalter, den wir sehen, gern ein riesiges Stück Torte schenken, Betty. Aber wir nehmen niemanden mit. Das ist zu gefährlich. Außerdem haben wir ja überhaupt keinen Platz.«

Sie runzelte die Stirn. »Hä? Keinen Platz? Wir sind zwei Leute in einem VW-Bus …«

»Drei.«

»Nee. Zwei. Du. Und ich.«

»Und Lucy.«

Der Schiedsrichter hatte anscheinend eine falsche Entscheidung getroffen, denn die anwesenden Gäste stöhnten und fluchten durcheinander, einer schlug mit der Faust auf den Tisch. Betty dachte angestrengt nach. »Ich erinnere mich gar nicht daran, dass wir Lucy auch mitnehmen wollten …«

»Das ist neu. Veränderte Umstände. Ich weiß es selbst erst seit etwa einer Stunde.«

Es war nicht ganz klar, ob Bettys Nicken nun bedeutete, dass sie verstand oder dass sie einverstanden war. Vielleicht hatte sie auch bloß eine Verspannung im Nacken. »Welche veränderten Umstände sind das denn?«

»Das will dir Lucy vielleicht lieber selbst erklären.« Ich machte eine Kopfbewegung zum Fenster, an dem diese gerade vorbeiging, in einer pinkfarbenen Latzhose und weißen Turnschuhen. Ihr blonder Pferdeschwanz wippte fröhlich auf und ab, ein harter Kontrast zu ihrem traurigen Gesicht und den verheulten Augen. »Was auch immer du tust«, wies ich Betty an, »sag ihr nicht, dass sie beschissen aussieht.«

Sie hob abwehrend die Hände. »Aber so etwas würde ich doch niemals tun!«

Lucy erschien in der Eingangstür und schaute sich suchend um. Sie sah verloren aus, klein und in sich zusammen gesunken, die Arme vor dem Körper verschränkt wie ein Schutzschild. Als sich genau in diesem Moment eine Torchance bot und der Laden von Anfeuerungsrufen erfüllt wurde, zuckte sie zusammen wie ein scheues, dickliches Reh. Betty und ich riefen ihren Namen, sie entdeckte uns, und ein wenig Erleichterung machte sich auf ihrem vom Weinen angeschwollenen Gesicht breit.

»Es ist nur eine wilde Vermutung. Vollkommen aus der Luft gegriffen. Und bitte sag mir jetzt, dass ich falschliege …« Betty hatte sich verschwörerisch zu mir herübergebeugt und flüsterte mir ins Ohr: »Hat Hannes mit Lucy Schluss gemacht?«

Ich nickte und winkte weiter zu Lucy hinüber, die sich mühsam zu unserem Tisch durchkämpfte. »Fast richtig. Es ist andersrum. Lucy hat sich von Hannes getrennt.«

»Na.« Betty lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. »Das sind ja beste Voraussetzungen für einen fröhlichen Urlaub mit Freunden. Wird sicher ein Riesenspaß.«