19
Der Teil mit dem Morgen danach
LUCYS MIXTAPE
Olivia Newton John & John Travolta – Summer Nights
Aus gutem Grund hatte ich mich bisher dem Konsum von Portwein verweigert. Portwein bestand zu großen Teilen aus Alkohol, was bedeutete, dass die Folgen seines Genusses gleichzusetzen waren mit denen jedes anderen alkoholhaltigen Getränks. Je nach Menge hatte man am Morgen danach entweder einen trockenen Mund oder Kopfschmerzen oder beides, litt unter Schwindel und Übelkeit oder, in ganz extremen Fällen, wachte man neben seinem Exfreund in dessen Hotelbett auf.
»Nein, bitte nicht«, war alles, was ich herausbrachte, als ich meine Augen öffnete und verschwommen wahrnahm, wo ich mich befand. Ich fühlte an mir herunter und stellte fest, dass ich zumindest voll bekleidet war. Und das war ein echter Lichtblick. Daran konnte ich mich festhalten und aufrichten.
Wobei Aufrichten sich als keine gute Idee herausstellte. Als ich den Versuch unternahm, wurde ich mit Übelkeit und Schwindel belohnt. Stufe zwei.
Felix hatte entweder weniger Port getrunken oder war besser im Training als ich. Jedenfalls sah er im Vergleich zu mir zwar auch mitgenommen aus, aber doch vergnügt und ungleich fitter. Sogar mit dem Aufrichten hatte er mehr Erfolg gehabt als ich, zumindest saß er bereits neben mir im Bett. Er war nackt. Ich beschloss, später über das Wie und Warum nachzudenken. Wenn ich wieder denken konnte. Gerade wollte ich nicht einmal darüber nachdenken, wie ich mich fühlte.
»Was für eine Party!« Er wischte sich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht und grinste mich an. Ich ertrug es fast nicht. »Man könnte meinen, die hätten unsere Verlobung gefeiert, so wie die mir die ganze Zeit gratuliert haben …«
»Die haben unsere Verlobung gefeiert«, unterbrach ich ihn gereizt. Zum Glück befanden wir uns in Lagos. Und nicht in Vegas. Da hätte so ein Abend ganz andere Konsequenzen haben können. Es würde schon genug Schwierigkeiten mit sich bringen, Richard diesen Vorfall zu beichten, nicht auszudenken, wie ich ihm einen Ehering an meinem Finger erklärt hätte. Wobei sich die Frage stellte, ob ich ihm von diesem Abend überhaupt erzählen musste? Vielleicht war das gar nicht mehr nötig. Vielleicht interessierte es ihn überhaupt nicht mehr. O Gott, mein Kopf. »Verdammter Portwein.«
Felix schwang sich aus dem Bett und ging ins Bad. Wenig später hörte ich die Dusche plätschern. Ich nickte ein und träumte von einem Karussell. Ich wachte auf. Felix kam aus dem Bad und wuschelte seine Haare mit einem Handtuch trocken. Ich fühlte mich eklig. Ich wollte auch gern duschen. Aber dafür hätte ich aufstehen müssen. Und aufstehen …
Ein Kuss. Felix hatte sich wohlriechend und mit vom Wasser weicher Haut über mich gebeugt und mir einen Kuss gegeben. Einen ernst gemeinten Kuss. Der nicht ausgeführt war, wie ein erster Kuss nach drei Jahren Nicht-Küssen erwartungsgemäß ausgeführt wurde – etwas scheu aber doch erregt. Dieser Kuss, den Felix mir gab, beinhaltete eine gewisse Routine. Was eine Frage nahelegte. Nämlich diese: »Haben wir uns gestern geküsst, Felix? Sag mir die Wahrheit!«
Er lächelte verschmitzt und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. »Na klar, was denkst du denn? Wir haben doch Verlobung gefeiert.«
Entgeistert starrte ich ihn an.
»Was ist?«, fragte er.
»Das fragst du mich ehrlich?«
»Ich dachte, du hättest dich entschieden?«
In einer ungelenken Bewegung rollte ich mich aus dem Bett und stand nach einiger Mühe schwankend davor. »Wie soll ich denn bitte in so kurzer Zeit so eine große Entscheidung treffen, Felix?« Alles drehte sich. Das Zimmer, mein Exfreund oder was auch immer, ich, Lagos. »Ich kenn dich erst seit gestern wieder!«
»Vorgestern.«
»Von mir aus. Und ich hab nicht einmal mit Richard Schluss gemacht. Und ich weiß auch gar nicht, ob ich das überhaupt will …« Felix’ linke Augenbraue wanderte ein Stück nach oben. Ich hielt mich an einer Kommode fest. Falls ich mich übergeben musste, waren es schätzungsweise fünf schnelle Schritte bis ins Bad. Es war wichtig für mich, das zu wissen. Wenigstens das zu wissen. Ich glitt an dem Möbelstück hinunter auf den Teppich, kauerte mich zusammen und legte den Kopf auf die Knie. »Ich weiß gar nichts mehr!«, jammerte ich.
Ich hörte und spürte, wie Felix näher kam, einen Arm um mich legte und mir einen Kuss aufs Haar pflanzte. Das war so tröstend, dass ich mich nicht einmal weiter daran störte, dass er noch immer nackt war und dass Teile von ihm ganz in meiner Nähe ungehindert in der Gegend herumbaumelten.
Er streichelte meinen Rücken. Davon wurde mir dann doch ein wenig übel.
»Wollen wir einen Tag am Strand verbringen?«, flüsterte er in mein Ohr, und meine Nackenhärchen stellten sich auf. »Nur du und ich? Ich kenn da eine einsame Bucht …«
»Ich hab keinen Bikini …«, erzählte ich meinen Knien.
»Ich kauf dir einen.«
»… und mir geht es echt mies.«
»Okay.« Er ließ von mir ab und stand auf um sich endlich, endlich etwas anzuziehen. »Aber heute Abend darf ich dich zum Essen einladen, ja?«
Ich nickte, »okay«, und rappelte mich vom Boden auf.
»Soll ich dich jetzt irgendwohin fahren?«
»Ja. Zur Autowerkstatt.« Ich schloss die Augen, weil ich sowieso nur schwarz sah, und wartete, bis das Gefühl verschwunden war. »Also, irgendwo in die Nähe reicht.« Bettys Blicke zu ertragen, wenn sie Felix und mich zusammen sah, das hätte mir jetzt den Rest gegeben.
Und so setzte mein Exfreund mich etwas später wie gewünscht am Ende einer einsamen Straße am Stadtrand ab (etwa drei Minuten Fußweg entfernt von der Werkstatt von Anas Vater) und erinnerte mich noch einmal an unsere Verabredung für den Abend. Um neun Uhr vor seinem Hotel. Ich nickte zur Bestätigung, ließ mir den zweiten Kuss des Tages verpassen und beschritt meinen Weg der Schande, fünfhundert staubige Meter heißer Asphalt. Ich hatte schrecklichen Durst. Schön, dass die wirklich essenziellen Bedürfnisse manchmal die Macht besitzen, den ganzen anderen Kram für eine Weile aus den Gedanken zu verdrängen.
Betty und Marco hatten die Klappstühle in der Mittagssonne vor dem Bus aufgebaut und sich aus alten Reifen und Brettern aus der Gerümpelsammlung des Werkstatthofs einen provisorischen Tisch gebastelt. Darauf verteilt erkannte ich ein paar Ansichtskarten, einen Kugelschreiber, ein Heftchen Briefmarken und einen Joint. Außerdem zwei Gläser, eine Flasche Cola und eine Flasche Rum. Bei dem Anblick wurde mir sofort wieder übel, aber da musste ich wohl durch. War ja schließlich Urlaub.
Im Schatten unter der Tischplatte erspähte ich den Wasserkanister, der mich sofort magisch anzog. Ohne meine Freunde zu begrüßen, bückte ich mich danach, öffnete den Schraubverschluss und trank mit gierigen, großen Schlucken etwa einen halben Liter ohne abzusetzen.
»Die Klamotten von letzter Nacht? Wirre Haare? Unbändiger Durst? Riecht nach Sexfalle, wenn du mich fragst.«
Ich ignorierte Betty fürs Erste und trank weiter.
»Also, ich riech nichts«, erwiderte Marco. Keine Ahnung, ob das helfen sollte.
Ich setzte den Kanister ab, atmete angestrengt aus und ein und setzte mich auf eine Holzkiste, die zufällig in Reichweite herumstand. »Ich dachte, du wolltest dich aus der Sache raushalten, Betty?«
»Das tu ich auch, Schätzelein. Ab jetzt. Aber ich hab mich schon darauf gefreut, den Spruch loszuwerden, seit wir uns gestern verabschiedet haben.« Sie nahm eine der Postkarten vom Tisch und wedelte sich damit Luft zu.
»Verstehe.«
»Ab jetzt verliere ich kein Wort mehr über dich und den lieben Herrn Geistig-Klobig. Versprochen. Stattdessen werde ich hier sitzen und Postkarten schreiben, so wie das jeder gute Tourist tut.« Sie setzte sich demonstrativ auf und malte mit höchster Konzentration Buchstaben auf die Rückseite einer Karte.
»Wem schreibst du?«, fragte ich. »Mo?«
»Nein. Natürlich nicht«, antwortete sie, ohne von ihrer Schreibarbeit aufzusehen. »Ich schreibe meinem Sohn. Eine für jeden Tag, den wir uns nicht gesehen haben.«
Ich stützte meinen Kopf in meine Hände und fuhr mir erschöpft durchs Haar.
Marco streckte seinen Arm aus und legte mir behutsam eine Hand auf die Schulter. »Alles okay?«
Ich lachte trocken. »Alles bestens. Abgesehen davon, dass Felix mir verraten hat, dass er gern wieder mit mir zusammen wäre und ich nicht weiß, was ich denken soll …« Betty ließ ihren Stift fallen. »Außerdem habe ich einen fetten Kater von unserer spontanen Verlobungsfeier. Aber da muss ich jetzt wohl durch.«
»Verlobungsfeier?!« Marco nahm lieber noch einen schnellen Schluck Rum Cola zu sich, bevor er mehr sagte oder fragte.
»Psycho!« Betty spuckte das Wort förmlich vor sich auf den Tisch. Sie sah angewidert aus. »Voll psycho!«
»Ich oder er?«, fragte ich sie.
»Ja«, antwortete sie streng.
»Weißt du was, Betty?« Ich erhob mich müde von meiner Kiste. »Ich glaube, du hast recht.« Die paar Schritte zu unserem armen, fahrunfähigen Bus bekam ich gerade so hin. Jetzt musste ich bloß noch einsteigen, mich ausziehen und hinlegen. Ich öffnete die Schiebetür, kletterte unter großen Mühen in den Bus und stellte noch eine letzte Frage, bevor ich damit begann, meinen alles andere als berauschenden Rausch auszuschlafen: »Wo steckt Lucy eigentlich schon wieder?«
»Am Strand. Mit Ana und Ramon«, informierte mich Marco.
Aha. So war das also. Ana und … »Ramon?!«
»Einer von diesen Gentle Men. Der Bauarbeiter, weißt du noch?«
»Wie könnte ich den vergessen?«, fragte ich tonlos.
Marco quittierte meinen verdutzten Gesichtsausdruck mit einem Lachen. »Na ja, soweit ich weiß, ist sie Single, also warum nicht?«
»Ramon, also …«, wiederholte ich nachdenklich.
Betty schüttelte mürrisch den Kopf und beschriftete eine weitere Postkarte. »Erst die Polen. Dann der Jesus. Und jetzt ein spanischer Stripper. Was mach ich falsch?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht merken die Männer einfach, dass du bereits vergeben bist.«
»Ach, Schätzelein, wie oft soll ich dir denn noch erklären, dass Mo und ich nicht diese Art von Beziehung führen?«
»Ich meine nicht Mo.«
Als Betty ihren Kopf hob und mich stirnrunzelnd ansah, erklärte ich ihr mit einem Nicken in Richtung des Postkartenstapels, worauf ich hinauswollte. Und sie verstand und lächelte milde. Ein feiner Moment, das endgültig gute Ende eines Streits. Ich zog die Bustür hinter mir zu, legte mich auf die Matratze und schlief sofort ein. In meinem Kleid. Natürlich.
Wenn ich erwartet hatte, dass das Schlafen weniger anstrengend als das Wachsein sein würde, hatte ich mich geirrt. Es konnte an dem Kater liegen, mit dem ich mich herumschlug, an der Hitze im Bus oder an allem, was mir gerade durch den Kopf ging: Jedenfalls hatte ich wilde, wirre Träume von einem brennenden Haus, aus dem ich Richard retten wollte, im dichten Qualm aber aus Versehen Felix’ Hand erwischte, und während ich träumte, dachte ich die ganze Zeit, dass es nur ein Traum war und ich in der Realität dringend etwas gegen meinen Durst tun musste. Ich war kurz davor zu dehydrieren, wachte aber nicht auf. Ich wälzte mich herum, zerwühlte das Laken und die Decken und stieß irgendwann am frühen Abend mit solcher Wucht gegen die Seite des Busses, wo das Bücherregal angebracht war, dass Skys klebriges Hippie-Buch herunter- und mir auf den Kopf fiel. Erschrocken und verschwitzt rieb ich die Stelle an meiner Stirn, an der mich der Buchrücken erwischt hatte, und blieb noch ein wenig liegen, um mich zu sammeln. Es war noch immer derselbe Tag in derselben Stadt, mit dem einzigen Unterschied, dass ich jetzt vermutlich eine Beule am Kopf hatte. Verschlafen griff ich nach dem aufgeschlagenen Buch, das neben mir auf der Matratze lag, und las den ersten Satz, den meine Augen klar erkennen konnten: »Man liebt, wofür man sich müht, und man bemüht sich für das, was man liebt.« Das hatte der oberschlaue Erich Fromm ganz sicher mal auf irgendeinem T-Shirt gelesen. Oder auf einem Kissen, das Oma Mathilde bestickt hatte. Der Spruch klang ganz nach ihr. Nur hatte sie sich im Gegensatz zu Herrn Fromm verkniffen, ein Buch mit ihren gesammelten Weisheiten herauszubringen, sondern diese stattdessen lieber ungefragt in der Familie verteilt. Schade, dass sich sowohl meine Mutter als auch ich als beratungsresistent erwiesen hatten. Die arme Frau, es muss sehr frustrierend für sie gewesen sein. Vielleicht hätte sie doch lieber Bücher schreiben sollen.
Von draußen drangen Stimmen in den Bus, ein schönes Gefühl zu wissen, dass man nicht allein war, besonders nach dem Aufwachen. Wenn ich zu Hause in Hamburg wach wurde, sah ich immer zuerst nach links. Da lag Richard. Und immer machte er genau in dem Moment, wenn ich ihn anschaute, die Augen auf. Es war ein bisschen seltsam und irgendwie auch unwahrscheinlich, dass das jedes Mal zufällig passierte. Aber im Grunde war mir egal, was dahintersteckte, das Erste, was ich jeden Tag erblickte, war mein Freund. Und umgekehrt war ich das Erste, was er sah. Es war eine kleine Sache, die mich aber zuverlässig glücklich machte. Nur war ich mir dessen zu selten bewusst.
Ich stellte das Buch zurück ins Regal und lehnte mich über die Bettkante hinunter zu meinem Koffer in der Hoffnung, darin ein frisches Kleidungsstück zu finden, das ich mir anziehen konnte, nachdem ich mir mit einer Dusche aus dem Kanister den Dreck vom Körper gewaschen hatte. Doch bevor ich überhaupt dazu kam, den Textilienbestand zu durchforsten, fiel mein Blick auf mein Handy, das oben auf dem Koffer lag, unbeachtet, seit wir am vorherigen Tag vom Strand zurückgekehrt waren. Ohne große Erwartungen studierte ich das Display und sah: Zwölf verpasste Anrufe. Alle von derselben Person. Richard.
Mein Herz blieb stehen. Es war fast so, als ahnte er etwas. Unwillkürlich sah ich mich im Bus um. Das schlechte Gewissen meldete sich mit aller Kraft. Aber da war auch etwas anderes. Erstens war ich in gewisser Weise beeindruckt, weil unsere Verbindung doch zumindest noch so stark zu sein schien, dass Richard selbst auf diese Entfernung spürte, dass hier unten etwas vor sich ging, das unserer Beziehung den Todesstoß verpassen konnte. Zweitens spürte ich etwas Warmes im Bauch, eine Art Geborgenheit. Es waren nur verpasste Anrufe, aber sie bewiesen, dass Richard zumindest sein Ende des Bandes zwischen uns noch in der Hand hielt. Er bemühte sich. Im Gegensatz zu mir.
Felix’ Argumente vom Vorabend waren somit hinfällig. Ich fühlte mich beschissen und zufrieden zugleich.
Das letzte saubere Kleidungsstück aus meinem Koffer (ein gelbes, bodenlanges Strandkleid) in der Hand, öffnete ich die Bustür zum Werkstatthof, über den sich schon langsam die Dämmerung legte. Die lustige Runde am provisorischen Tisch hatte sich um drei Personen erweitert. Lucy und Ana saßen neben Betty und Marco, und neben Lucy hatte ein extrem gut gebauter, südländisch aussehender junger Mann Platz genommen, den ich als Ramon, den Stripper, identifizierte. Bettys Postkarten waren zu einem ordentlichen Stapel zusammengeschoben, der Kugelschreiber lag obenauf.
Lucy war die Erste, die mich bemerkte. »Daphne! Da bist du ja!«, rief sie begeistert, als hätten wir uns seit Wochen nicht mehr gesehen. Sie legte dem Herrn neben sich, dem mit dem Sixpack, eine Hand auf den muskulösen Oberschenkel, streichelte sanft darüber und deutete auf mich: »Ramon? Das ist Daphne.«
Er sah mich an und nickte. Sein freundliches Lächeln offenbarte eine Reihe makellos weißer Zähne. Aber er erwiderte Lucys Berührung nicht. Vielleicht weil es ihm wie Arbeit vorgekommen wäre.
Betty betrachtete mich amüsiert. »Du liebst dieses Kleid wirklich, was, Schätzelein?«
»Ich wollte erst duschen, bevor ich mir etwas Neues anziehe«, erklärte ich.
»Besser ist das.« Betty trank einen Schluck aus ihrem Glas und reichte es mir. Ich probierte vorsichtig – Wasser –, trank es in einem Zug aus und reichte Betty das leere Glas, die es neu füllte und mir wieder in die Hand gab. »Anas Vater war vorhin hier«, erzählte sie währenddessen. »Er muss die Zylinderkopfdichtung und die Pumpe austauschen, dann läuft wieder alles wie geschmiert, sagt er.«
»Aha.« Betty hätte auch über Hedgefonds reden können, davon verstand ich ungefähr genauso viel wie von Kfz-Mechanik. Und für mich war ohnehin nur eine Frage wichtig, die glücklicherweise schnell und unkompliziert zu beantworten sein sollte: »Wie lang soll das dauern?«
»Die Reparatur? Die geht schnell, aber er musste die Teile bestellen, und bis die hier sind, kann es fünf Tage dauern.«
»Fünf Tage?!« Das war zu lange. »So viel Zeit hab ich nicht. In fünf Tagen muss ich ja schon fast wieder im Laden stehen.«
Betty zuckte mit den Schultern. »Sky hat dir doch angeboten, den Rückflug zu bezahlen.«
»Ja, schon …« Aber das wäre dann nichts anderes als die letzte große Sache, die in diesem Urlaub schieflief, der ohnehin schon zu einer haarsträubenden Seifenoper verkommen war. Ein geschenkter Rückflug statt einer gemeinsamen Heimfahrt würde dem Ganzen die Krone aufsetzen. Aber eine Alternative gab es wohl nicht. »Ich geh duschen«, sagte ich resignierend.
»Falls es dich aufheitert«, Lucy schenkte ihrer Eroberung ein Lächeln und mir einen freudestrahlenden Blick, »Ramon hat uns für heute Abend zu einer Open-Air-Tanzveranstaltung am Strand eingeladen, und wir gehen da später alle hin. Das wird ganz lustig.«
»Ich bin leider verabredet …« Ich musste nicht erwähnen, mit wem. Jeder am Tisch wusste Bescheid. Über Bettys Gesicht huschte kaum merklich ein Ausdruck, den ich als genervt interpretierte, eine Sekunde später hatte sie sich aber wie versprochen wieder im Griff. »Vielleicht danach«, vertröstete ich Lucy.
Sie wirkte geknickt. »Okay. Ich schreib dir auf, wo wir sind.«
»Ja, mach das«, sagte ich, schnappte mir einen der Duschwasserkanister, die wir zum Aufwärmen in die pralle Sonne gestellt hatten, und verschwand in einer stillen Ecke des Hofs. Um den Dreck loszuwerden. Und zwar vollständig und ein für alle Mal.
Ich war wild entschlossen. Meine Flip-Flops flappten herausfordernd, als ich schnellen Schrittes die Hafenpromenade von Lagos entlangmarschierte, gegen den Strom von Touristen, der sich aus den umliegenden Hotels in die Bars und Restaurants der Altstadt ergoss. Ich wurde geschubst und vom Weg abgedrängt. Trotzdem gelang es mir immer wieder, Lücken im Menschengefüge zu finden, durch die ich mich schlängeln und so langsam meinem Ziel näher kommen konnte. Felix’ Hotel. Es war fünf vor neun.
Mein Magen drehte sich vor Aufregung wieder und wieder um sich selbst. Dabei hatte ich gedacht, dass sich dieses wirre Gefühl endlich legen würde, wenn ich zu einer eindeutigen Entscheidung gekommen war. Und das war ich.
Wenn man alles, was in den letzten Wochen und vor allem Tagen passiert war, in Betracht zog, war die Antwort auf die Frage, was ich tun sollte, mehr als offensichtlich. Was nicht hieß, dass ich nicht mit mir gerungen hätte, oh, das hatte ich. Ich war alle möglichen Szenarios so oft durchgegangen, dass ich die Augen schließen musste, damit das Chaos meinen Kopf nicht explodieren ließ. Was würde passieren, wenn ich mich endgültig von Richard trennte? Wie würde es mit mir und Felix weitergehen? Würde es überhaupt weitergehen oder würde es wieder so enden wie schon zweimal zuvor: mit einem Ende? Unter der provisorischen Kanister-Dusche war mir etwas eingefallen, das Betty in Biarritz zu mir gesagt hatte: Niemand konnte wissen, was die Zukunft bringt. Und so war es ganz egal, wie intensiv ich versuchte, die Konsequenzen und Ereignisse vorauszusagen, die diese oder jene Entscheidung nach sich ziehen würde, es war nicht möglich.
Das Tröstende daran war, dass es darum jetzt auch gar nicht ging, um die Frage, welche Strategie die schlaueste war. Die Frage war nicht, welchen Schritt ich demnächst oder in ein paar Jahren mehr bereuen würde. Die Frage war, was jetzt, genau in diesem Moment, mein Herz zu all dem zu sagen hatte. So kitschig es klang, ich hatte herausfinden müssen, wer dort drin seinen Platz hatte. Oder wie der höfliche Türke so schön gesagt hatte: Was ist mit Liebe? Die Antwort darauf hatte ich jetzt. Und wenn ich dementsprechend handelte, würde ich, egal was später passierte, meine Entscheidung nicht bereuen. Davon war ich überzeugt. In Ansätzen zumindest. Also, ich hoffte, dass es so funktionieren würde. Verdammt … Eine bessere Idee hatte ich eben einfach nicht.
Nur noch ein paar Meter lagen zwischen mir und dem Hoteleingang. Ich bemerkte, dass ich völlig außer Atem war. Dabei hatte ich mich nicht sonderlich beeilt. Es musste an den Ausweichmanövern liegen. Und an der Anspannung in mir, die jetzt nicht nur meinen Magen sondern auch meine Kehle zuzudrücken schien. Eine Entscheidung zu treffen, war eine Sache. Sie auch in die Tat umzusetzen, war manchmal die viel größere Hürde. Ich versuchte gleichmäßig zu atmen und stützte mich an der niedrigen Hafenmauer ab. Ich musste mich irgendwie beruhigen, bevor ich Felix traf …
»Da bist du ja schon!«
Zu spät.
Ich drehte mich um und versuchte, ein fröhliches Gesicht zu machen, während mir das Herz in den Ohren schlug. Winkend kam Felix vom Hotelportal über die Straße auf mich zugelaufen, und ich fragte mich, ob mir genug Zeit blieb, mich schnell noch über die Kaimauer zu übergeben. Wohl eher nicht, also ließ ich es bleiben. Kaum eine Sekunde später stand er vor mir, beugte sich ganz selbstverständlich zu mir herunter, um mir einen Begrüßungskuss zu geben – und stutzte. Er zog seinen Kopf zurück und sah mich fast beleidigt an.
»Was?«, fragte ich.
Er zeigte auf meinen Mund. »Lippenstift.«
Es stimmte. Lippenstift. Roter Lippenstift. Ich hatte ihn schnell noch aufgetragen, bevor ich vom Werkstatthof geeilt war. Betty hatte sich zwar auch dazu jeden Kommentar verkniffen, wenn aber ihre Augen eine Laserstrahl-Funktion gehabt hätten, wäre ich jetzt nicht mehr gewesen als ein verkohltes Loch im Boden. Zu Unrecht. Denn sie hatte ja keine Ahnung, welcher Plan dahintersteckte.
Ich legte lächelnd den Kopf schief und fragte Felix arglos: »Was ist damit?«
»Sag nicht, du hast das vergessen!« Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich eine Haarsträhne aus der Stirn und lachte hilflos. »Ich hasse Lippenstift, das weißt du doch. Es ist diese Phobie … Ich kann dich nicht küssen, wenn du das schmierige, klebrige Zeug da drauf hast. Daran musst du dich doch erinnern.«
Stimmt. Das tat ich. Und dieser Umstand kam mir äußerst gelegen, denn ich wollte nicht, dass Felix mich küsste. Ich wollte nicht einmal, dass er mich umarmte. Ich wollte diese ganze Sache beenden, bevor Schlimmeres passierte. Ich wollte nach Hause fahren und Richard sehen, ohne ein dreckiges Geheimnis oder ein schlechtes Gewissen im Gepäck. Ich wollte das alles mit ihm klären, auch wenn es Tage oder Wochen dauern würde, egal, er hatte jetzt ja Urlaub. Und wenn am Ende wirklich dabei herauskam, dass wir keine Chance mehr hatten, wollte ich mich für ein paar Monate oder Jahre irgendwo zusammenrollen und meine Wunden lecken. Das wollte ich.
Was ich nicht wollte, war, Richard kaltblütig zu hintergehen. Dafür respektierte ich ihn zu sehr. Und dafür war es mir zu wichtig, dass er und meine Freunde (und vor allem ich selbst) mich auch weiterhin respektieren konnten. Ich wollte ihn nicht betrügen. Noch dazu mit meinem Exfreund, dem ich den schlimmsten Liebeskummer meines Lebens verdankte und der inzwischen, wie es schien, komplett durchgeknallt war. Um ehrlich zu sein, hätte es mich nicht überrascht zu erfahren, dass irgendwo in Norddeutschland eine Anstalt unter Hochdruck auf der Suche nach einem entlaufenen Patienten war. Anfang dreißig. Blonde Haare. Süßes Lächeln. Rufname Felix. Trennungstrauma-induzierter Realitätsverlust, nachdem kurz vor seinem geplanten Pärchenurlaub aus Eva die Ex geworden war. So weit meine Analyse, und der war ich mir mehr als sicher. Auf dem Gebiet der Trennungstraumata war ich schließlich so etwas wie eine Expertin, und das nicht zuletzt dank des Mannes, der jetzt vor mir stand, plötzlich mit der Schulter zuckte und sagte: »Ach, was soll’s …«
Was soll’s?!, dachte ich, und konnte gerade noch erschrocken Luft holen, bevor Felix seine Lippen auf meine drückte. Seine Zunge suchte sich ihren Weg zu meiner. Es war nicht der schönste Kuss meines Lebens. Und als er vorbei war und sich Felix von mir löste, wurde mir erst bewusst, wie schlimm das, was gerade passiert war, wirklich war. Denn während Felix in die Hände klatschte, als hätte er gerade einen Hundert-Meter-Sprint gewonnen, und freudig erklärte, dass seine Phobie jetzt endlich überwunden sei (und das freute mich für ihn, ehrlich), erkannte ich jemanden in der Menschenmenge auf der Promenade. Er stand nur wenige Schritte entfernt und beobachtete uns.
»Daphne …«, war alles, was er sagte. Und es klang so enttäuscht und verletzt, dass ich am liebsten auf der Stelle angefangen hätte zu weinen.