7

Der Teil mit dem Seebarsch

BETTYS MIXTAPE

The Clash – Police & Thieves

Wenn man morgens als Allererstes Wellenrauschen wahrnimmt und den Geruch von Meer in der Nase hat, dann ist das Urlaub. Ich bemühte mich, dieses Gefühl so lange wie möglich festzuhalten, bevor ich schließlich bereit war, den Tag mit allen Sinnen zu begrüßen und die Augen aufzumachen. Was ich sah, erschütterte mein Traumbild etwas. Das Innere eines VW-Busses, hinter der Scheibe ein großer grauer Parkplatz, und als irgendwo in der näheren Umgebung ein Motor angelassen wurde, war die Brandung kaum noch zu hören. Also beschloss ich, noch ein fünfminütiges Nickerchen einzulegen, in dessen Anschluss ich neu und besser in den Tag starten würde.

Ich drehte mich auf die andere Seite, um meinen Plan sofort in die Tat umzusetzen, und stellte irritiert fest, dass ich allein war. Keine Betty in Sicht. Ein Blick auf den Boden hinter den Vordersitzen legte nahe, dass sie mich allein im Bus zurückgelassen hatte – ihre Turnschuhe waren weg. Ich setzte mich auf der Matratze auf und machte »Ts!«. Die erste gemeinsame Nacht unserer Reise, und sie verließ mich einfach so im Morgengrauen, während ich noch schlief – ohne ein Wort des Abschieds, ohne auch nur einen Zettel auf dem Kopfkissen zu hinterlassen. Ungefähr so musste sich der Morgen nach einem fiesen One-Night-Stand anfühlen.

Das Display meines Handys verriet mir, dass es Viertel nach neun war und niemand angerufen hatte. Draußen kreischte eine Möwe. Ich entschied mich, auf das Nickerchen zu verzichten und den dritten Reisetag ganz offiziell zu beginnen. Mit einem Frühstück. Das war immer ein guter erster Programmpunkt, ob man sich nun im Urlaub oder im schnöden Alltag befand. Nachdem ich meine Schuhe und einen Pulli angezogen hatte, holte ich ein großes Stück Torte aus dem Kühler, schnappte mir die klebrige Ausgabe von »Die Kunst des Liebens« und öffnete die Bustür in Erwartung einer wärmenden Umarmung der Morgensonne. Stattdessen schlug mir derselbe starke, kalte Wind entgegen, der schon am Vorabend vor dem Bus herumgelungert hatte. Reflexartig schlug ich die Tür wieder zu, suchte nach meiner Jacke, setzte mir Bettys Grenzkontrollmütze auf und wickelte mir, nachdem ich kurz überlegt hatte, eine unserer Wolldecken um den Bauch. Dann griff ich wieder nach Torte und Buch und startete einen neuen Versuch. Tür auf – Wind, Frösteln. Da machte man sich auf den Weg in den Süden, und wo landete man? An der Nordsee. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Ich überquerte den Parkplatz und setzte mich auf die Stufen, die zum Strand hinunterführten. Die dichte graue Wolkendecke jagte in rasender Geschwindigkeit über den Himmel, Möwen segelten im Wind, und ich wickelte die Decke enger um mich und versuchte, nicht so sehr zu zittern, während ich mir mit kalten Fingern kleine Stückchen Torte in den Mund schob. Weit und breit war niemand zu sehen.

Nachdem ich mein zuckerhaltiges Frühstück eingenommen hatte, begann ich, in dem klebrigen Buch zu blättern, dessen Zustand dadurch nicht verbessert wurde, dass sich an meinen Fingern noch Reste von Marzipan befanden.

Ich vertiefte mich in den Inhalt und hatte wenige Minuten später gelernt, dass das Lieben eine Kunst war (meine Überraschung darüber hielt sich dank des Titels in Grenzen) und nicht etwa einem glücklichen Umstand zu verdanken war. Das zu lesen deprimierte mich, denn wenn mich ein Gedanke in all den Jahren liebesbedingter Fehlschläge immer wieder getröstet und aufgerichtet hatte, dann der, dass ich eben einfach vom Pech verfolgt war, wenn es um Männer ging. Dass ich nichts dafür konnte. Und jetzt kam dieser Althippie daher, dieser – ich klappte das Buch zu und sah nach, mit wem ich es eigentlich zu tun hatte – Erich Fromm, zeigte mit dem Finger auf mich und behauptete, dass ich versagt hatte und niemand sonst. Dass all diese Katastrophen nur passiert waren, weil ich anscheinend keine Ahnung von der Kunst des Liebens hatte. Ich machte zum zweiten Mal an diesem Morgen »Ts!« und schüttelte den Kopf. Wenn Erich Fromm auch nur eines der vergangenen Jahre mit mir getauscht hätte, wäre ihm ziemlich schnell klar geworden, dass so etwas wie Pech in der Liebe doch existierte, egal wie viel Mühe man sich mit dieser Kunstsache gab.

»Viele Menschen meinen, zu lieben sei ganz einfach, schwierig dagegen sei es, den richtigen Partner zu finden, den man selbst lieben könne, und von dem man geliebt werde.«

»Ja, aber so ist es doch!«, rief ich frustriert.

»Wie ist was?«

Ich zuckte zusammen und sah erschrocken von dem Buch auf. Lucy stand vor mir auf dem Sand. Sie trug Karols Pulli über ihrem Sommerkleid und hatte die Arme gegen den Wind um ihren Körper geschlungen.

Ich hielt »Die Kunst des Liebens« in die Höhe. »Das hier ist der größte Quatsch, den ich jemals gelesen habe.«

»Ich hab die ›Twilight‹-Bücher dabei, falls du dir die leihen willst.« Sie nahm die drei Stufen zum Ende der niedrigen Treppe und setzte sich neben mich. »Die sind prima. Ich les die jetzt zum vierten Mal. Du musst dann natürlich warten, bis ich mit dem ersten durch bin. Die muss man schon in der richtigen Reihenfolge lesen, sonst bringt das nichts.«

»Danke.« Ich versuchte, einen Fussel vom Bucheinband zu wischen. Aber er blieb kleben, wo er war. »Mach dir keinen Stress. Ich glaub, ich geb dem hier noch eine Chance.«

»Okay.«

Wir schauten eine Weile den Wellen und den Möwen zu. Außerdem kreuzten zwei Spaziergänger in Windjacken unser Blickfeld. »Nordsee«, sagte ich.

»Hm?«

»Nichts.« Ich breitete die Wolldecke aus und legte mir die eine und Lucy die andere Hälfte über die nackten Beine. »Hast du gut geschlafen?«

Sie schaute verlegen auf ihre Füße. »Ich hab eigentlich gar nicht geschlafen.«

Dieser Satz aus Bettys Mund, und es wäre klar gewesen, was sie meinte. Wenn allerdings Lucy so etwas sagte … »Und was hast du stattdessen gemacht?«

»Ach, geredet. Nichts sonst. Nur unterhalten.«

Ich lächelte gequält. »Nicht geküsst?«, fragte ich und wollte die Antwort eigentlich nicht hören. Was, wenn sie »doch« sagte? Wie sollte ich das Hannes erklären? Oder es vor ihm geheim halten? Beides wäre gleich unmöglich.

Aber Lucys Gesicht hätte nicht schockierter aussehen können, wenn ich sie gefragt hätte, ob sie Lust hätte, nackt mit mir durch das historische Stadtzentrum von Boulogne-sur-Mer zu laufen. »Geküsst?«, fragte sie in dem angewiderten Tonfall einer Vierjährigen.

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich hatte den Eindruck, du magst ihn ganz gern.«

»Man muss ja nicht immer gleich küssen. Ich will gar nicht küssen. Niemanden.« Sie klang äußerst aufgebracht.

Ich hätte also besser einfach die Klappe gehalten. Oder das Thema gewechselt. Aber nein, natürlich tat ich das nicht. »Auch Hannes nicht?«, fragte ich sie vorsichtig. Und das kam gar nicht gut an.

»Hannes ist ein Vollidiot.« Lucy spuckte die Worte förmlich in den Sand vor ihren Füßen, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte erzürnt aufs Meer hinaus. »Du weißt ja nicht, was er gemacht hat! Weißt du, was er gemacht hat? Das ist so schlimm, das kann ich dir gar nicht erzählen. Das ist so schlimm, dass ich mich für ihn schäme. Und für mich selbst auch.«

Das war nun also der Punkt, an dem ich mich entscheiden musste. Traute ich mich, Lucy zu erzählen, was ich wusste, und ging das Risiko ein, dass sie vor Scham und Wut auf der Stelle explodierte (oder zumindest erbost davonstapfte und wir den Nachmittag damit verbringen durften, sie zu suchen)? Oder ließ ich den Moment verstreichen und eierte den ganzen Urlaub lang um das Thema herum? Ich entschied, dass letzteres Verhalten unehrlich und feige und in einer echten Freundschaft nicht akzeptabel wäre, holte noch einmal Luft, sammelte Mut und sagte: »Ich weiß, was er gemacht hat, Lucy.«

Sie fuhr herum. »Woher?!«

»Er hat es mir erzählt. Als du ihn rausgeworfen hast und er nicht wusste, wo er schlafen sollte, ist er zu uns gekommen, und wir haben uns unterhalten. Ich habe ihn quasi gezwungen, mir …«

»So ein Mistkerl!« Sie sprang von der Treppe auf. Die Decke fiel in den Sand. Lucy zitterte. Vor Wut oder vor Kälte, beides war möglich, aber Ihr Gesicht lief rot an, was meistens ein Indiz für Ersteres war.

Ich versuchte, sie zu beruhigen. »Ich versteh ja, dass du sauer bist. Aber Hannes geht es doch auch schlecht. Und er musste mit jemandem reden. Lucy, es tut ihm wirklich leid. Ich bin mir sicher, wenn du mit ihm sprechen würdest und ihm noch eine Chance geben könntest, dann …«

»Auf wessen Seite bist du eigentlich?«, kreischte sie. Der Wind wehte ihre Haare wirr durcheinander. Tränen schossen ihr in die Augen.

An dieser Stelle erhob ich mich ebenfalls von meinem Platz. Ich ließ mich ohnehin nicht gern anschreien. Aber wenn es unbedingt sein musste, dann wenigstens auf Augenhöhe. »Ich bin auf keiner Seite, Lucy. Ich find’s bloß total schade, dass es so gekommen ist. Ihr passt doch eigentlich so gut zusammen …, und ich bin mir sicher, dass ihr das wieder hinbekommt. Ganz bestimmt.« Ich wollte sie umarmen, aber sie wich mir aus und machte ein paar Schritte rückwärts auf den Strand. Dort zog sie die Nase hoch und warf mir einen hasserfüllten Blick zu, bevor sie mir den Rücken zuwandte und davonstapfte, wie ich es vorausgesagt hatte.

»Lucy!«, rief ich ihr nach. »Bleib hier! Bitte!«

Aber sie drehte sich nicht einmal um, wie nicht anders zu erwarten. Sie hatte diese Art an sich, von Prinzessin auf Drama-Queen in fünf Sekunden. Maximal.

Ich seufzte und ließ die Schultern sinken, während ich ihr nachsah. Damit war dann also klar, wie wir unseren Nachmittag verbringen würden.

»Schon wach, Schätzelein?«

Ich drehte mich um und sah Betty in Jogginghose auf mich zukommen. »Ja, allerdings«, rief ich ihr zu. »Und vielen Dank, dass du mir Bescheid gesagt hast, als du abgehauen bist.« Ich stemmte meine Hände in die Hüften und bemühte mich um einen deutlich sarkastischen Tonfall, damit nicht alle Spuren davon vom Parkplatzwind verweht wurden.

»Ich wollte dich nicht aufwecken. Ist doch Urlaub.« Sie stellte sich neben mich und ließ ihren Blick über den Strand schweifen. »Ist das Lucy?«

»Jep.«

»Wohin geht sie denn?«

»Keine Ahnung. Sie ist sauer.«

Betty zuckte mit den Schultern. »Na ja, Urlaub eben, nech? Jeder so, wie er will.« Sie zog ein Päckchen Tabak aus der Plastiktüte, die raschelnd an ihrem Handgelenk baumelte, und fing an, eine Zigarette zu drehen.

»Warst du einkaufen?«

Sie nickte. »Unten am Hafen ist ein Markt.«

»Wir haben doch noch genug zu essen. Torte. Wurstwaren …«

»Aber das hier haben wir nicht, Schätzelein.« Sie hielt mir die geöffnete Tüte unter die Nase.

Ich sah nichts, außer Weißbrot und einem großen Papierpäckchen. »Was ist das?«

»Fangfrischer Fisch. Eben noch da«, sie zeigte mit der freien Hand aufs Meer, »und später schon hier!« Ihr Zeigefinger piekte mir in den Bauch.

Ich sah sie zweifelnd an. »Fisch?«

»Was denn sonst? Du warst doch diejenige, die gestern den ganzen Abend herumgemault hat, dass sie etwas Landestypisches essen will. Also dachte ich mir, ich mach dir eine Freude und brat uns einen schönen Seebarsch. Fischbrunch.«

Es gab keinen Grund, überrascht zu sein. Betty machte eben immer Nägel mit Köpfen. »Du willst jetzt im Bus einen Seebarsch braten?«

»Nicht im Bus, Schätzelein. Ich bau uns eine Grillstelle. Ganz landestypisch. Ist ja schließlich Urlaub, nech?«

Der Zusammenhang war etwas übers Knie gebrochen, aber von mir aus …

Während ich am Strand nach Lucy Ausschau hielt, baute Betty im Windschatten des VW-Busses aus Steinen eine Feuerstelle, füllte sie mit Kohle, die wir in Deutschland im Supermarkt gekauft hatten, und machte ein Feuer. Es war bemerkenswert. Ich wusste nicht einmal, wie man einen handelsüblichen Gartengrill bediente, dabei machte doch laut dem »Dschungelbuch« genau das uns Menschen aus: Wir wussten, wie man ein kontrolliertes Feuer entfachte. Aber vielleicht war ich einfach mehr der technische Typ, der das Rad erfand oder so was.

Lucy blieb fürs Erste verschwunden, aber noch machte ich mir keine Sorgen um sie. Es war Mittagszeit in Boulogne-sur-Mer, was sollte da schon passieren? Jeder hatte das Recht, sich zurückzuziehen und mit sich selbst und seinen Gedanken allein zu sein, auch Lucy. Irgendwann würde sie zurückkommen.

Als Betty den Fisch im Grillgitter platziert und über das Feuer gelegt hatte, tauchten die beiden Polen auf. Sie trugen ihre schweren Rucksäcke mit Zelt und Schlafsack auf dem Rücken. Jeder von ihnen eine Cola-Flasche in der Hand kamen sie mit wehenden Haaren auf uns zugeschlurft, wie es Jungen in dem Alter eben taten.

»Oh, Feuer«, bemerkte Karol scharfsinnig. Viktor blieb schweigend, wie man das von ihm kannte, neben ihm stehen.

Betty richtete sich auf und schenkte den beiden ein Lächeln. »Fischbrunch. Habt ihr Hunger?«

Die Polen nickten.

»Und habt ihr zufällig Lucy gesehen?«, fragte ich in erster Linie Karol.

Er stellte seinen Rucksack ab und benutzte ihn als Sitzgelegenheit. »Kein Stück. Sie hat mein Pulli.«

»Stimmt.«

»Ich friere.«

»Dann setz dich ans Feuer.« Betty machte eine einladende Handbewegung, der die beiden wortlos folgten. Dann drehte sie das Grillgitter um, damit auch die andere Seite des Seebarschs angebraten werden konnte. Es roch köstlich. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Endlich einmal etwas anderes auf dem Teller als Torte.

»Arrêtez!«

Ich sah Karol, das Sprachgenie, fragend an, weil ich dachte, er wäre es gewesen, der plötzlich Französisch sprach. Aber er wirkte genauso verwirrt wie ich. Oder Betty, die sich suchend umschaute. Lediglich Viktor blieb unbeeindruckt wie immer.

»Immédiatement!«

Jemand hier sprach Französisch. Dieser Jemand kam vom Rand des Parkplatzes schnell und ohne Umwege auf uns zumarschiert, und als ich erkannte, um wen es sich handelte, rutschte mir das Herz ebenfalls sehr schnell und ohne Umwege in die Hose: ein Mann in Uniform. Ein französischer Polizist mit Schnauzbart. Aufrecht. Und ungehalten.

Ich öffnete den Mund, aber es kamen keine Worte. Drei Jahre Schulfranzösisch. Alles für die Katz. Komplett wertlos im Angesicht der französischen Staatsmacht. Das einzige Wort, das mir einfiel, war Baguette, und das war inzwischen eingedeutscht und galt nicht und würde uns außerdem nicht weiterhelfen, da war ich mir sicher.

»Il est interdit de faire du feu.« Der Polizist bedachte jeden Einzelnen von uns mit einem strengen Blick, bemerkte aber schnell, dass niemand so wirklich verstand, was er von uns wollte. Dumme Touristen. Auch das noch. Er machte eine ausdrückliche Handbewegung in die Richtung des halbgaren Seebarschs. »Éteindre-le! Maintenant!«

»Hat er was gegen den Fisch oder das Feuer?«, fragte Betty und kratzte sich bedächtig am Kopf.

»Im Zweifelsfall gegen beides.«

»Sag ihm, dass wir hier einen Fischbrunch veranstalten, das wird er verstehen. Franzosen sind doch so kulinarisch.«

»Nee, Betty, das lass ich lieber.«

»Warum? Weißt du nicht, was Fischbrunch auf Französisch heißt?«

Ich überlegte und antwortet gedehnt: »Doch.«

»Na, was denn?«

»Ähm …« Ich war mir nicht sicher. »Brunch de Poison?«

»Allemand?«, fragte der Polizist. Und das verstand ich. Mein passiver Wortschatz funktionierte also immerhin in Ansätzen. Ich nickte. »Si!«

»Das heißt ›oui‹«, verbesserte Karol mich.

Der Polizist zog einen Block und einen Stift aus seiner Hemdtasche. Dann zeigte er wieder auf die Feuerstelle und sagte: »Feu? Non!«, wedelte mit dem Zeigefinger und kritzelte etwas auf seinen Block. Er hielt seine Hände parallel mit den Handflächen nach unten und bewegte sie Richtung Boden. »Éteindre!«

Ich sah Betty an. »Ich glaube, er will, dass wir das Feuer löschen.«

»Schätzelein, das klingt einleuchtend.« Sie ließ den Polizisten keinen Moment aus den Augen. »Aber könnten wir uns nicht einfach dumm stellen, bis der Fisch durch ist? Das frage ich mich gerade.«

»Nein, Betty.« Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Ich gehe nicht für einen Seebarsch in den Knast.«

»Fürs Fischgrillen kommt doch keiner in den Knast.«

»Aber wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt.«

»Ich lösch Feuer.« Karol stand mit einem Seufzer von seinem Rucksacksitzsack auf und schraubte die Cola-Flasche auf. Er war gerade dabei, sie Richtung Feuer zu neigen, als Bettys Hand vorschoss und mit festem Griff den Flaschenhals festhielt. »Untersteh dich!«

Karols Gesicht war leer vor Unverständnis. »Untersteh?«

»Putain …«, murmelte der Polizist und brabbelte schnell irgendetwas in meinen Ohren vollkommen Sinnloses in sein Walkie-Talkie. Eine kratzige Stimme kam aus dem Gerät und brabbelte ebenso sinnloses Zeug zurück. Gleichzeitig riss der Mann in Uniform den obersten Zettel von seinem Block und hielt ihn mir hin. Ich nahm ihn, las und riss entsetzt die Augen auf.

»Achtzig Euro?!«

»Also, dafür will ich jetzt aber auch meinen Fisch essen«. Betty hielt noch immer das eine Ende der Cola-Flasche, Karol das andere.

Ich bedachte den Polizisten mit meinem hilflosesten Gesichtsausdruck. Offensichtlich war es kein Problem für ihn, meinem deutschen Charme zu widerstehen. Offensichtlich existierte für ihn so etwas wie deutscher Charme überhaupt nicht, denn seine Gesichtszüge blieben hart. »Äh … Monsieur?«, brachte ich über die Lippen.

Er presste seine aufeinander. »Sergent!«

»Pardon.«

Ein Moment der Stille. Bis auf das Brutzeln des Seebarsches und das Kreischen der Möwen. Ich suchte nach Worten. Ich fand keine.

»Schätzelein, sag jetzt nicht, das ist alles, was du kannst.«

»Du bist wirklich keine große Hilfe, Betty«, zischte ich und versuchte es mit einem möglichst niedlichen Lächeln erneut bei dem Franzosen. »Nous veut manger le poison. Le feu, c’est malade. Nous somme trés pardon.«

Der Polizist sah mich entgeistert an. Ich intensivierte mein Lächeln. Er sprach wieder in sein Walkie-Talkie.

»Betty, das bringt nichts.«

»Ich finde, das klang prima.«

Positive Bestärkung war an sich etwas Schönes, aber jetzt gerade half sie uns nicht weiter. So sanft und doch so hart wie möglich griff ich nach Bettys Arm und zog sie näher an mich heran. »Nein, das war nicht prima«, flüsterte ich. »Jetzt holt er seine Gendarmerie-Freunde, und wenn die hier sind, nehmen sie den Bus auseinander. Und wenn sie dann dein G-R-A-S finden, sind wir dran.«

»Gras?«, fragte Karol. »Was ist schlimm damit?«

»Ssshhh!«, fuhr ich ihn an.

Bettys Augen weiteten sich, als ihr die möglichen Konsequenzen der Fischbrunch-Affäre klar wurden. Sie bückte sich nach dem Grillgitter, hob es von der Feuerstelle, nahm Karol die Cola-Flasche aus der Hand und schüttete den Inhalt zischend über den glühenden Kohlen aus. »Der Fisch ist durch!«

»Ich will jetzt hier weg. Sofort!« Mit vor der Brust verschränkten Armen und gesenktem Blick kam Lucy aus dem Nichts auf den Bus zugestapft, rempelte unterwegs den französischen Polizisten an, riss die Schiebetür auf und ließ sich auf die Rückbank fallen. Als sich keiner von uns rührte, erhob sie sich schnaufend, streckte ihren Kopf aus der Tür und motzte: »Jetzt sofort!«

Der Polizist starrte sie mit offenem Mund an, fing sich aber schnell wieder und beschimpfte uns auf Französisch. Ich glaube nicht, dass er besonders nette Worte für uns fand. Er schien sich jedenfalls kein Stück zusammenzureißen, aber das musste er auch nicht. Er wusste schließlich, dass wir kein Wort verstanden.

»Ich will los!«, nörgelte Lucy.

Seufzend und in aller Seelenruhe griff Betty nach dem Besen, den Sky neben der Bustür deponiert hatte, damit man regelmäßig den Sand ausfegen konnte. »Hier. Halt mal«, sagte sie, reichte mir das Fischgitter und begann, die mit Cola getränkten Überreste unserer Feuerstelle zu entfernen. »Ordnung muss sein.«

Unter anderen Umständen vielleicht. In diesem Moment wollte ich einfach nur so schnell wie möglich verschwinden. Da war ich mit Lucy ganz auf einer Linie. Wenn auch aus anderen Gründen.

Der Polizist pöbelte noch immer.

Karol und Viktor stiegen schweigend in den Bus. Ich bemühte mich, einen guten letzten Eindruck zu hinterlassen und packte noch einmal mein plumpes, deutsches Lächeln aus. »Merci beaucoup«, sagte ich, und machte einen Knicks, und der Polizist antwortete »Partirez d’ici!« Dann sagte er noch »Salopes«, und ich dachte Salopp? Das Wort kenne ich, aber ich war mir ziemlich sicher, dass die Bedeutung im Französischen nicht dieselbe war wie im Deutschen.

Dann hätte, was er sagte, wirklich keinen Sinn gemacht.

Ich setzte mich, den dampfenden Seebarsch in seinem Grillgitter noch immer in der Hand, auf den Beifahrersitz, wartete, bis Betty endlich ihre Aufräumaktion beendet hatte, und schickte ein Dankgebet gen Himmel, als sich der Bus schließlich in Bewegung setzte, bevor der Rest der Gendarmerie von Boulogne-sur-Mer anrücken konnte. Betty hupte noch einmal, und der Polizist fluchte. Und ich fluchte auch, weil ich mich an dem heißen Gitter verbrannt hatte.

»Scheiße.«

»So was kommt von so was, Schätzelein.«

»Was kommt wovon?«

»Regeln, Gesetze, Staatsgewalt. Eins kannst du mir glauben: Ich habe alle Brandschutzmaßnahmen befolgt. Das dort eben war das sicherste Feuer, das in diesem Bolognese-Dorf je gebrannt hat. Aber interessiert das jemanden? Nein. Da kommt sofort der kleine Franzose im Anzug und später das Sondereinsatzkommando und warum? Wegen eines Fischs. Jetzt haben die einen riesigen Fleck auf dem Parkplatz, du hast dich verbrannt …«

»Und wir müssen achtzig Euro Strafe zahlen.«

»Außerdem wird der Seebarsch kalt.« Na ja, kalt … Ich sah zu, wie die Brandblase auf meinem Oberschenkel langsam größer wurde. »Und warum? Weil das in irgendeinem komplett lebensfremden Buch steht.«

»Du meinst das Gesetzbuch?«

Rechts von uns flogen Häuser vorbei, links lag groß und grau das Meer. Betty nahm rasant eine Kurve. Ich hatte Mühe, den Fisch so festzuhalten, dass er mir nicht auch noch das andere Bein ansengte. »Wenn es Max nicht gäbe, ich hätte es drauf ankommen lassen. Ich hätte genüsslich den Seebarsch gefuttert und auf die anderen Franzosen in ihren frisch gebügelten Uniformen gewartet. Und wenn sie dann gekommen wären …«

»Können wir vielleicht gleich mal anhalten und diesen Fisch essen?«, unterbrach ich sie. »Der wird langsam schwer.«

»Und er stinkt!«, rief Lucy von hinten.

»Lucinda, merk dir eins«, Betty drehte sich zu ihr um und ließ die Straße einfach mal außer Acht. Ich bekam Herzrasen. »Frischer Fisch stinkt nicht. Niemals. Und dieser Fisch ist so frisch, der hatte noch Seetang an der Flosse.«

»Herrlich, Betty, aber kannst du bitte auf die Straße gucken?«

»Klar kann ich das, Schätzelein.« Sie richtete ihren Blick wieder vorschriftsmäßig auf die Fahrbahn, nur um einen Moment später scharf rechts ranzufahren und den Motor auszustellen. »Wir sind da.«

Ich sah aus dem Beifahrerfenster auf ein Feld, auf der anderen Seite erblickte ich eine niedrige Mauer, den Strand, das Meer, sonst nichts. »Und wo genau sind wir?«

»Am perfekten Ort, um einen Seebarsch zu essen, was denkst du denn? Nah genug am Meer, weit genug weg von der Polizei.« Betty stieg auf ihrer Seite des Busses aus, ging an der Windschutzscheibe vorbei, öffnete meine Tür und nahm mir das Gitter ab. »Oha. Heiß.«

»Was du nicht sagst«, antwortete ich matt, wedelte meinem Bein etwas kühle Seeluft zu, krabbelte von meinem Sitz und wurde sofort von einer steifen Brise begrüßt. »Nordsee«, murmelte ich.

Auch die anderen drei Passagiere stiegen aus dem Bus, überquerten die Straße und ließen sich neben Betty auf der Strandmauer nieder. Es war ein schöner Anblick. Vier Reisende, alle Zeit der Welt, eine unendliche Aussicht. Und wie um diesen Moment perfekt zu machen, drängelten sich sogar ein paar Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke.

»Jetzt komm hierher und iss deinen Fisch, Daphne!«, riss mich Betty aus meinen Schwelgereien.

Wie vom Donner gerührt blieb ich mitten auf der Straße stehen. »Daphne?! Du nennst mich sonst nie Daphne.«

»Nur wenn es wichtig ist. Und das ist jetzt wichtig. Dieser Fisch ist für dich durch die Hölle gegangen, Schätzelein«, erklärte sie streng und brach das Weißbrot in der Mitte durch. »Also setz dich hin und iss ihn.«

Und ich setzte mich hin und aß, und was soll ich sagen? Der Seebarsch aus der Hölle schmeckte in der Tat himmlisch.