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Der Teil mit den alten Bekannten

DAPHNES MIXTAPE

Gene – Haunted By You

Das historische Zentrum von Lagos bestand aus niedlichen, dreistöckigen Häuschen mit pastellfarbenen Fassaden. Es gab Palmen, es gab Bars, Restaurants und Eiscafés, und es gab Geschäfte, die Flip-Flops, Schnorchel und Souvenirs verkauften. Wovon es aber am allermeisten zu geben schien, waren Touristen. Sie trugen Shorts, Tank-Tops, Sandalen und Baseballcaps. Das war ihre geschlechterübergreifende Uniform. Sie waren überall, auf jeder Bank, in jedem Laden, an jeder Ecke – wohin man sah. Als würden sie auf einer Farm irgendwo in der Gegend gezüchtet werden.

Lucy fühlte sich auf einen Schlag wie zu Hause. Auf ihrem runden Gesicht machte sich ein Lächeln breit, und sie setzte ihr eigenes rosafarbenes Baseballcap auf, als wollte sie sichergehen, dass die Herde sie auch erkannte.

»Ich weiß ja nicht, wie es euch geht«, sagte Betty, die schon mehrere argwöhnische Blicke geerntet hatte, als wären wir wieder in Remscheid, »aber ich brauche sofort so ein ›I heart Portugal‹-T-Shirt. Und eine passende Mütze. Beides. Dringend. Jetzt.«

Ana lachte. Sie ging neben Marco ein paar Schritte vor uns als Führerin durch die verwinkelten Gassen von Lagos, in denen wir sonst nie das kleine Hotel ihrer Großcousine Patricia gefunden hätten, in dem zufällig noch ein Zimmer frei gewesen war. »Aber nur eins. Leider alle anderen voll sonst – Saison«, hatte Ana mit ihrem typischen, bedauernden Gesicht erklärt.

»Macht nix«, verkündete Betty. »Ich bleib eh im Bus. Es gibt keinen schöneren Ort.«

Lucy sah das anders. Sie freute sich wie ein kleines Kind auf ein echtes Bett und eine echte Dusche und vier Wände und eine Tür. »Ich hoffe, es gibt auch einen Fernseher!«

»Aber du verstehst doch gar kein Portugiesisch«, gab ich zu bedenken.

Sie sah mich nur verständnislos an. »Häh? Ja und?«

Es war zwar noch Platz im Hotelbett, aber ich hatte mich trotzdem dagegen entschieden, zu Lucy zu ziehen. Und auch die Angebote von Marco und Ana, in seinem Camper oder auf der Gästecouch im Haus ihrer Eltern zu schlafen, hatte ich ausgeschlagen. Es waren definitiv verlockende Optionen, auf jeden Fall versprachen sie mehr Komfort als Skys gelber Schrott auf Rädern. Aber diesem Schrott jetzt den Rücken zu kehren, hätte das Ende von Bettys und meinem gemeinsamen Abenteuer bedeutet. Drei Wochen im Bus, zusammen. Das war schließlich der Plan gewesen. Und solange der Bus zwar nicht fuhr, aber bewohnbar war, wollte ich diesen Plan durchziehen, denn einen verfrühten Auszug aus Bequemlichkeit würde ich hinterher bestimmt bereuen. In einem normalen Zimmer konnte ich schließlich in allen anderen Nächten im Jahr schlafen.

Ein bisschen neidisch wurde ich allerdings schon, als wir in Patricias Hotel ankamen. Lucys kleines Reich für die kommenden Tage war zwar einfach eingerichtet, aber sauber und gemütlich, mit hellblauen Wänden, daran Blumenmotive, und an den Fenstern zarte Spitzenvorhänge. Durch das geöffnete Fenster drangen Lachen, Geschirrklappern und eine Unterhaltung auf Portugiesisch herein. Während wir anderen eine kleine Warteschlange vor dem Badezimmer bildeten, um nach und nach eine ausgiebige Dusche zu nehmen und uns den Reisedreck vom Körper zu waschen, packte Lucy ihren Koffer aus, summte zufrieden ein Lied und schaltete den Fernseher ein, der in einer Ecke des Zimmers stand. Je mehr Kanäle sie ausprobierte, desto mehr verfinsterte sich ihre Miene, während sie langsam verstand, worauf ich mit meinem Hinweis auf ihre mangelnden Portugiesisch-Kenntnisse hinausgewollt hatte. »Da versteh ich ja kein Wort«, sagte sie enttäuscht und schob die Unterlippe vor.

Marco lehnte lässig an der Wand neben dem Badezimmer. Gentleman, der er war, hatte er uns Damen beim Duschen natürlich den Vortritt gelassen. »Du hattest doch nicht etwa vor, hier zu sitzen und fernzusehen, wenn da draußen die Sonne und das Meer auf dich warten.«

Lucy drehte sich zu ihm um und zuckte mit den Schultern. »Ich hab seit Ewigkeiten nicht mehr ferngesehen. Mir fehlt das. So entspann ich eben einfach am besten.«

Im Hintergrund plätscherte portugiesischer Singsang aus den Lautsprechern des alten Fernsehers und gewann Anas Aufmerksamkeit. Sie reckte erst nur den Kopf, um zu sehen, was auf dem Bildschirm vor sich ging, doch es dauerte nicht lange, da hatte die Sendung sie so sehr in ihren Bann gezogen, dass sie sich neben Lucy auf das Bett setzte und konzentriert den Geschehnissen im Fernsehen folgte.

»Ana?!« Marco war sichtlich baff. Drinnen sitzen und fernsehen, wenn das Wetter gut war? Frevel! Wie schon am vorherigen Abend in Lissabon, als Lucy die verflohte Katze gestreichelt hatte, wirkte er wie ein gestresster Familienvater. Vielleicht war unsere Gesellschaft für ihn doch nicht so gut, wie er gedacht hatte.

»Então o que? Ich habe jeden Tag Sonne und Strand.« Ana sah ihn nicht einmal an, während sie mit ihm redete, um bloß nichts zu verpassen. Sanft legte sie Lucy eine Hand aufs Bein, neigte sich zu ihr hin und flüsterte schnell, als würde sie ihr ein Geheimnis anvertrauen: »Das is ›Remédio Santo‹, beste Telenovela, allerbeste. Ich gucke jeden Tag, wenn ich kann, seit Anfang an.« Ihre Augen klebten förmlich an dem winzigen Bildschirm.

Lucy nickte interessiert. »Und worum geht es?«

»Liebe … ähm … Verrat, Betrug … sabe?«

Lucy nickte wieder. Langsamer, als wollte sie ihr Gehirn nicht bei der Arbeit stören. »Ah … okay, verstehe. Ich weiß zwar nicht, was ›sabe ist‹, aber der Rest ist in Deutschland auch so.«

Betty kam aus dem Bad, bekleidet mit einem mintgrünen Frottéhandtuch mit Blumenmuster. »Was ist in Deutschland auch so?«

»Liebe, Verrat … das Übliche«, ich zuckte mit den Schultern. »Darf ich jetzt?«

Sie machte einen Schritt zur Seite und eine einladende Geste Richtung Badezimmertür »Hereinspaziert, Schätzelein. Aber du musst das hier nehmen, im Bad war nur eins.« Sie reichte mir ganz selbstverständlich das Handtuch. Lucy kreischte, Marco hielt sich brav die Hand vor die Augen, und ich seufzte genervt, weil das Handtuch klatschnass war und somit natürlich jegliche Trockenfunktion eingebüßt hatte. Ana bekam von all dem nichts mit. Im Fernsehen gab eine Frau einem Mann eine schallende Ohrfeige. »Bastardo!«

Ich war davon überzeugt, dass er es nicht anders verdient hatte.

Die weitere Abendplanung gestaltete sich etwas schwierig, weil die Bedürfnisse der Mitglieder unserer Reisegruppe sehr unterschiedlich waren. Marco und Betty zum Beispiel brauchten dringend ein bis zwei oder drei Gläschen Port, um sich von den Strapazen dieses aufregenden Tages zu erholen. Lucy und Ana hingegen hatten ihre Form der Entspannung bereits gefunden. Sie hieß »Remédio Santo«. Ich hatte weder Lust auf Fernsehen noch darauf, mich schon am Spätnachmittag in einer Bar zu betrinken – zumal mit Portwein. Also verabredeten wir eine Uhrzeit und einen Treffpunkt, an dem wir später alle wieder vereint sein würden, und trennten uns für die nächsten Stunden.

Ich spazierte ziellos durch die Straßen von Lagos, mit dem Vorsatz, unser Zuhause für die nächsten Tage besser kennenzulernen, und stellte fest, dass wir es mit dem Ort unserer Autopanne deutlich schlechter hätten treffen können – aber sicherlich auch besser. Das Zentrum von Lagos war hübsch, leider aber auch ein wenig überlaufen. Und wenn man die Altstadt verließ, um den Touristen aus dem Weg zu gehen, fand man sich zwar in einer ruhigeren, aber bei Weitem nicht so attraktiven Gegend wieder. Die Stadt war hier sehr viel weniger malerisch, und das Urlaubsfeeling nahm merklich ab.

Ich wusste nicht genau, ob es an den grauen Häusern oder der plötzlichen Einsamkeit lag, dass ich mich plötzlich unsagbar niedergeschlagen fühlte. Wobei Letzteres wohl eher nicht der Grund für meine Schwermut war, denn ich war froh, allein zu sein. So gern ich meine Reisebegleiter auch hatte, jetzt gerade kam mir die plötzliche Ruhe äußerst gelegen. Auch wenn ich traurig war, gerade deswegen: Es handelte sich dabei einfach um diese Art von Traurigkeit, die man lieber mit sich selbst ausmachte. Die Frage war: Woher kam sie?

Vielleicht lag es am Adrenalin in meinem Blut, das seit dem Motorschaden vor einigen Stunden in erhöhter Konzentration durch meinen Körper gerauscht war – und jetzt langsam wieder abnahm und mich nicht mehr von allem ablenkte, was mich bedrückte. Von Richard in erster Linie. Ana, das Hotel, die ganze Hektik des Nachmittags, nicht einmal als ich mit Sky telefoniert hatte, waren unsere Probleme mir in den Sinn gekommen. Aber jetzt, allein in einer der schmuckloseren Seitenstraßen von Lagos, konnte ich mich nicht mehr gegen die Gedanken wehren, die mit aller Macht zurück in mein Bewusstsein drängten. Ich erinnerte mich an die Schwere der Situation, weil ich plötzlich förmlich spüren konnte, wie sie an meinem Herzen zog. Immer nach unten. Ich ließ den Kopf hängen. Allein spazieren gehen. Was für eine Schnapsidee.

Ich hätte Richard anrufen können, um zu versuchen, diesen neuesten Streit aus der Welt zu schaffen, aber ich tat es nicht. Ich sagte mir, dass das sowieso zwecklos gewesen wäre, als würde man ein Pflaster über eine Wunde kleben, die eigentlich genäht werden musste. Außerdem ging es ja längst nicht mehr nur um diesen Streit oder den davor, oder einen der unzähligen anderen Kämpfe, die wir in den letzten Monaten ausgetragen hatten. Es ging um die grundsätzliche Frage, ob unsere Beziehung überhaupt noch eine Chance hatte, oder ob wir eigentlich schon viel zu lange versuchten, eine Vase zu kleben, die aber so viele Risse hatte, dass sie nie wieder schön werden konnte.

Ich kannte die Antwort nicht und stellte mir deswegen immer wieder dieselben Fragen: Was bedeutete es, dass ich nicht wusste, ob ich mit Richard zusammenbleiben wollte? Sollte man mit jemandem zusammen sein, wenn man nicht zu hundert Prozent wusste, dass man das wollte? Musste man sich trennen, wenn man sich nicht mehr zu hundert Prozent sicher war? Meine Gedanken waren wie bockige Rodeopferde. Ich bekam sie nicht unter Kontrolle, und irgendwann verlor ich den Halt, fiel. Und lag im Dreck.

Perfekt, dachte ich. Da stand ich nun in Lagos an der Algarve, sollte eigentlich meinen Jahresurlaub genießen, und stattdessen war ich so erschöpft und traurig wie seit Jahren nicht mehr. Wegen eines Mannes, der gar nicht da war. Wie machten die das eigentlich immer? Männer – mussten nicht einmal anwesend sein, um einem alles zu versauen. Ich war derartig verwirrt und aufgewühlt, ich hätte nicht einmal sagen können, warum genau ich jetzt hier stand und schluchzte wie ein kleines Kind, das seine Mutti im Kaufhaus verloren hat.

So ging das nicht. Ich wischte mir über die Nase und die Augen – bloß weg mit den Tränen, wenn man denen einmal freie Bahn gewährte, waren sie nicht mehr zu stoppen, und man sah wenig später aus wie eine Schildkröte – und ging, den Blick auf den Boden gerichtet, einfach weiter, ohne auf den Weg zu achten. Ich marschierte einfach drauflos. Und plötzlich befand ich mich wieder mitten im touristischen Epizentrum von Lagos. Die Gehwegplatten in meinem eingeschränkten Sichtfeld wurden heller, die Sandalen wurden zahlreicher, dort lag eine Eiswaffel in einer geschmolzenen Eispfütze, hier ein Touristeninformationsblatt der Igreja do Santo António. Die Dinge, die man fand, wenn man seinen Blick auf den Boden gerichtet hielt. Und manchmal fand man auch Nützliches. Geld zum Beispiel.

Glück im Unglück, dachte ich, als ich die Euro-Münze entdeckte, die in der Abendsonne funkelte. Und obwohl ich eigentlich zu betrübt war, um mich um solch profane Dingen wie Kleingeld zu kümmern, bückte ich mich, um die Münze aufzuheben. Aber ich konnte nicht. Sie klebte am Boden fest.

Während mein Gehirn sich erst noch mühsam die Information erarbeiten musste, dass ich gerade auf einen dummen, alten Streich hereingefallen war, merkte ich, wie mein Gesicht vor Scham bereits hochrot anlief. Und dann hörte ich auch schon jemanden lachen.

Ich hob den Kopf und sah einen ziemlich großen, ziemlich behaarten Mann, der vor einem Café stand und sich köstlich über mich und mein blödes Gesicht amüsierte. Weil das alles für ihn anscheinend so unglaublich witzig war, schlug er sich, während er lachte, wiederholt auf die Oberschenkel und zeigte dabei sogar auf mich. Und das war irgendwie zu viel – zu allem Überfluss auch noch ausgelacht zu werden. Meine Tränendrüsen warfen die eben erst stillgelegte Produktion wieder an, und um das Elend komplett zu machen, floss mir ein kleines Rinnsal Rotz aus der Nase. Ich wischte ihn nicht weg, jetzt war eh alles egal.

Als der gemeine Mann das sah, erstarb das Lachen auf seinem Gesicht. Er kam eilig auf mich zugelaufen und tätschelte mir unbeholfen die Schulter, aber das half jetzt auch nicht. Er hatte Kräfte in Gang gesetzt, die so einfach nicht mehr aufzuhalten waren. Das hatte er nun davon. Während ich weiter schluchzte, nahm ich verschwommen wahr, wie aus dem Café in seinem Rücken ein zweiter Mann kam: klein, mit Schnauzbart und Halbglatze. An irgendwen erinnerte er mich, an den Vater aus den »Vater und Sohn«-Cartoons, das war es. Dachte ich zumindest, bis mir eine Sekunde später klar wurde, dass ich in der falschen Ecke meines Gedächtnisses gekramt hatte und die Wahrheit viel naheliegender war.

»Das ist aber großer Zufall!«, rief der höfliche Türke und hob überrascht die Hände. »Du hier? In Portugal? Mit Tränen?«

Es war seltsam, meinem Gemüsehändler im Ferienoutfit gegenüberzusitzen. Zu Hause trug er immer langärmlige Hemden, Cordhosen und darüber eine grüne Schürze. Die hatte er jetzt natürlich nicht dabei, die Cordhose war durch beigefarbene Herrenshorts ersetzt worden, die seine bleichen Beine in all ihrer Pracht zur Schau stellten. Seine Füße steckten in braunen Sandalen, und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, trug er ein Hawaiihemd. Ja, wirklich. In den Farben Rot, Orange und Gelb, mit ein bisschen Grün dazwischen, Palmenblätter und Papageien, der Klassiker. Er rührte in seinem Espresso, und ich ertappte mich dabei, dass ich ihn unverwandt anstarrte, komplett verwirrt von der Tatsache, dass der höfliche Türke auch an einem anderen Ort als seinem kleinen Laden in Hamburg existierte und auch mal etwas anderes machte, als Feldsalat abzuwiegen. Urlaub zum Beispiel. Wer hätte das gedacht?

Der Mann, der mich zuvor ausgelacht hatte, kam aus dem Café und stellte mir ein Glas Orangensaft vor die Nase, sprach auf Türkisch mit dem Gemüsehändler und nickte mir entschuldigend zu.

»Meinem Bruder tut das leid mit dem Witz. Und dass er gelacht hat. Deswegen schenkt er dir diesen Saft.« Der höfliche Türke machte eine pathetische Geste, als handelte es sich bei dem Inhalt meines Glases nicht um Orangensaft sondern um flüssiges Gold.

Da ich kein Türkisch sprach und nicht wusste, ob der Cafébesitzer Deutsch verstand, nickte ich ihm zum Dank zu. Er nickte zurück. Ich nickte wieder. Und dann er. Ich fragte mich, ob das niemals enden würde, aber da verschwand er auch schon wieder in seinem Café. »Das ist Ihr Bruder?«, fragte ich und konnte ein gewisses Erstaunen nicht verbergen.

Der höfliche Türke wusste, worauf ich anspielte. »Jaaa«, antwortete er gedehnt und winkte ab. »Junger Bruder. Er und seine Familie haben dieses Café hier in Lagos, und ich und meine Familie kommen einmal in Jahr zu Besuch und machen Urlaub.« Er machte eine Pause und sah mich durchdringend an. »Ich weiß, was du denkst.«

»Ach ja?«, fragte ich und nahm einen Schluck von meinem Saft. Er war frisch gepresst und köstlich.

»Ja«, sagte der höfliche Türke. »Aber zu deine Information: Er hat Haare, ich Nase fürs Geschäft.« Er tippte sich an die selbige, um seine Aussage zu unterstreichen. »Ich würde nie einen Witz machen auf Kosten von Kunden. Schlechte Witz auch noch. Schlechte Witz – schlecht für Geschäft. Aber er«, ein Nicken in Richtung der Tür, »er hat keine Ahnung. Er hat Haare, statt Hirn.«

»Tja«, sagte ich. In der Tat waren außer dem Tisch, an dem wir saßen, alle anderen frei. Ich vermutete aber, dass das eher an der Tageszeit als an der festgeklebten Münze lag. Abends um sieben wollten die Touristen eben keinen Kaffee mehr trinken, sondern lieber ein Schnitzel essen. Mit Pommes.

Der Gemüsehändler trank schlürfend aus seiner winzigen Espressotasse und sah mich über den Rand hinweg forschend an. »Aber du hast nicht geweint, weil mein Bruder schlechte Witz gemacht hat, oder?«

»Nein.« Ich war ja nicht mehr vier Jahre alt. Ich betrachtete den Türken in der Sommerfrische und beschloss, dass es länger dauern würde, mir eine plausible Ausrede für meinen Zusammenbruch zu überlegen, als einfach die Wahrheit zu sagen, kurz und kompakt. »Ich habe Probleme mit meinem Freund. Ich weiß auch nicht … Ich glaube, wir trennen uns bald.« Ich wischte einen Krümel vom Tisch und murmelte, mehr zu mir selbst als dass es für seine Ohren bestimmt war: »Wenn das nicht schon längst passiert ist.«

Der Gemüsehändler ließ die Mundwinkel hängen. »Das ist sehr traurig.«

»Ja.«

»Und warum ist das?«

»Na ja, Trennungen sind immer traurig …«

»Nein«, er schüttelte den Kopf. »Warum trennen?«

Ich wünschte, ich hätte einen konkreten Grund gehabt. Er hat mich betrogen, zum Beispiel. Nicht dass ich mir das wünschte, aber das verstand wenigstens jeder. Leider hatte ich jedoch keinen konkreten Grund. Ich hatte nur ein diffuses Gefühl. Ich hatte nichts als Zweifel. Ich wusste nicht, ob Richard überhaupt der Richtige für mich war. Ob er vielleicht nicht nur nicht der Richtige war, sondern, schlimmer noch, sogar der absolut Falsche. »Es ist alles nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe«, sagte ich schließlich, und fühlte mich schrecklich. Oberflächlich und verwöhnt. Und zu allem Überfluss hatte ich jetzt auch noch Bettys vorwurfsvolle Stimme im Kopf, die seufzte: Ach, Schätzelein. Jetzt hast du’s schon wieder gesagt.

Der höfliche Türke allerdings nickte bedächtig. »Verstehe.«

»Wirklich?« Ich sah ihn erstaunt an. Er verstand mich? Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass das schon jemals vorgekommen war. Dass mich irgendjemand jemals verstanden hätte.

»Ja«, bekräftigte er, »ich verstehe. Aber was ist mit Liebe?«

»Liebe?«

»Liebe.« Der höfliche Türke lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und ließ den Blick über den Touristenstrom gleiten, der in der Abendsonne an uns vorbeizog, alle auf der Suche nach Futter. »Als ich zum ersten Mal meine Frau sah, war es wie ein Blitz. Ich wusste: Ich will für immer mit ihr sein. Ich konnte alles sehen vor mein innere Auge: Sie wartet auf mich nach lange Tag, sie säugt meine Kinder …« Ich blinzelte angestrengt, um dieses Bild nicht in meinem Kopf zustande kommen zu lassen. »… sie ist an meine Seite immer und hilft. Das war Liebe, sofort. Und als sie mir sagt: Ich liebe dich auch … Ahhh!« Er verdrehte verzückt die Augen gen Himmel. »Glück! Aber dann«, er sah mich ernst an, »ich gemerkt: Sie hat nicht immer meine Meinung, sie sagt ›Nein‹ öfter als ›Ja‹. Sie hilft nicht immer, sondern guckt Serie im Fernsehen. ›Sturm der Liebe‹, kennst du?«

»Ich hab davon gehört«, antwortete ich. Offenbar war heute der Tag der Telenovela.

Er nickte und fuhr fort: »Wenigstens hat sie die Kinder gesäugt.«

»Prima«, sagte ich und versuchte, an etwas anderes zu denken.

»Warum ich dir das erzähle?« Ja, das fragte ich mich in der Tat. Vor allem der Teil mit dem Säugen erschloss sich mir noch nicht ganz. »Ich dir sage: Ich war enttäuscht. Ich fragte: Warum habe ich diese Frau? Sie bringt mich um den Verstand! Alles, was ich geträumt habe, nichts ist so gekommen. Aber dann habe ich gemerkt …«, er hob den Zeigefinger, denn jetzt kam die Moral der Geschichte, »egal! Es ist Liebe. Auch wenn alles ist anders, als ich es geplant hab. Auch wenn sie an Samstag, wenn Laden voll ist, unbedingt zu Haarentfernung gehen muss und ich allein die ganze Arbeit habe. Ich liebe sie. Und so bleibt es.«

»Das ist gut.« Richard ging mit dem Thema Haarentfernung jedenfalls nicht so locker um, wie ich ja erst kürzlich hatte herausfinden dürfen.

Der höfliche Türke war aber noch nicht fertig. Er beugte sich verschwörerisch zu mir vor. Es war Zeit für das große Finale. »Es ist ganz einfach: Du musst immer den Menschen lieben, nicht die Idee von eine Beziehung mit diesem Menschen. Denn sonst, wenn Dinge anders kommen, als du gedacht hast, und schlecht werden oder schwierig, denkst du: Es ist alles ein großer Fehler. Aber wenn du mit dem Menschen bist, den du liebst, dann sagst du: Es ist alles schlecht und schwierig auch. Aber ich bin zusammen mit richtiger Person. Und deswegen stell ich dir die Frage: Was ist mit Liebe?«

»Ich hab keine Ahnung.«

»Du weißt doch sonst immer alles!«

Marco hob abwehrend die Hände. »Falsch. Ich rede bloß immer nur dann, wenn ich was weiß. So entsteht der Eindruck.«

»Pff.« Betty stützte unbefriedigt ihr Kinn in ihrer rechten Hand ab und sah mich fragend an.

»Ich weiß es auch nicht, Betty.«

»Schätzeleins, das kann doch nicht sein! Der 25. April ist hier eine ganz große Sache, davon muss einer von euch Schlaufüchsen doch irgendwann mal etwas gehört haben.«

Sie hatte schon recht. Erst die Brücke in Lissabon, jetzt der Name der Straße (Rua de 25 Abril) in der die Bar lag, vor der wir saßen und die letzten Sonnenstrahlen des Tages genossen, egal wo man hinsah, der 25. April war schon da. Aber ich war nicht nur sprachlich äußerst schlecht auf diese Reise vorbereitet gewesen, auch was die Landeskunde betraf, war mein Wissen beschämend. Über Portugal wusste ich eigentlich nur, dass man hier Portwein trank, und das auch nur, weil Betty mich immer wieder darauf hinwies und es mir gern demonstrierte: Ihr Glas war schon wieder leer. Auf der anderen Seite hatte ich, wenn man es genau nahm, überhaupt keine Chance gehabt, mich vorzubereiten. Schließlich hatte Betty sich vehement dagegen gewehrt, sich auf ein Reiseziel festzulegen. »Also, wenn ich vor der Abfahrt gewusst hätte, dass wir hier landen würden, hätte ich ein paar Reiseführer gekauft und mich informiert.«

»Hättest du nicht.«

»Dank deiner Geheimniskrämerei werden wir das jetzt nie erfahren.«

»Vielleicht, Schätzelein. Aber eigentlich brauch ich dich und deine Reiseführer gar nicht.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und grinste triumphierend. »Ich frag einfach Ana, wenn sie kommt.«

»Apropos, wo bleiben die eigentlich?« Marco suchte mit seinem Blick die Straße ab, als würden Lucy und Ana sich hinter der nächsten Ecke verbergen und nur auf sein Stichwort warten, um jetzt plötzlich in der Menschenmenge aufzutauchen. Taten sie aber nicht. Die Bardichte hier war hoch, und je später der Abend, desto mehr Menschen fanden sich ein. Das Publikum war ein bisschen anders als tagsüber. Weniger Gesundheitssandalen und Bauchtaschen, dafür mehr Backpacker und Surfer. Als ich mir deren von der Sonne ausgebleichte und vom Salzwasser verfilzte Haare ansah und die wunderbar braun gebrannte Haut, fragte ich mich, wie es sein konnte, dass ich selbst mich bereits seit zehn Tagen im Urlaub befand und nicht einmal im Ansatz so etwas wie einen Teint entwickelt hatte. Zu wenig Zeit am Strand, das musste es sein. Wobei in Bettys Fall ein Tag in der Sonne auf dem Berg der Wunder genügt hatte, um ihr Gesicht ganz golden aussehen zu lassen. Es war nicht fair.

Plötzlich unsicher, zog ich meine Strickjacke aus dem Beutel und legte sie über meine viel zu weißen Beine.

»Ist dir kalt?«, fragte Marco, der eigentlich viel zu aufmerksam war für einen Mann. Ein ganz rares Exemplar. Ich hätte wirklich gern gewusst, warum Betty ihm keine Chance geben wollte. Abgesehen von seinem Heavy-Metal-Teddybär-Look, der nicht wirklich attraktiv war, stimmte alles. Die Welt war einfach zu sehr auf Äußerlichkeiten bedacht. Wenn Marco nur etwas weniger so ausgesehen hätte wie, na ja … Marco … Ich hätte mir keine Frau vorstellen können, die ihm nicht auf der Stelle verfallen wäre. Betty. Und ich auch. Wobei ich natürlich schon an Richard vergeben war. Eigentlich. Aber wer wusste das schon so genau? Ich bestimmt nicht. Ich hatte Kopfschmerzen.

»Nein, mir ist nicht kalt«, sagte ich und stand vom Tisch auf, bevor das Gedankenkarussell wieder volle Fahrt aufnehmen konnte. »Ich hol mir was zu trinken. Sonst noch jemand?«

»Port«, antworteten Marco und Betty gleichzeitig.

Lächelnd legte ich den Kopf schief. »Ihr beiden seid wirklich das perfekte Paar.« Ich ignorierte ihre verständnislosen Blicke, griff nach meinem Portemonnaie und spazierte in die Bar.

Drinnen hielt sich außer der Bedienung kein Mensch auf. Alle Gäste saßen draußen, und es war auch ziemlich offensichtlich, warum. Die Luft stand in dem relativ kleinen Raum, obwohl ein klappernder Ventilator an der Decke sein Bestes tat, um die Hitze zumindest ein bisschen in Bewegung zu bringen – leider vergeblich. Die dürre, kleine Frau hinter dem Tresen war etwa um die vierzig und damit beschäftigt, Gläser zu polieren. Und zwar so schnell und so aggressiv, dass ich befürchtete, jeden Moment werde eines in ihrer Hand unter dem Druck zerbrechen. Allein der Gedanke an so eine Szene in Verbindung mit der unerträglichen Temperatur in der Bar verursachte bei mir einen kleineren Schweißausbruch. Mein Tanktop klebte mir am Rücken fest, und ich versuchte, es so unauffällig wie möglich von meiner Haut abzuziehen, während ich mich am Tresen positionierte. Und wartete. Und zusah, wie die Frau polierte. Und zuhörte, wie im Radio irgendein äußerst stressiger Party-Techno-Track lief. Der hektische Rhythmus, das gehetzte Tempo, der schrille Gesang, ich schwitzte gleich noch ein wenig mehr. Ich wurde eine ganze Weile ignoriert, aber das machte nichts, denn ich war sowieso damit beschäftigt, mich daran zu erinnern, wie man sich noch gleich auf Portugiesisch begrüßte. Anstatt einfach »Hi!« zu sagen, was ja meistens international funktionierte. Aber die Hitze lähmte mein Gehirn.

Die Frau polierte, und das letzte Glas quietschte. Nachdem sie es zur Seite gestellt hatte, sah sie mich endlich direkt an. Ihr Gesicht war faltig und sonnenbankbraun. Ihre Mundwinkel zeigten nach unten, es war deutlich, dass sie irgendwie nicht so gut drauf war. Würde mir nicht anders gehen, wenn ich den ganzen Tag in dieser Hitze verbringen müsste, dachte ich, und beschloss, ihr die miese Laune nicht übel zu nehmen.

Ein harsches »E?« kam aus ihrem Mund.

Ich versuchte ein gewinnendes Lächeln (aber das war ja schon bei dem französischen Polizisten im Nichts verpufft), reckte mich über den Tresen und zeigte auf zwei Portweingläser. »Dois, por favor.« Daran erinnerte ich mich noch aus Lissabon.

Die Reaktion darauf waren noch etwas tiefer hängende Mundwinkel und ein genervtes »Dois dos quais?«

Klar, sie brauchte eine präzisere Bestellung. Also sagte ich: »Port.«

»Porto. Dois, certo?«

Ich nickte vorsichtshalber und hoffte das Beste, während der Portwein eingeschenkt und die Gläser auf den Tresen gestellt wurden. Dann nannte die Frau einen Preis, verfrüht natürlich, weil ich für mich selbst noch gar nichts bestellt hatte, aber das konnte sie ja nicht wissen. Das Problem war, dass ich auch so einiges nicht wusste. In erster Linie wie ich dieser Frau, die mich mit ihrer schlechten Laune ganz nervös machte, mithilfe meiner nicht vorhandenen Portugiesischkenntnisse erklären sollte, dass ich mit meiner Bestellung noch nicht fertig war. Mit Worten würde ich das nicht schaffen, so viel stand fest. Vielleicht klappte es mit Körpersprache. Ich schüttelte also den Kopf. Außerdem sagte ich, schüchtern und leise: »No.«

Das hätte ich besser nicht getan. Offensichtlich missverstand die Barfrau meine Geste als Weigerung zu zahlen und funkelte mich böse an. »Sem dinheiro não ha bebidas.« Und mit diesen Worten, deren Bedeutung ich allerhöchstens raten konnte, verschwanden die Portweingläser wieder von der Theke. In schierer Verzweiflung öffnete ich mein Portemonnaie und legte einen Zehneuroschein auf den Tresen. Dieser wurde eingesammelt, die Portweingläser wurden zurückgestellt. Und ich hatte noch immer nichts zu trinken.

»Brauchst du Hilfe?« Keine Ahnung, wie lange der Typ, der das fragte, schon hinter mir gestanden und sich über mich amüsiert hatte. Eine erneute Hitzewelle, diesmal aus Scham, durchschoss meinen Körper. Das Tanktop klebte endgültig an meinem Rücken fest. Sehr peinlich, das alles. Ich hatte heute mit Schwitzen und Heulen so viel Flüssigkeit verloren, dass es inzwischen sicherlich medizinisch bedenklich war, und konnte diesen Flüssigkeitsverlust leider nicht ausgleichen, weil ich ironischerweise nicht in der Lage war, in einer Bar voller Getränke ein Getränk zu bestellen. Natürlich brauchte ich Hilfe.

»Ja, bitte. Ich hätte gern …«, begann ich, drehte mich um, und mein Unterkiefer klappte nach unten wie im Comic. Und das ist kein bisschen übertrieben. Irgendwie schaffte ich es aber trotzdem, das Wort auszusprechen, das, groß und blinkend wie eine Reklametafel in der Nacht, meinen Kopf komplett ausfüllte. »… Felix.«

»Das letzte Mal, als wir gesprochen haben, klang das aber ganz anders.« Und während er das sagte, lächelte er. Dieses Lächeln.