9

Der Teil mit dem guten Grund

BETTYS MIXTAPE

Violent Femmes – Gone Daddy Gone

Als Richard mir vor anderthalb Jahren den Vorschlag machte, zusammenzuziehen, war mein erstes Gefühl die pure Panik. Ich dachte an Flucht, lachte aber nur hysterisch. Es ist schon seltsam, wie ich mich in stundenlangen Tagträumen über Heiratsanträge und gemeinsame Babys ergehen konnte, aber als es um diesen ersten Schritt ging, dass wir uns zusammen ein Zuhause aufbauten, war ich plötzlich starr vor Furcht. Vielleicht war es einfach sicherer, sich die anderen enormen Meilensteine in ihrer ganzen süßen Verklärtheit vorzustellen, wenn die erste Hürde dahin noch gar nicht überwunden war und sie somit vollkommen harmlos und perfekt in der weit entfernten Zukunft existieren konnten. Vielleicht hatte ich Angst, dass ich mich mit Richard nicht auf Wandfarben, Möbel und Bettwäsche würde einigen können. Vielleicht misstraute ich Männern prinzipiell. Und zwar aus gutem Grund. Schließlich hatten die sich bisher früher oder später immer schlecht benommen. Außerdem mochte ich meine Wohnung, die Sicherheit, dass wenigstens sie immer da sein würde, auch wenn die Männer kamen und gingen. Denn das war ein Versprechen, das selbst Richard mir nicht geben konnte: dass er immer da sein würde. Selbst wenn er es jemals gesagt hätte – »Baby, ich werde immer für dich da sein« –, war ich doch inzwischen alt und erfahren genug, kein Wort davon zu glauben. Natürlich, es wäre keine absichtliche Lüge gewesen. Gut möglich, dass er es selbst glaubte. Oder mir einfach nur einen Gefallen tun wollte, indem er solche Dinge sagte. Damit ich mich besser fühlte. Aber ich wusste: Wer einem Mann so einen Satz abnahm und ihn am Ende vielleicht auch noch darauf festnagelte, der gab auch einer Frau namens Madame Elvira, die in einem Holzwagen auf dem Jahrmarkt wohnte, die Hälfte seines Einkommens, damit sie so tat, als würde sie die Zukunft in einer ausrangierten IKEA-Lampe lesen. Wer so etwas tat, war ein Idiot. Und ich war kein Idiot. Ich war stocksteif vor Angst.

»Soll das ein Witz sein?!«, fragte ich ihn entsetzt.

»Ich dachte, du freust dich.« Richard war sichtlich enttäuscht über meine Reaktion. Er legte seine Gabel mit dem Currywurststückchen am Rand seines Tellers ab.

Er hatte mir den Zusammenzieh-Vorschlag in der Kleinen Pause gemacht, unserem Stammimbiss. Seinem Gesicht nach zu urteilen, war er fest davon ausgegangen, dass ich begeistert »Ja!« schreien und ihm vor Rührung lachend oder weinend um den Hals fallen würde, wie es die Frauen im Fernsehen immer taten, wenn ihre Männer ihnen mit einer romantischen Überraschung im Supermarkt (oder im Affenhaus, je nach Situation und Beziehung) ihre Liebe beweisen wollten. Ich hingegen kämpfte gegen eine aufsteigende Übelkeit an und stellte mir vor, wie mein Freund und ich unglücklich in unserer Wohnung saßen, uns nichts mehr zu sagen hatten und uns nach drei Wochen trennten. Wenn jetzt die Tränen kamen, dann nicht vor Rührung, so viel stand fest.

»Ich freu mich ja«, sagte ich tonlos und überhaupt nicht erfreut.

»Als du dich das letzte Mal gefreut hast, sah das irgendwie anders aus.«

»Jaaa …«, machte ich gedehnt, um Zeit zu gewinnen, und überlegte, wie ich am besten aus der Nummer rauskam, ohne meinen Freund vor den Kopf zu stoßen oder den größten Fehler meines Lebens zu begehen – was auch gut und gern dasselbe sein konnte.

Ich war verwirrt und nahm einen Schluck Capri-Sonne. »Das kommt mir jetzt irgendwie vor wie ein Heiratsantrag.« Der in meiner Vorstellung immer weitaus eindrucksvoller abgelaufen war. Und nie in der Kleinen Pause. »Das ist so groß. Alles.«

»Aber ich will dich nicht heiraten. Also …« Richard lachte unsicher. »… jedenfalls noch nicht.«

»Ob wir jetzt zusammenziehen und heiraten oder nur zusammenziehen, das läuft doch aufs Gleiche hinaus.«

»Erst willst du keine gemeinsame Wohnung, und jetzt soll ich dich gleich heiraten?«

»Nein, sollst du nicht. Und ich habe auch gar nicht gesagt, dass ich keine gemeinsame Wohnung will. Ich bin einfach nur nicht vor Begeisterung in die Luft gesprungen. Was ist so schlimm daran?« Der Versuch, dieser Situation zu entkommen, ging nur sehr schleppend voran. Es war zum Verzweifeln.

»Komm, Daphne, das merkt doch ein Idiot, dass du nicht willst. Sonst hättest du doch sofort ›Ja!‹ geschrien und wärst mir um den Hals gefallen und hättest gelacht oder geheult oder so.«

Wie ich es mir gedacht hatte. »Du guckst schon ziemlich viel Fernsehen, oder?«

»Wie kommst du denn jetzt darauf?«

Ich winkte ab. »Na, vielleicht muss man ja auch erst mal darüber nachdenken, wenn man mit so was nicht gerechnet hat und noch nie mit jemandem zusammengewohnt hat und wenn man findet, dass es ein großer Schritt ist.«

Richard grinste. »Ist leichter, über solche Sachen in der dritten Person zu reden, was?«

Ich grinste zurück. »Auf jeden Fall.« Draußen begann es, zu regnen. Die Frau hinter dem Tresen kam an unseren Tisch und zündete eine Kerze an. So was gab es nicht oft in der Kleinen Pause, einem Ort, an dem schmutzabweisende Resopaltische und schlichte Barhocker das richtige Ambiente für Bundesliga-Live-Übertragungen bildeten. Eigentlich waren Kerzen unnötiger Schnickschnack, den niemand brauchte, der bloß sein halbes Hähnchen zum Mitnehmen abholen wollte. Aber heute gab es Kerzen. Vielleicht war es ein Zeichen.

»Wow, Kerzenlicht«, bemerkte auch mein Freund.

»Und was ist, wenn wir uns nicht verstehen?«, fuhr ich fort und ignorierte die romantische Beleuchtung. »Wenn wir nicht zusammenleben können, weil du immer die ganze Milch wegtrinkst und ich meine Haare überall verliere und du mitten in der Nacht Spiegeleier braten willst oder nie die Sofakissen aufschüttelst und ich immer die Stecker von allen Geräten rausziehe, weil ich Strom sparen will …«

»Du ziehst die Stecker immer raus?«

»Ja.«

»Das klingt schrecklich anstrengend.«

»Siehst du.« Ich verschränkte die Arme und sah der Kerze beim Flackern zu. »Und dann trennen wir uns, und ich sitze auf der Straße.«

Richard schob seine Hand über den Tisch und wühlte so lange in dem Armknoten herum, bis er eine Hand zu fassen bekam und herauszog. »Also erst mal: Wir werden immer genug Milch haben, das verspreche ich dir. Zweitens: Das mit den Steckern bekommen wir irgendwie in den Griff. Und alles andere auch. Weil ich das will, und wenn du auch willst, sind das die besten Voraussetzungen. Und schließlich: Hör auf, immer davon auszugehen, dass wir uns trennen. Ich will das nicht, und du willst das nicht. Solange wir das beide wollen, bleiben wir zusammen. Und falls uns die Steckersache doch drankriegt, darfst du die Wohnung behalten. Versprochen. Deal?«

Im Grunde hatte er also gesagt, dass er für immer bei mir bleiben würde, ein Versprechen, das, wie gesagt, niemand machen konnte, und dem nur Idioten auf den Leim gingen. Ich war kein Idiot, wie gesagt. Aber ich mochte das Gefühl, dass Richard mich so unbedingt bei sich haben wollte. Also drückte ich seine Hand, nickte und sagte: »Deal!«

»Hast du ihr gerade ’nen Heiratsantrag gemacht?«, rief die Frau mit der Bratschürze hinter der Theke Richard zu.

»Nicht ganz«, antwortete er.

»Dann kann ich die Musik ja wieder ausmachen.« Sie schüttelte genervt den Kopf, und erst da fiel mir auf, dass im Hintergrund nicht wie sonst die typischen Geräusche eines Fußballspiels den Imbiss erfüllten, sondern Leo Sayers Stimme, die »When I Need You« sang. Die Imbissfrau drückte einen Knopf an der Musikanlage, und alles, was jetzt noch zu hören war, war das Brutzeln der Pommes in der Fritteuse. »Und das mit der Kerze hätte ich mir auch sparen können.« Sie klang fast ein bisschen verärgert, stemmte die Fäuste in die Hüften und sah uns verbittert an. »Immer nur Fußball und Frikadellen. Nie mal ’n bisschen Romantik. Der Job hier ist wie mein Mann.«

»Vielleicht mach ich mit Richard Schluss.« Der Gedanke war mir plötzlich durch den Kopf geschossen, dann hatte ich ihn einfach ausgesprochen, und jetzt war ich fast ein wenig erschrocken über mich selbst. Und davon, wie fest meine Stimme geklungen hatte.

Links und rechts der Fahrbahn standen dicht an dicht Bäume und spendeten uns auf unserer Fahrt durch den südlichsten Zipfel Frankreichs Schatten. Hinten im Bus lagen Lucy und die Polen und schliefen. Wir hatten uns nicht die Mühe gemacht, das Matratzenlager wieder zu einer Sitzbank umzubauen, dazu waren wir alle zu verkatert gewesen. Mit Ausnahme von Lucy, die nicht trank und deswegen auch keinen Kater hatte, aber vom Weinen erschöpft war. Uns andere hatte es schwer erwischt. Ich trug heute, zum ersten Mal seit Reiseantritt, meine Sonnenbrille, und das nicht wegen des eher mittelmäßigen Sonnenscheins. Betty hatte die Musik leiser gestellt, um sich besser auf die Straße konzentrieren zu können.

»Was hast du gesagt?«, fragte sie und kniff die Augen zusammen. »Ich bin gerade Bus gefahren und konnte nicht zuhören.«

»Und wenn du mir jetzt zuhörst, kannst du dann noch Bus fahren?«

»Tja. Hinterher ist man immer schlauer, sag ich mal. Also raus damit, Schätzelein, was hast du gesagt?«

»Ich mach vielleicht mit Richard Schluss.« Es fiel mir auch dieses Mal nicht schwer, die Worte zu sagen.

Betty nickte. »Und aus welchem Grund? Also, jeder wie er will, Schätzelein, aber für mich klingt das nach einer echt bescheuerten Idee.«

»Na ja, ich hab nachgedacht. Darüber, wie das sonst so war mit mir und den …«

»Richard ist der Beste. Ich liebe Richard. Wenn es Mo nicht gäbe …« Sie warf mir einen Seitenblick zu. »Das wollte ich nur einwerfen, damit du es nicht vergisst. Bei jeder weiteren Entscheidung, die du diesbezüglich treffen willst, solltest du immer daran denken: Richard ist der Beste.«

»Danke Betty.«

»Keine Ursache.«

»Aber mal davon abgesehen, dass er der Beste ist, frage ich mich, ob er der Beste für mich ist.«

»Klar. Sonst wärt ihr ja nicht zusammen.« Sie blinkte, reihte sich auf der rechten Spur hinter einem LKW ein und sah sehr zufrieden mit dem Manöver aus. »Windschatten!«

Zur Abwechslung applaudierte ich ihr einmal nicht, sondern fuhr mit dem fort, was mir auf der Seele lag. Betty konnte das ab. »Nee, Betty, Paare sind immer nur so lang Paare, bis einer feststellt, dass er mit der falschen Person zusammen ist. Und bei mir lief dieses Paar-Ding bisher immer nach demselben Schema ab: Irgendwann stellt mein dann-noch-Freund fest, dass ich die falsche Frau für ihn bin, und bevor ich überhaupt kapiert habe, was los ist, ist er mein Exfreund. Mit mir wurde schon so oft Schluss gemacht, dass ich ganz vergessen habe, dass ich ja auch die Option habe, mich zu trennen.«

Auf Bettys Gesicht machte sich ein Ausdruck zwischen Skepsis und Kopfschmerz breit. »Und jetzt willst du mit Richard, der, wie wir wissen, der Beste ist, einfach mal so zum Spaß Schluss machen, weil dir aufgefallen ist, dass du es kannst?« Sie blies lautstark Luft zwischen ihren Lippen heraus. »Unfassbar.«

»Richard ist wunderbar …«

»Der Beste!«

»Wir haben so viele Probleme, von denen du gar nichts weißt. So viele Kleinigkeiten, und die summieren sich dann zu einem großen Haufen Mist, der mich einfach daran zweifeln lässt, ob das so sein muss oder ob das nur mit Richard so ist. Ständig dieses Streiten, nie tut er, was er sagt, immer ist die Milch alle …«

»Ich lach gleich.«

»Er hat mir das anders versprochen.«

»Alle Männer versprechen Sachen und halten sie dann nicht, Schätzelein. Und die meisten sind dabei nicht halb so cool oder witzig oder schlau oder schön wie Richard. So wie ich das sehe, steckst du in irgend so einer Krise, die man mit Anfang dreißig kriegt. Hör einfach nicht hin.«

Ich weiß nicht, was mich in dem Moment überkam, ob es der Kater war oder das Chaos in mir drin, jedenfalls rollte eine Woge der Frustration durch meinen Körper und verschaffte sich Luft, indem ich mit dem Fuß gegen das Handschuhfach trat, dass es nur so schepperte. »Warum nimmst du mich nicht ernst, Betty? Warum? Du bist meine Freundin! Wenn ich sage, dass ich das Gefühl habe, dass Richard und ich nicht zusammenpassen, warum musst du das ins Lächerliche ziehen?! Ich bin weg von ihm, und es geht mir prächtig, welchen besseren Beweis gibt es denn bitte?«

»Das ist kein Beweis«, motzte Betty zurück, »das ist Urlaubsstimmung, verdammt! Davon rede ich doch die ganze Zeit!«

»Was ist denn da vorne los?« Lucy hatte ihren Kopf zwischen den beiden Rückenlehnen durchgesteckt und bot mit ihrem geschwollenen Gesicht, den zerzausten Haaren und leicht grünlichem Teint keinen besonders attraktiven Anblick.

»Daphne hat das Handschuhfach kaputt gemacht.«

Das stimmte. An der Stelle, an der ich gegen den Klappdeckel getreten hatte, klaffte ein langer, scharfkantiger Riss in dem schwarzen Plastik. Allerdings musste man den Schaden nicht ansehen, wenn man nicht wollte, weil durch meinen Tritt auch der Schließmechanismus kaputt gegangen war und die Klappe jetzt müde an ihren Scharnieren hing und hin und her schwang. Lucy machte ein erschrecktes Geräusch, ich lehnte meinen Kopf an das Beifahrerfenster. »Ach, Scheiße«, murmelte ich und setzte mich wieder gerade hin, weil mir mit dem Kopf am vibrierenden Fenster schlecht wurde.

»So, Schätzelein, und jetzt zu deiner Frage: Ich nehm dich immer ernst. Immer. Und ich nehm auch deine Zweifel, was Richard betrifft, ernst. Sobald du mir einen guten Grund lieferst. Milch und Zank, das sind keine Gründe, das ist Kinderkram. Und dass du im Urlaub gute Laune hast, zählt nicht, fahr mal mit Richard in den Urlaub, dann wirst du auch mehr Spaß haben als zu Hause.«

»Hätt ich ja gern gemacht. Mit ihm in den Urlaub fahren …«, murmelte ich.

Aber Betty hatte mich offensichtlich nicht verstanden. »Hä?«, fragte sie.

»Egal«, sagte ich.

»Okay. Dann erzähl mir etwas, das schlimm ist. Etwas, das mich davon überzeugt, dass es nicht bloß eine Schnapsidee von dir ist, dich von ihm zu trennen.«

Ich merkte, wie Lucy den Atem anhielt. Ich zögerte. Nicht weil ich keine Antwort hatte, sondern weil ich mich überwinden musste, es auszusprechen. Solange die Gedanken in meinem Kopf waren, waren sie nur Ideen. Wenn ich sie aussprach, wurden sie zu Fakten. Aber es nützte ja nichts, den Fakten weiter aus dem Weg zu gehen. »All diese Sachen«, begann ich, nachdem ich lange genug nach den richtigen Worten gesucht und sie ohnehin nicht gefunden hatte, »dieser Kinderkram, sollte mir das nicht egal sein, wenn ich wirklich mit Richard zusammen sein will? Wenn er wirklich der Richtige für mich wäre, müsste ich dann nicht unbedingt wollen, dass wir heiraten und Kinder haben, dass das alles für immer ist? Sollte ich mich nicht einfach darüber freuen, dass wir unser Leben teilen, anstatt ständig genervt zu sein, wenn wieder eine Kleinigkeit schiefläuft? Sollte Liebe sich nicht anders anfühlen?« Betty und Lucy blieben still, vor uns rumpelte der Lastwagen. Ich war ganz ruhig. »Ich wünschte so sehr, es wäre anders. Aber die Wahrheit ist: Im Moment weiß ich nicht, ob ich Richard überhaupt noch liebe.«

Lucy atmete schwer aus. Betty ließ die Worte ein bisschen auf sich wirken bevor sie in das Brummen des Busses hineinsprach: »Tja, Leude.«

Der Verkehr verlangsamte sich, wie das immer der Fall war, wenn man eine Mautstation anfuhr und sich in die Reihen wartender Autos einfädeln musste. Betty überblickte den Asphaltplatz und entschied sich für die Einfahrt rechts außen. Dort war die Bahn frei. Sie fuhr neben das Kassenhäuschen, zog ihr Portemonnaie aus der Tasche. »Mach jetzt bloß keinen Unsinn, Schätzelein, ja?« Sie schenkte mir einen langen, eindringlichen Blick. »Wir besprechen das später in Ruhe. Ich finde, wir sollten dringend diese Dreißigjährigen-Krisensache noch einmal genauer beleuchten …« Während ich daraufhin mit den Augen rollte, drehte sich Betty nach links zum Fahrerfenster, um zu zahlen. Aber da saß niemand im Maut-Häuschen.

»Äh …«, sie schnallte sich irritiert ab und hielt ihren Kopf aus dem Fenster.

»Wir können doch einfach eine andere Reihe nehmen«, schlug Lucy vor.

Ich versuchte, die lose Handschuhfachabdeckung mit dem Fuß wieder anzudrücken. Klappte nicht.

»Warum fahren wir nicht zu einem anderen Kassenhäuschen?« Lucy wieder.

Betty zog den Kopf ein und öffnete die Tür. »Weil das nicht nötig ist, Lucinda. Da vorn steht ein Automat.« Sie deutete durch die staubige Windschutzscheibe auf einen großen, weißen Kasten links vor unserem Bus. »Da werde ich Geld reinwerfen, und schon geht’s weiter«, sagte sie, hüpfte aus dem Bus und marschierte auf den Automaten zu.

Ich trat noch einmal gegen das Handschuhfach, aber mit Gewalt würde sich dieses Problem wohl nicht lösen lassen. Dieses nicht und auch kein anderes. Ich beschloss, mir etwas die Beine zu vertreten, und öffnete meine Tür, um Betty zu folgen.

»Wo gehst du hin?«, fragte Lucy von der Rückbank. Neben ihr öffnete Karol verschlafen die Augen.

»Raus.«

»Ich auch«, sagte der Pole und stand auf. »Ich muss mich erleichtern.«

»Dann komm ich auch mit!« Hektisch fummelte Lucy ihre Füße in die pinkfarbenen Flip-Flops und trottete Karol hinterher, und ich musste an das denken, was Hannes mir erzählt hatte. Dass Lucy einfach ins Badezimmer kam, wenn er auf dem Klo saß. Und dann dachte ich, dass wohl doch etwas Wahres an der Theorie war, dass wir alle immer wieder dieselben Fehler in Beziehungen machten.

Betty ließ unterdessen ratlos ihren Zeigefinger vor den Tasten des Automaten schweben und wieder sinken. »Das ist alles Französisch.«

»Wer hätte das gedacht?« Ich überflog die Anleitung neben den Knöpfen und verstand kein Wort. Nicht einmal genug, um zu raten.

»Und?«

»Keine Ahnung. Andere Reihe?«

Betty presste stur die Lippen aufeinander. »Nö. Ich lass mich doch nicht von so einem dahergelaufenen Automaten kleinkriegen.« Dann las sie noch einmal konzentriert die Erklärung. Oder tat so, echtes Lesen hätte ja eine Kenntnis der Sprache vorausgesetzt. Frustriert stöhnte sie auf. »Wäre eine Zeichnung denn wirklich zu viel verlangt gewesen?«

»Lass dir Zeit. Karol muss sich eh gerade erleichtern.«

»Erleichtern?!«

Ich zuckte mit den Schultern. »Wie wär’s mit dem hier?« Ohne lange nachzudenken, drückte ich den größten Knopf, den ich entdecken konnte. Den roten. Eine Sekunde später machte der Automat ein knacksendes Geräusch. Es rauschte im Lautsprecher.

»Oui?«

Betty sah mich erschrocken an.

»Sag was«, flüsterte ich.

»Äh, oui. Bonjour. Ehm … I’m on the right.«

»Oui?«

»I have a roof.« Vermutlich half es Betty beim Denken, zu gestikulieren, denn sehen konnte außer mir niemand, wie sie ihre Hände über dem Kopf zusammenhielt, um das Dach unseres Busses nachzubilden.

»Betty, jedes Auto hat ein Dach.«

»Push the button«, sagte die Stimme aus dem Automaten mit einem starken französischen Akzent.

Hilflos wanderte Bettys Blick über die Reihe von Knöpfen. »Which one?«

Ich drehte mich um, lehnte mich an den Automaten und ließ meinen Blick über die Wiese neben der Mautstation wandern. Er kam nicht weit.

Betty drückte einen Knopf. »This one?«

»Non«, sagte der Automat.

Ich stieß Betty mit dem Ellenbogen in die Seite. »Betty?«

»Nicht jetzt, Schätzelein.« Noch ein Knopf. »This one?«

»Non.«

»Betty!« Ich zupfte sie etwas ruppig am Arm und zeigte, nachdem ich nun endlich ihre Aufmerksamkeit hatte, auf den Grünstreifen neben den Büschen, in die sich zuvor mit großer Wahrscheinlichkeit Karol erleichtert hatte. Aber jetzt war er damit fertig und schwer damit beschäftigt, seine Lippen auf Lucys zu drücken und mit den Händen ihren Hintern zu umfassen.

»Der polnische Charme, ich sag dir das. Lecko mio grande!«

»Betty!«

»Was denn, Schätzelein? Tu nicht so, als hättest du nicht dasselbe gedacht.« Sie drückte beiläufig einen weiteren Knopf am Automaten. Der Münzschlitz klackte.

»Payez, s’il vous plaît.«

»Ha!« Betty öffnete zufrieden ihr Portemonnaie. »Wer sagt’s denn?«

»Also ich sag dazu nichts«, murmelte ich, und beobachtete weiterhin mit offenem Mund die Liebesszene vor den Büschen. »Ich sag dazu lieber einfach nichts.«

Eine knappe Stunde später fuhren wir von der Autobahn ab und erreichten Biarritz. Wir hatten an diesem Tag nicht mehr als zweihundert Kilometer Strecke hinter uns gebracht, aber es war Betty nicht zuzumuten, noch länger zu fahren, sie war zu kaputt. Und auch wir anderen hatten keine Lust mehr, im Bus zu sitzen. Biarritz kam uns also sehr gelegen, ein bisschen Glamour konnte schließlich nicht schaden.

Optisch machte die Stadt eine Menge her. Prachtvolle Bauten schmiegten sich in die Bucht wie Perlen in das Dekolleté einer wohlhabenden Dame der besseren Gesellschaft. Die gewundenen, palmengesäumten Straßen, auf denen wir durch den Ort gelangten, boten eine atemberaubende Aussicht auf das tiefblaue Meer. Die Sonne hatte sich eine Lücke in der hellgrauen Wolkendecke erkämpft, und ihre Strahlen zauberten viele kleine Reflexionen auf das Wasser, die glitzerten wie Diamanten. Luxus in Reinform.

»Ganz nett«, kommentierte Betty den Anblick, der sich uns bot, als wir die Promenade entlangfuhren.

Ich fragte mich, wie es wohl war, hier ganz selbstverständlich Urlaub zu machen. In einem der teuren Hotels eine Suite zu buchen, mit Meerblick und Zimmerservice, die Tage mit Lunch, Brunch und Flanieren zu verbringen. Und abends dann in feinster Gesellschaft an einem Dinner teilzunehmen, zu dem man das neue Designerkleid trug, das man in einer der vielen Boutiquen gekauft hatte. Für den Preis von zwei Monatsmieten, die Richard und ich für die Wohnung in Hamburg bezahlten. »Stell dir vor, wir wären reich genug, hier zu leben.«

»Langweilig. Wenn ich reich genug wäre, hier zu leben, würde ich nicht hier leben. Ich würde nach Peru fliegen und ein Meerschweinchen-Menü essen, das würde ich machen«, erklärte Betty.

»Ein Meerschweinchen-Menü?«

»In Peru.«

»Warum?«

»Weil ich es kann, Schätzelein.«

Wir parkten den Bus auf einem Parkplatz unterhalb der Stadt, neben einer kleinen Mauer. Dahinter, ein paar Meter tiefer, war ein kleiner Strand angelegt, auf dem es sich ein paar wild entschlossene Urlauber auf ihren Badelaken bequem gemacht hatten und tapfer ignorierten, dass das Verhältnis von Sonne zu Wolken am Himmel von Biarritz zugunsten der Wolken ausfiel. Weiter draußen im Wasser paddelten ein paar Surfer den Wellen entgegen. Wir standen zu fünft vor dem Bus und ließen das alles auf uns wirken.

»Ganz nett«, sagte Betty wieder.

»Wir waren noch gar nicht schwimmen«, bemerkte Lucy.

Ich rückte meine nutzlose Sonnenbrille zurecht. »Stimmt.« Die Wellen rauschten, Stimmen drangen vom Strand zu uns herauf, und die ernsten Gedanken, die ich mir noch vor einer Stunde gemacht hatte, waren fast selbstverständlich in den Hintergrund getreten. Es war fast so, als ob Skys Bus – die letzte Verbindung zu Hamburg – der einzige Ort war, an dem mir diese Gedanken etwas anhaben konnten. Auge in Auge mit all den sonnigen Urlaubswonnen wurden sie kleiner und schwächer und stellten sich freiwillig leise in die Ecke, wo sie darauf warteten, dass ich ihnen wieder Raum gab.

»Also dann«, hörte ich Karol sagen, »wer zuerst in Wasser ist?«

»Der was?«, fragte ich.

Er war schon dabei, sich seine Schuhe auszuziehen. »Ist zuerst in Wasser?«

Die Aussicht auf das erste Bad im kühlen Meer machte uns alle, egal wie verkatert, verquollen oder übermüdet, sofort wach. Karol zog sich eilig sein T-Shirt über den Kopf und knöpfte seine Jeans auf.

Betty hatte auch schon angefangen, sich auszuziehen. Sie trug seit Remscheid prinzipiell Badesachen unter ihrer Kleidung, um jederzeit eine Runde in welchem Gewässer auch immer schwimmen zu können. Am Morgen in Arcachon hatte ich es ihr gleichgetan.

Viktor war bereits losgegangen, vollständig bekleidet, und irgendwie konnte ich mir sowieso nicht vorstellen, wie er in Badehose aussehen würde. So düster, wie er wirkte, war er das komplette Gegenteil eines Beachboys. Ich glaube, er ging nie schwimmen.

»Ich muss noch meinen Bikini anziehen!« Lucy kletterte schnell in den Bus und zog die Tür hinter sich zu.

Wir übrigen folgten Viktor.

Ich ließ meine Kleidung im Sand liegen und rannte Betty hinterher, die schon bis zu den Knien im Wasser stand. Kleine Muschelreste piekten mich in die Fußsohlen, der Wind war noch frischer, als ich befürchtet hatte, und ich spürte, wie die Härchen auf meinen Armen sich aufstellten, und ich fröstelte. Das Wasser war kalt und wild, es spülte den Sand unter meinen Füßen weg, und ich konnte gar nicht anders, als kopfüber hineinzufallen. Ein kleiner Schrei entfuhr mir, und für einen Moment bekam ich keine Luft, so sehr war mein Körper damit beschäftigt, sich gegen die plötzliche Kälte zu wappnen.

»Alles okay?«, fragte Karol, der plötzlich neben mir stand und mir eine Hand reichte, um mir beim Aufstehen zu helfen.

Ich nahm sie nicht, ich rappelte mich selbst auf. »Ja, alles okay«, antwortete ich reservierter als gewollt und bemerkte, dass ich ihn nicht mochte, obwohl er mir nichts getan hatte. Aber ich fühlte mich wie Hannes’ Stellvertreter. Ich fühlte mich, als hätte Karol mir die Freundin ausgespannt. Ich fand ihn scheiße. »Betty?«, rief ich und sah mich um. Sie stand einige Meter entfernt bis zur Brust im Wasser und sprang mit jeder Welle, die auf sie zubrauste. »Betty!«

Sie drehte sich zu mir um, griff in derselben Bewegung ihre Dreads, wrang sie ein bisschen aus und rief: »Das ist Urlaub, Schätzelein!« Die nächste Welle war stärker als sie und riss sie um.