21

Der Teil, in dem einiges zum Ende kommt

DAPHNES MIXTAPE

Martha & The Muffins – Echo Beach

Ich hatte Ramon ziemlich gut eingeschätzt. Und doch vollkommen falsch. Ich hatte vermutet, dass seine Hände eher früher als später einen anderen Körper als Lucys an sich drücken und abtasten würden. So wie jetzt gerade, eine Hand im Nacken, eine am Po, im Rhythmus der Musik, die inzwischen etwas weniger nach Party und etwas mehr nach Einstimmung auf horizontalere Punkte der Abendplanung klang. Ramon rollte gekonnt seine Hüften, woher er das hatte, wussten wir ja. Und er schloss die Augen, während er seine Finger durch langes Haar gleiten ließ und daran roch. Es war alles sehr klischeehaft, und das machte es seltsam schwer zuzusehen, ohne peinlich berührt zu sein. Trotzdem konnte ich meinen Blick nicht abwenden, ebenso wenig Lucy. Wie bei einem Kaleidoskop war mein Kopf ein paarmal so weit, aus den vorhandenen Fakten eine endgültige Form zusammenzubasteln, aber immer wenn ich glaubte, alles in Verbindung gebracht zu haben, fiel das Bild wieder in sich zusammen. Es dauerte ein paar Momente. Ich glich alles ab, was ich wusste, korrigierte die Aspekte, die ich offensichtlich hinzuerfunden hatte, und musste am Ende erkennen, dass alles plötzlich Sinn machte. Und das ich es auch eher hätte sehen können. Aber Dinge ungeprüft für wahr zu halten war eben doch der leichtere Weg.

Als Ramon Marcos Gesicht in seine Hände nahm und ihm einen langen, leidenschaftlichen Kuss verpasste, machte Lucy neben mir ein herzzerreißendes Geräusch, wie ein kleines, pelziges Tier, das gequält wurde. Ich legte meine Hand auf ihre Schulter, aber in dem Augenblick, als meine Finger ihre Haut berührten, drehte sie sich in einem Ruck von mir weg und stürmte los. Dieses Mal machte sie sich nicht einmal die Mühe, sich an den feiernden Menschen vorbeizudrücken. Sie rannte einfach drauflos und riss alles um, was ihr in den Weg kam. In der Schneise der Verwüstung, die sie hinterließ, sprang ich über umgeworfene Stühle und wich Getränkelachen und Glasscherben aus, während ich hörte, wie sie ihr Schluchzen immer weniger unter Kontrolle hatte, wie es zu einem erschütterndem Heulen wurde, irgendwo hinter den Händen vor ihrem Gesicht. Lucy rannte, ein blinder, pinkfarbener Kugelblitz, eine Ein-Frau-Stampede, und bog im letzten Moment auf die Treppe zum Strand ein, allerdings nicht, ohne vorher Hannes’ Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Er rief ihren Namen, doch sie blieb nicht stehen, sie wurde nicht einmal langsamer. Sie polterte die Holzstufen hinunter, sprang in den Sand und rannte, rannte, rannte. Und Hannes hinterher, mit seinen langen, schlaksigen Beinen, der nichts anderes rief als immer wieder: »Lucy!«

Je weiter sie sich entfernten, desto leiser wurde seine Stimme, und irgendwann verschluckte die Partymusik sie vollständig. Ich kam schwer atmend an der Bar zum Stehen, direkt neben Betty, die ihr eigenes und Hannes’ Getränk in der Hand hielt und abwechselnd an beiden Strohhalmen zog.

»Hast du das gewusst?«, keuchte ich und zeigte auf die Tanzfläche, wo Ramon und Marco vergessen zu haben schienen, dass sie nicht allein waren auf dieser Welt. Oder dieser Party. Und da rief auch schon jemand »Get a room!«, aber die beiden machten keine Anstalten, sich ein Zimmer zu suchen. Leidenschaft lässt sich eben einfach nicht aufschieben. »Hast du das gewusst?!«, fragte ich Betty noch einmal, dieses Mal mit mehr Nachdruck.

Sie zuckte mit den Schultern. »Was gibt es denn da zu wissen? Kann doch jeder machen, worauf er Bock hat, oder nicht? Oder was?«

Und das nicht nur im Urlaub, jaja, schon klar. Ganz meine Meinung, Marco und Ramon konnten eng tanzen und herumknutschen mit wem auch immer sie wollten, von mir aus auch gern miteinander. Aber darum ging es nicht. Ich wendete mich kopfschüttelnd Betty zu. »Mann, ich hab versucht, dich mit Marco zu verkuppeln! Wenn du gewusst hast, dass er eigentlich auf Jungs steht, warum hast du nichts gesagt?«

Sie grinste. »Ich hab gedacht, du kommst selbst drauf. Außerdem ist das doch eh seine Sache, es dir zu erzählen, oder nicht? Geht mich doch nichts an.«

Erschöpft atmete ich aus. Mir war zum Heulen. »Das ist so peinlich …«

»Ach, Schätzelein, jetzt beruhig dich mal wieder. Ist doch alles tippitoppi. Der Marco hat endlich jemanden zum Knutschen, Hannes und Lucy spielen am Strand Fangen …«

Ich sah sie fassungslos an. Das konnte nicht ihr Ernst sein. »Lucy ist am Ende, Betty!«

»Genau richtig, um sie wieder in Hannes’ Arme zu treiben.«

Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht, und plötzlich erkannte ich eine Seite an Betty, die mir vorher nie aufgefallen war. Ich war mir nicht sicher, ob sie schon immer da gewesen war. Und ich war mir außerdem nicht sicher, ob sie mir gefiel. Wohl eher nicht. »Du steckst hinter all dem.«

»Was meinst du mit stecken?«

»Du hast Lucy mit Absicht nichts von Marco und Ramon gesagt. Obwohl du gemerkt hast, dass sie sich Hoffnungen gemacht hat, und wusstest, dass er gar kein Interesse an ihr hat. Sondern an Marco.«

Betty hob abwehrend die Hände. »Um das mal klarzustellen: Ich wusste nicht, dass Ramon es auf unseren süßen Marco abgesehen hat. Ich wusste nur, dass es umgekehrt so ist. Und dass er nichts von Lucy wollte, war ja ziemlich deutlich zu sehen.« Ich erinnerte mich an den kurzen Moment auf dem Hof der Werkstatt am frühen Abend, als Ramon Lucys Annäherungsversuche komplett ignoriert hatte. Was Betty sagte, stimmte. »Ich dachte ja eigentlich, dass er über sie an Ana herankommen wollte, aber so ist es noch viel besser.« Sie lachte amüsiert und trank einen der beiden Drinks mit einem Schluck aus.

»Du bist fies.«

»Jetzt tu doch nicht so, als hätte ich absichtlich etwas dafür getan, dass es so kommt, wie es gekommen ist. Ich hab einfach nur die Klappe gehalten. Das ist alles.«

»Ja.« Ich nickte gereizt. »Stimmt. Das ist alles. Die Klappe gehalten. So wie du mir auch nichts davon erzählt hast, dass Richard nach Lagos unterwegs ist.« Sie erwiderte nichts. Sie stellte nur das leere Glas hinter sich auf die Bar, wo es sofort weggeräumt wurde. Ich spürte die Wut in mir hochsteigen. »Er hat mich mit Felix auf der Straße erwischt, Betty. Ist es das, was du wolltest? Wolltest du alles kaputt machen?«

Sie fuhr herum, sah aber weder wütend noch gereizt aus, sie lächelte bloß nachsichtig. »Schätzelein, ich kann verstehen, dass du gern jemand anderem die Schuld für die Bredouille geben willst, in der du jetzt steckst. Aber wenn du ganz ehrlich zu dir selbst bist, siehst du sicher ein, dass, wenn überhaupt, nur eine von uns beiden hier etwas kaputt gemacht hat. Und das bist du. Erst verbringst du Wochen damit, dich selbst davon zu überzeugen, dass Richard nicht zu dir passt, und dann fängst du etwas mit deinem komischen geistig klobigen Exfreund an.« Sie hob hilflos die Schultern. »Was hab ich damit zu tun? Ich hab dich ja sogar noch gewarnt, falls du dich erinnerst. Und dann habe ich mich, wie versprochen, aus der Sache rausgehalten.«

Verbissen auf der Suche nach einem Gegenargument knabberte ich an meiner Unterlippe, aber es gab keins. Ich wusste, dass sie recht hatte. Die ganze Misere war zuallererst meine Schuld. Ich hatte gewusst, dass es falsch war, mich auf Felix einzulassen, und ich hatte es trotzdem getan. Wie hatte Marco so schön gesagt? Einer kapiert’s eben nie. »Ich hab mich nur mit ihm getroffen, um ihm zu sagen, dass ich ihn nicht mehr sehen will.«

»Okay. Das kannst du ja Richard erzählen, nech?« Sie drehte sich wieder zur Tanzfläche um, schlürfte an ihrem Drink und wippte im Takt.

»Wo ist er denn?«

»Da wo sich alle Dramen heute Abend zutragen. Am Strand.«

Ich überblickte suchend das dunkle Areal unterhalb der Terrasse. Die Felsen hoben sich schwarz gegen den Nachthimmel ab, und vereinzelt konnte ich Gestalten erkennen, die sich im Mondschein über den Sand bewegten. Einer von ihnen war mein Freund. Wenn er noch mein Freund war.

»Weißt du, wie Ana unsere Gruppe inzwischen nennt?«, unterbrach Betty meine Gedanken.

»Nein. Wie denn?«

»Club Remédio Santo. Passt ganz gut, finde ich.«

»Das ist ja schrecklich!«

Mit einem letzten, strammen Zug leerte Betty auch das zweite Glas und drückte es mir in die Hand. »So. Ich geh jetzt tanzen. Vielleicht find ich ja doch noch irgendwo einen heißen Boy. Einen, der Mädchen mag.«

Mit einem Augenzwinkern ließ sie mich stehen und verschwand in der wogenden Menge. Ich sah ihr nach, stellte das Glas auf der Balustrade ab und machte mich auf den Weg zum Meer, um irgendwo in der Dunkelheit meinen Freund zu finden.

Ich fand ihn etwas abseits von den anderen Strandbesuchern, weit vorn am Wasser. Richard lag mit angewinkelten Beinen im Sand, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und schaute in den Sternenhimmel. Als ich näher kam, drehte er sich kurz zur Seite, um zu sehen, wer das war, dann nahm er wieder seine Ausgangsposition ein. Der Mond war wohl ein angenehmerer Anblick für ihn als ich.

Vorsichtig setzte ich mich neben ihn, umschlang meine Knie, grub meine Füße in den feuchten Sand und wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Wellen glitzerten in der Nacht, als wäre irgendwo vor der Küste ein Frachter mit Feenstaub an Bord havariert. Von weit weg wehten Partymusik und Gelächter zu uns her, aber die Ausgelassenheit und der Spaß am anderen Ende des Strandes hatten nichts mit uns zu tun. Schade eigentlich. Es hätte auch alles anders kommen können.

»Es tut mir alles so leid …«, begann ich, weil das für den Moment das Einzige war, das ich wirklich wusste. Aber dann fielen mir die Dinge ein, die Richard getan hatte, über die ich mich geärgert hatte, und die mir nach und nach das Gefühl gegeben hatten, unsere Beziehung sei für ihn zu etwas Selbstverständlichem geworden. So wie es selbstverständlich war, dass Wasser aus dem Hahn kam, wenn man ihn aufdrehte. Meine Enttäuschung darüber tat mir nicht leid. Sie hatte mich überhaupt erst an den Punkt gebracht, an dem ich mich auf Felix einlassen konnte. Und nur die Dinge, die ab diesem Punkt geschehen waren, bereute ich zutiefst. Um das, was mir leid tat, zu präzisieren, und weil Richard keine Anstalten machte, etwas zu sagen, schob ich hinterher: »Das mit Felix, das tut mir leid. Ich wünschte, ich hätte ihn nicht getroffen.«

»Dann hättest du jemand anders getroffen«, murmelte Richard, kaum hörbar. »Das macht doch keinen Unterschied.«

»Es ist ja nicht so, als hätte ich es darauf angelegt.« Ich merkte, wie sich in mir etwas erhärtete, wie sich die altbekannte Frustration in mir breitmachte. Wir würden unsere Probleme niemals lösen, wenn Richard es sich in der Rolle des Opferlamms bequem machte: der arme Richard, der von der bösen Daphne hintergangen worden war. Der arme Richard, dessen Liebe der bösen Daphne nicht reichte, nein, sie wollte außerdem auch noch Aufmerksamkeit. Felix war ein Spacken, das stand gar nicht zur Diskussion. Aber es war etwas Wahres an dem gewesen, was er gesagt hatte: Richard hatte zwar keine andere gehabt, aber er hatte mir das Gefühl gegeben, verlassen zu sein. Er war also nicht unschuldig. So wenig wie ich. »Wir haben beide Mist gebaut.«

Er drehte mir den Kopf zu und sah mich lange einfach nur an. Es lag nicht nur an den schlechten Lichtverhältnissen, dass ich von seinem Gesicht nicht ablesen konnte, was in ihm vorging. Es lag auch daran, dass er es mir nicht zeigen wollte. »Dann sag doch mal, Daphne: Mit wem habe ich dich denn betrogen?«

»Mit dir selbst«, sagte ich. Und dann sagte ich nichts mehr und ließ nur noch die Welle der Klarheit über mich waschen, auf die ich so lange gewartet hatte. Sie hatte nichts von der Erleichterung, die ich mir gewünscht hatte.

Richard antwortete lange nicht. Er richtete sich bloß auf und saß schweigend neben mir am Strand. »Was ist mit Lucy und Hannes?«, fragte er irgendwann, aber das war nicht der Moment für einen Themenwechsel und ein Gespräch über die Belange unserer Freunde. Das war in der letzten Zeit zwar unsere Ablenkungsstrategie gewesen, aber damit war jetzt Schluss. Jetzt ging es um uns. Also zuckte ich lediglich mit den Schultern und blieb still. Er atmete aus, und es klang final. »Ich will nicht hierbleiben.«

»Am Strand?«

»In Portugal. Ich flieg morgen wieder zurück.«

Ich nickte. »Ich komm mit.« Diese Entscheidung hatte nichts damit zu tun, dass ich jetzt bei Richard sein wollte. Was ihn betraf, fühlte ich mich im Augenblick in erster Linie taub und müde. Aber der Urlaub war für mich an diesem Abend zu Ende gegangen.

Ich weiß nicht, wie lange wir noch nebeneinander dasaßen und ob es ein gutes Zeichen war, dass wir zusammenblieben, obwohl wir uns nichts zu sagen hatten. Irgendwann wurde uns kalt, und wir standen wortlos auf. Und das war es dann.

Nach einer kurzen Nacht, die ich in Skys Bus verbracht hatte und Richard auf einem Klappstuhl davor, weil er nachdenken musste, wachte ich im Morgengrauen auf und stellte fest, dass Betty nicht von der Party zurückgekommen war. Das überraschte mich nicht. Wahrscheinlich saß sie mit ein paar neuen Freunden am Strand. Oder sie hatte doch noch ihren heißen Boy gefunden. Irgendwie machte mich der Gedanke froh, dass ich diesen Urlaub mit Betty unternommen hatte, die ich jetzt schon seit mehr als zehn Jahren kannte, trotz ihrer durch Max komplett veränderten Lebensumstände und trotz der Verantwortung für ihn, die sie sehr ernst nahm. Diese Betty war wild und frei und abenteuerlustig. Das war beruhigend und irgendwie auch tröstend. Etwas, auf das ich mich verlassen konnte, wenn mir sonst schon alle Felle davonschwammen.

Ich begann, meine Sachen zusammenzusammeln und so sinnvoll wie möglich in dem Koffer zu verstauen. Sollte ich etwas vergessen, würde es mir mit Betty und dem reparierten Bus ein paar Tage später nach Hamburg folgen, weswegen ich beschloss, nicht jeden Winkel abzusuchen, in dem sich vielleicht noch ein Bikini-Oberteil versteckt haben könnte. Dort, wo ich jetzt hinging, brauchte ich sowieso keinen Bikini. Nur starke Nerven.

Ich zog die Schiebetür des Busses ein letztes Mal mit einem Ruck auf und fand mich allein auf dem Hof der Werkstatt. Der Wind scheuchte raschelnd ein paar Blätter über den Boden, abgesehen davon war die Welt still. Richard saß nicht mehr auf dem Stuhl vor dem Bus, und der Himmel war wolkenverhangen. Das erstaunte mich, andererseits musste es natürlich auch in Portugal mal schlechtes Wetter geben. Kein Ort war nur sonnig. Kein Ort, kein Mensch, kein Leben und auch keine Liebe. Ich zog die Tür hinter mir zu, schob den Koffer unter den Bus und überquerte den sandigen Platz, verließ ihn durch die Toreinfahrt und spazierte die Mauer entlang zu Marcos Van. Davor saßen er, Ramon und Richard und tranken Kaffee. Drei Männer, drei Frauen. In einer anderen Welt hätte das die Grundlage für einen Eins-A-Pärchenurlaub bilden können. Aber unsere Geschichte war der beste Beweis dafür, dass das Leben gar nicht daran dachte, sich den Regeln der Mathematik zu unterwerfen. Was für mich keinen Unterschied machte. Da ich ein absoluter Idiot war, wenn es um Zahlen ging, wäre ich ganz sicher auch dann komplett verwirrt vom Leben, wenn man es mit simplen Formeln berechnen könnte. Ich würde genauso versagen wie jetzt.

Marco sah mich zuerst und winkte mir von Weitem zu. Mit der linken Hand. Die rechte ruhte auf Ramons Oberschenkel. Der wiederum hatte einen Arm um die schwer auszumachende Taille unseres langhaarigen Reisebegleiters gelegt. Ein seltsames Paar, dachte ich, aber ein Beleg für eine der wenigen Lebensformeln, die es wirklich und wahrhaftig zu geben schien: Gegensätze zieh’n sich an. Und ergaben am Ende ein doch überraschend harmonisches Bild.

Ich ging die letzten Schritte auf den Van zu, begrüßte die Jungs mit einem Nicken und einem »Hallo« und stand neben Richard, der auf dem staubigen Boden saß. Ich wusste nicht, was ich mit ihm machen sollte. Wir hatten uns noch immer nicht wirklich berührt. Es hatte keine Umarmung gegeben, kein Streicheln, keinen Kuss. Ich fühlte Marcos Blick auf mir und den Druck, mit einer Geste der Vertrautheit zumindest den Anschein zu erwecken, dass zwischen mir und Richard noch nicht alles vorbei war.

Unbeholfen tätschelte ich seinen Kopf und sagte: »Na?«. Warum tat ich das? Es fühlte sich albern an.

Richard ging es offensichtlich nicht anders. Er sah zu mir hoch mit einem Gesicht, das deutlich ausdrückte, wie fragwürdig und unnötig er meine kleine Demonstration fand. Sehr fragwürdig und unnötig nämlich. Und er hatte ja recht. Eigentlich hatte sie nur noch deutlicher gemacht, dass wir beide komplett hilflos waren.

Das hatte auch Marco gemerkt. Er räusperte sich und klopfte Ramon liebevoll zweimal aufs Bein, bevor er aufstand und sagte: »Schade, dass ihr heute schon abreist. Das wäre bestimmt noch lustig geworden mit uns allen hier in Lagos.« Lustig? Das glaubte er ja wohl selbst nicht. »Seid ihr sicher, dass ihr nicht vielleicht noch ein paar Tage …?«

»Ja«, antworteten Richard und ich gleichzeitig.

Marco warf mir einen resignierten Blick zu. »War ja nur eine Frage.«

»Ich weiß«, sagte ich.

»Ich fahre euch gleich nach Faro zum Flughafen.«

»Danke«, sagte Richard.

»Tja!« Marco klatschte in die Hände. Dann wäre das ja jetzt auch geklärt. »Kaffee?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ja! Hier! Ich!« Betty kam barfuß die Straße entlanggetrottet. Ihre Sandalen hatte sie offensichtlich irgendwo verloren, denn sie trug sie nicht bei sich. Dafür hatte sie einen Kapuzenpullover an, den ich noch nie vorher an ihr gesehen hatte. Rot und mindestens drei Nummern zu groß für ihren schlanken Körper. Sie rief noch einmal entkräftet »Kaffee!«, bevor sie sich in den Staub neben Richard fallen ließ. Ihre Wimperntusche war verlaufen und hatte zwei kleine Halbmonde links und rechts unter ihren Augen gebildet.

»Heißer Boy?«, fragte ich sie.

Zur Antwort hielt sie eine Hand hoch, Daumen und Zeigefinger einen Kreis bildend. »Lucinda muss sich warm anziehen. Ich hole auf!«

Daran, dass er die Stirn runzelte, erkannte ich, dass Richard über die Bedeutung dieser Aussage nachdachte. Um das zu unterbinden, fragte ich schnell: »Hat die einer von euch gestern eigentlich noch gesehen?«

»Meinst du, bevor oder nachdem sie mit Hannes im Schlepptau in der Nacht verschwunden ist?«

»Danach, Betty.«

»Nö.«

»Hannes hat mir eine SMS geschickt.« Richard zog sein Handy aus der Tasche, wie um zu beweisen, dass er über die technischen Möglichkeiten verfügte, SMS zu empfangen. »Er schreibt, dass alles okay ist. Er hat mit Lucy im Hotel übernachtet.«

Betty und Marco ließen gleichzeitig ein vielsagendes »Oooh!« verlauten.

Ich musste entgegen allen unglücklichen Umständen lächeln. »Mir egal, was ihr sagt. Ihr beide passt einfach viel zu gut zueinander. Wie hätte ich da nicht versuchen sollen, euch zu verkuppeln?«

»Mach dir nichts draus.« Marcos große Hand klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. »Man kann ja auf unterschiedlichen Ebenen gut zusammenpassen.«

Betty nickte. »Wohl wahr.«

»Aber es gab so viele Anzeichen! Wie du zum Beispiel für Betty diesen Striptease auf dem Berg der Wunder hingelegt hast …«

Marco sah Betty fragend an, und sie rollte mit den Augen, um deutlich zu machen, dass ich komplett übertrieb. »Als du dein T-Shirt ausgezogen hast, meint sie.«

»Ei, mir war halt heiß!«

»Und als du an Bettys Po gesaugt hast?«

»Am Po gesaugt?!« Jetzt war auch Richard aufmerksam geworden. Und Ramon. Der zum Glück kaum etwas von dem verstand, worüber wir redeten. Trotzdem legte Marco ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter und erklärte an Richard gewandt: »Betty hat sich auf eine Wespe gesetzt …«

»Ich Trottel!«, warf diese ein.

»… und ich hab das Gift rausgesaugt. So macht man das nun mal.«

Richard spitzte anteilnehmend die Lippen.

»Und als du dir dann an der Raststätte in Spanien das Foto von Max angeguckt hast und sagtest, du fändest ihn süß, dachte ich, das ist perfekt, du magst sogar Bettys Kind und …«

»Ja, Max ist niedlich. Aber eigentlich meinte ich Mo.«

»Mo?!«

Ein verlegenes Lächeln machte sich auf Marcos rundem Gesicht breit. »Der ist schon süß.«

»Kann ich nur bestätigen.« Mit einem Seufzer, der vermuten ließ, dass sie auch so etwas wie Sehnsucht in sich trug, streckte Betty alle viere von sich und blieb flach auf dem Rücken liegen. »Und was ist nun mit meinem Kaffee?«, quengelte sie.

»Kommt.« Marco nickte pflichtbewusst und stieg in den Van. »Und danach müssen wir los, wenn ihr euren Flieger nicht verpassen wollt«, rief er über das Klappern von Löffeln, Tassen, Espressokanne und Kaffeedose hinweg.

Ich warf Betty einen verstohlenen Blick zu.

»Flieger?« Sie richtete sich auf und sah mich fragend an.

»Richard und ich reisen ab. Jetzt gleich.« Ich wartete auf ihre Reaktion. Aber es kam keine. »Tut mir leid. Aber … na ja …«

»Kein Ding, Schätzelein. Ist ja schließlich Urlaub. Da kann jeder machen, was er will.« Ihr Blick war aufrichtig. Mehr noch. Sie ersparte mir nicht nur jegliche Vorwürfe, die sich an dieser Stelle anboten. Da war außerdem noch das Versprechen, dass sie für mich da sein würde, egal was als Nächstes kam. »Nützt ja nix«, sagte sie. Und damit war die Sache für sie erledigt.

Die Wolken im Süden rissen auf, und der blaue Himmel, an den wir uns in den letzten Wochen so sehr gewöhnt hatten, kam doch noch zum Vorschein. Ein bisschen so, als wollte er einen letzten Versuch starten, Richard und mich zum Bleiben zu überreden. Aber unser Entschluss stand fest. Was es jetzt zu erledigen galt, konnte nur in Hamburg getan werden. Wir schafften es nicht mehr, uns von Hannes und Lucy zu verabschieden, aber wir würden sie in ein paar Tagen zu Hause wiedersehen und gingen davon aus, dass sie ohnehin zu beschäftigt damit waren, sich zu versöhnen, als dass ihnen überhaupt auffallen würde, dass wir nicht mehr da waren.

Neben uns zog die karge Landschaft am Rand der Autobahn vorbei. Ab und zu zeigte sich auch noch das Meer, aber nur für kurze Momente. Wenn Betty und ich uns entschlossen hätten, einen Urlaub im Robinson Club zu buchen, hätte ich mit großer Sicherheit mehr davon zu sehen bekommen. Mehr Meer, mehr Sonnenbaden, mehr Ruhe, mehr Entspannung. Aber auch mehr Zeit, um mich wegen der Probleme zwischen Richard und mir wahnsinnig zu machen. Und wir hätten ganz bestimmt weniger erlebt. Lucy wäre vielleicht gar nicht mitgekommen, wir hätten ihre Eltern nicht kennengelernt, Karol und Viktor wären uns nicht über den Weg gelaufen. Wir hätten nicht auf einem französischem Parkplatz einen Fisch gegrillt und vor der Gendarmerie fliehen müssen. Wir hätten nicht den Sonnenuntergang an der Dune du Pyla gesehen, ich hätte nicht dieses Gespräch mit Lucy auf einer Mauer in Biarritz geführt, das mir geholfen hatte, sie besser kennenzulernen und zu verstehen als in all den Jahren zuvor. Wir hätten Marco und Ana nicht getroffen, hätten keine neuen Freunde gefunden. Wir hätten den seltsamen Tag auf dem Berg der Wunder nicht erlebt, nicht eine Nacht mit Jesus verbracht und wüssten jetzt nicht, wie ein Lissaboner Waschsalon von innen aussieht und was man gegen Flohbefall und Wespenstiche unternehmen kann. Betty und ich hätten uns vielleicht weniger gestritten, aber auch nicht so oft vertragen und festgestellt, wie stark unsere Freundschaft wirklich war.

Aber, sagte eine Stimme in meinem Kopf, dir wäre auch nicht Felix über den Weg gelaufen und hätte die Beziehung zwischen dir und Richard noch mehr erschüttert, die Risse noch breiter gemacht. Vielleicht. Aber es bestand nach wie vor die Möglichkeit, dass auch diese Begegnung in gewisser Weise gut gewesen war. Je länger ich darüber nachdachte, desto überzeugter war ich davon, dass das Treffen mit Felix kein Fehler, sondern eine Lektion gewesen war. Und sobald ich sie verstand, würde ich die Antwort darauf haben, ob Richard der Richtige für mich war. Oder nicht.

Wie hatte Oma Mathilde immer so schön gesagt? Was uns nicht umbringt, macht uns stark. In diesem Satz steckte mehr Wahres, als man im ersten Moment dachte. Denn wie kompliziert es war, eine Beziehung überhaupt erst mal zu beginnen, das wusste ich nur zu gut. Und ich dachte immer, das wäre der schwierige Teil. Aber ich musste erkennen, dass es im Laufe der Zeit immer härter wurde. Dass man irgendwann auch mal kämpfen musste, einstecken oder austeilen, zurücktreten oder fordern – davon hatte ich keine Ahnung gehabt. Jetzt wusste ich es besser.

Der Van hielt im Bereich für Kurzparker vor dem Flughafen. Wir stiegen alle aus und umarmten einander. Das war also das Ende der Reise. Ich spürte einen Stich des Bedauerns, dann machte sich Traurigkeit in mir breit. Es war trotz allem ein unvergesslicher Urlaub gewesen. Nicht im Entferntesten das, was ich mir vorgestellt hatte, aber zur Hölle mit meinen blöden Vorstellungen. Wahrscheinlich war diese Reise gerade deswegen so besonders, weil wir uns immer wieder in Situationen wiederfanden, die ich mir niemals so vorgestellt hätte.

Wer wusste schon, wann und ob es noch einmal so eine Zeit geben würde?

»Machen wir nächstes Jahr wieder, nä, Schätzelein!«, verkündete Betty und drückte mir einen dicken Kuss auf den Mund.

Damit war diese Sorge also aus der Welt.

Ich zog sie an mich und umarmte sie. »Danke.«

»Schnickschnack. Ich liebe dich«, flüsterte sie.

»Ich dich auch.«

Marco klopfte mir noch ein letztes Mal mit voller Wucht auf den Rücken. »Also dann!«

Mir wurde bewusst, dass ich ihn, im Gegensatz zu den anderen, die mir bald nach Hamburg folgen würden, so schnell nicht wiedersehen würde. »Du wirst mir so fehlen!« Ich warf mich ihm mit meinem ganzen Gewicht an den Hals und drückte ihn, bis er es schaffte, sich aus meiner Umarmung herauszuwinden. »Jetzt mach mal halblang, Mädsche. Ich hab einen Van. Ich bin frei. Ich komm euch im Herbst besuchen. Kein Grund, jetzt zu flennen.«

Ich tat es aber trotzdem.

»Ihr verpasst euren Flug«, erinnerte uns Betty und zuckte gleichgültig mit der Schulter. »Also von mir aus könnt ihr ruhig, aber ihr wollt das ja nicht, von daher …«

Zittrig und komplett überwältigt von meinen Abschiedsemotionen wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und wollte meinen Koffer vom Boden aufheben, aber Richard war mir schon zuvorgekommen und bereits zwei Schritte weiter auf das Flughafengebäude zugegangen, wo er stehen geblieben war und auf mich wartete. Ich lief ihm hinterher, drehte mich im Laufen noch einmal um, warf den drei winkenden Menschen vor dem braunbeigefarbenen Van eine Reihe von Luftküssen zu und stolperte dabei fast über eine Bordsteinkante, die ich übersehen hatte. Ein überraschter, kleiner Schrei entfuhr mir.

Richard schaffte es gerade noch mit seiner freien Hand, nach meinem Arm zu greifen und einen Sturz zu verhindern. »Du musst besser aufpassen, wohin du gehst«, sagte er sanft, und seine Hand wanderte meinen Arm hinab zu meiner und hielt sie fest. Und während ich noch mit meiner Verwirrung kämpfte, mich fragte, was das um alles in der Welt zu bedeuten hatte, dass Richard plötzlich mit mir Händchen halten wollte, traten wir durch die Türen des Terminals und wurden eins mit den Touristenmassen. Aber auch dann ließ er mich nicht los. Es war das schönste Händchenhalten seit Monaten.

Unsere vorübergehende Verbindung aus Fingern und Handflächen hielt selbstverständlich nicht ewig. Spätestens beim Security-Check hätten wir uns trennen müssen, aber es passierte schon früher: Richard musste mal. Er ließ mich allein vor einem tristen Flughafenbistro sitzen, in dem es Sandwiches für neun Euro gab. Obwohl in dem Flughafengebäude dieselbe Temperatur herrschte wie draußen vor der Tür, fröstelte ich ein wenig. Vermutlich die Anspannung. Ich spürte Richards Hand noch in meiner. Wie eine Postkarte aus einer besseren Zeit. Wie ein Seufzer, warm und weich. Ich hätte ewig Hand in Hand mit ihm weitergehen können, aber jetzt hatte er mich losgelassen, und ich war seltsam traurig.

»Hier!« Jemand hielt mir ein kleines Paket vor die Nase. Glänzende Alufolie. Ich sah eine haarige Hand, die das Päckchen hielt, mein Blick wanderte einen braun gebrannten Arm hinauf, dann begann der Ärmel eines gestreiften Hemdes, ein steifer Kragen, ein kurzer Hals, Bartstoppeln, Schnauzbart, ein rundes Gesicht. Der höfliche Türke.

»Hallo? Hier!« Er wedelte mit der Alufolie vor meinem Gesicht herum, als müsse er mich aus einer Trance erwecken. Was ja im Grunde auch der Fall war. »Besser als Neun-Euro-Sandwich. Sogar umsonst.«

»Was machen Sie hier?«, fragte ich ihn verwirrt und griff nach dem Päckchen.

Nicht weniger verwirrt runzelte er die Stirn. »Ich nehme ein Flugzeug?«

»Aha.«

»Urlaub zu Ende.«

»Ja«, sagte ich und nickte. »Meiner auch.« Ich begann, die Folie aufzureißen. Der starke, würzige Geruch von Knoblauch schlug mir entgegen.

»Fladenbrot und darauf Schafskäse-Knoblauch-Paste, getrocknete Tomaten, eingelegte Zucchini und Knoblaucholiven. Köstlich!« Er rieb sich grinsend den Bauch, bevor er mit einem abfälligen Ausdruck im Gesicht auf den Sandwichladen deutete. »Der da: viel zu teuer. Nicht gehaltvoll.«

»Ich wollte mir eigentlich gar kein Sandwich kaufen …«

»Macht nix. Appetit kommt beim Essen. Meine Frau hat zwölf Stück gemacht. Das ist Kinderportion.« Das Paket war nur ein wenig kleiner als mein Kopf. Der höfliche Türke hob die Schultern. »Was will machen? Sie sorgt gut für uns.«

Ich blickte über seine Schulter und sah seine Frau und die drei Kinder – ein Sohn an der Schwelle zur Pubertät und zwei niedliche kleine Mädchen – auf einer Bank sitzen. Sie alle aßen in stiller Eintracht Fladenbrote mit Knoblauchspezialitäten darauf und sahen gut erholt, zufrieden und glücklich aus. Plötzlich erfüllte mich eine unendliche Sehnsucht. Nach dem, was der höfliche Türke hatte. Und damit waren nicht die türkischen Sandwiches gemeint. Davon hatte ich ja schon eins. Richard tauchte in meinem Sichtfeld auf. Gedankenverloren betrachtete er im Gehen den Boden und strich sich wieder und wieder eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Und plötzlich stellte ich die Verbindung her. Auf einmal war die Erkenntnis da. Aus heiterem Himmel kam mir in den Kopf, dass ich, wenn ich Richard ansah, dasselbe Gefühl hatte, das sich in mir breitmachte, wenn ich die Familie des höflichen Türken betrachtete. Geborgenheit oder zumindest ein Versprechen davon. Versprechen sind für Idioten, meldete sich die Stimme in meinem Kopf.

»Halt die Klappe«, antwortete ich.

Der höfliche Türke sah mich erschrocken an »Klappe? Wie?!«

»Ich meinte nicht Sie.«

Was auch immer in den letzten Wochen oder Monaten vorgefallen war, Fakt war, dass Richard mir ein Gefühl gab, das ich so von keinem der anderen kannte, die einmal seinen Platz eingenommen hatten. Er war meine Familie. Und deswegen sagte ich mir: Vergiss die Schmetterlinge. Das hier ist eine Stufe weiter. Das ist unumstößliche Liebe. Dahin musste man erst einmal kommen. Das musste man erst einmal ertragen lernen.

Das musste man erst einmal kapieren.