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Der Teil mit dem großen Knall

DAPHNES MIXTAPE

Generationals – When They Fight They Fight

Richard und ich waren seit etwas mehr als einem halben Jahr ein Paar, als er seine Zelte in New York abbrach und nach Hause kam, und die Tage vor seiner Rückkehr waren die aufregendsten und schönsten meines Lebens. So definitiv kann und soll man das eigentlich nicht sagen, aber in dieser Zeit kam es mir zumindest so vor. Ich war schließlich verliebt.

Ich wachte damals jeden Morgen mit einem Gewusel von Schmetterlingen im Bauch auf, die einfach nicht wieder verschwinden wollten und mich den ganzen Tag lang begleiteten. Manche flatterten so weit oben, dass sie mich im Hals kitzelten und ich lachen musste, einfach so, für die Menschen um mich herum scheinbar grundlos. Aber ich hatte einen sehr guten Grund. Endlich kam der Mann, den ich liebte, zu mir zurück, und er würde bleiben, eine Lücke füllen, die ich immer schon in meinem Leben gespürt hatte: da wo das Herz war und diese Pärchensache, mit der andere Leute, die ich kannte, ihre Tage und Jahre verbrachten. Gemeinsam aufwachen, gemeinsam essen, gemeinsam Dinge erleben, gemeinsam einschlafen. Die Vorfreude darauf pflanzte mir ein schwachsinniges Grinsen ins Gesicht und Bilder in meinen Kopf, von glücklichen Momenten, die auf mich warteten. Das waren sonnige, fröhliche Bilder. Nie kam in meinen Visionen so etwas wie Streit, Langeweile oder dieses genervte Gefühl vor, das sich breitmachte, wenn zwei Menschen unterschiedliche Dinge wollen und keinen Kompromiss finden.

Stattdessen hatte ich, auf rosafarbenen Wölkchen schwebend, einen Mandelkuchen gebacken, das extravaganteste Gebäck, zu dessen Herstellung ich in der Lage war, das außerdem gut zu Richards Augen passte, die ja auch mandelförmig sind. In der Vase auf dem Küchentisch hatte ich frische Blumen arrangiert (Freesien), und nach ungefähr anderthalb Stunden war es mir gelungen, mich endlich für ein Kleid zu entscheiden, das ich zur Feier des Tages tragen wollte – zumindest bis Richard es mir auszog. Mit meinen Haaren war ich in etwa genauso lange beschäftigt. Aber das war alles im Rahmen, fand ich, immerhin war ich so verliebt wie nie, da konnte man sich gar nicht genug ins Zeug legen. Ablenkung, oder man platzt. Und dann fliegen die ganzen schönen Schmetterlinge raus.

Am großen Tag klingelte Richard gegen halb vier an meiner Tür. Es war ein Samstag. Ich erlaubte mir einen kleinen, unterdrückten Schrei, einen Juchzer, wie Oma Mathilde es genannt hätte, die immer gern betont hatte, dass Vorfreude die schönste Freude sei. Eine weise Frau.

Ich rannte zur Wohnungstür, riss sie auf und sah in ein erschöpftes Gesicht. »Unten war offen«, war alles, was er sagte. Macht nix, dachte ich, nahm Anlauf und sprang dem Mann mit den Mandelaugen, die sich übergangsweise in müde Schweinsäuglein verwandelt hatten, in die Arme. Er drückte mich an sich. Alles okay also. Meine Lippen suchten seinen Mund, ich bekam einen kurzen, trockenen Kuss ohne Zunge verpasst, und dann schob Richard seine zwei Koffer und den Rucksack an mir vorbei in den Flur.

Ich fühlte mich etwas zweitrangig. Die Schmetterlinge machten eine Pause und warteten mit leicht vibrierenden Flügeln ab. Erst die Koffer, dann die Liebe. Kommt vor.

Richard ließ einen Seufzer hören, gab mir im Vorbeigehen einen weiteren Kuss ohne Zunge, aufs Haar nämlich, und ließ sich im Wohnzimmer aufs Sofa fallen. Ich blieb in der Tür stehen, unschlüssig und ein wenig beleidigt. Wo blieb die überschwängliche Wiedersehensfreude? Das Feuerwerk? Das Festival der Liebe? Und warum, zum Teufel, bekam ich kein Kompliment für mein wunderschönes Kleid?

Richard öffnete seine Arme für mich, und ich durfte mich neben ihn legen und mich an sein verschwitztes T-Shirt drücken lassen. Der Schweiß war nicht das Problem. Der Mangel an Worten war es. Da konnten die großen Denker noch so oft sagen, dass nicht Worte, sondern Taten zählten, ich war eine Frau der Worte. Ich liebte »ich liebe dich«, und ich konnte nicht genug bekommen von »ich hab dich so vermisst«. Aber jetzt war es still. So hatte ich mir das nicht gedacht.

»Es ist schön, dass du wieder da bist«, nuschelte ich irgendwo auf Richards Brusthöhe.

Und er sagte »Ja«.

Einfach nur »Ja«.

Ich befreite meinen Kopf und sah ihn streng an, was er nicht wissen konnte, denn er hatte die Augen geschlossen. »Ja?!«

Eines der Augen wurde einen Spalt weit geöffnet. »Ja.«

»Das ist alles?!«

»Was willst du denn hören?«

»Alles andere!«

»Okay. Nein.« Er schloss das Auge wieder und grinste dabei.

Ich schnaufte empört. Mir war es ernst, und er machte Witze.

»Tut mir leid, Daphne«, murmelte Richard schläfrig und wischte mir mit einer Hand über den Rücken. Statt Streicheln. War anscheinend auch zu viel verlangt. »Ich bin hundemüde. Ich hatte echt einen anstrengenden Flug, und gestern hab ich mit den Jungs vom Label noch bis ich weiß nicht wann Abschied gefeiert …«

Ich verkniff mir den schnippischen Kommentar, dass ich mich freute, dass er zumindest dafür genug Energie gehabt hatte. Nur weil ich es nicht sagte, bedeutete das aber nicht, dass ich es nicht trotzdem dachte. Es war schwer, darüber hinwegzusehen, auch wenn es Sinn machte, auch wenn es komplett in Ordnung war, weil er seine New Yorker Kollegen und Freunde lange nicht mehr sehen würde und mich ab jetzt ja jeden Tag. Wir hatten so viel Zeit, das hatte ich mir doch all die Tage zuvor ausgemalt: die schöne, lange Zeit, die wir haben würden. Dann war er jetzt eben müde, egal, ab morgen fing unser munteres gemeinsames Leben an … Aber was zählt schon die Vernunft, wenn man mit enttäuschten Erwartungen zu kämpfen hat? Nichts. Es war nicht fair, und es würde auch an diesem Tag nicht mehr fair werden. »Ich hab Mandelkuchen für dich gebacken«, war das Diplomatischste, was ich herausbrachte.

»Oh, Daphne, das ist wirklich lieb, aber ich hab doch eine Nussallergie«, sagte er und glitt in den Schlaf.

Es war gar nicht so einfach mit der gemeinsamen Zeit.

Hätte ich vorher gewusst, wie lang und heiß und eintönig die Strecke, die vor uns lag, werden würde, ich hätte mich dafür eingesetzt, lieber noch einen Tag auf dem Berg der Wunder zu verbringen. Nachdem wir Marcos Van folgend die Felsen und Kurven des Gebirges hinter uns gelassen hatten, ging es nur noch geradeaus, immer die Autobahn entlang, durch eine karge, staubige, schattenlose Landschaft. Skys VW-Bus hatte keine Klimaanlage, die Lüftung machte eine Menge Krach, lieferte aber keine frische Luft, und obwohl wir alle Fenster, die sich öffnen ließen, heruntergekurbelt und aufgeklappt hatten, war es in dem Bus trotzdem noch so heiß wie in einem Backofen. Und es wurde mit der Zeit eher schlimmer als besser.

Ich konnte meine Füße nicht mehr auf das schwarze Armaturenbrett legen, wie es sonst meine bevorzugte Sitzposition gewesen war, weil ich befürchtete, mir dadurch Brandblasen zuzuziehen. Das Wasser an Bord war kochend heiß – schade, dass wir es nicht zum Duschen brauchten, sondern es eigentlich trinken wollten. Der Bezug meines Autositzes erzeugte in Verbindung mit meinem Schweiß ein extrem unangenehmes Jucken auf meiner Haut. Und apropos Jucken: Ich hatte drei neue Mückenstiche gezählt – zusätzlich zu den anderen acht Quaddeln und Pusteln, die schon vor dem Berg der Wunder da gewesen waren. Komfortables Reisen war das irgendwie nicht.

Betty rauchte eine Zigarette, der Schweiß rann ihr den Nacken hinunter. »Lucinda?«

Ein schwaches »Hm?« war die Antwort aus dem hinteren Teil des Busses, der immerhin schattig war, im Gegensatz zur Fahrerkabine.

»Mich würde mal interessieren, wie es kommt, dass du so einen Schlag bei den Männern hast. Was ist deine Masche?«

»Masche?«

Ich lachte in mich hinein, soweit es mein erschöpfter Zustand zuließ, und streckte meinen rechten Arm aus dem Fenster, um ihn im Fahrtwind abkühlen zu lassen.

»Na, was sagst du denen?«, präzisierte Betty ihre Frage.

»Ich sag gar nichts. Ich hab auch keinen Schlag bei Männern. Ich will gar keinen Schlag bei Männern haben.«

Betty nickte nachdenklich. »Das könnte es sein …«

»Nein, Betty, ehrlich!« Irgendetwas rumpelte über den Boden, als Lucy sich von der Rückbank aufrappelte und sich hinter unsere Sitze auf die Vorratsbox setzte. »Ich will gar keine Männer kennenlernen.«

»Na, das soll einer verstehen …«

»Ich will nur einen Mann kennenlernen. Den einen, weißt du?«

Betty verdrehte die Augen.

»Irgendwann treffe ich den Mann, den ich heirate und mit dem ich zusammenbleibe, bis ich sterbe.«

Ich zog meinen Arm wieder ein. »Hast du ja vielleicht bereits.« Natürlich dachte ich dabei an Hannes.

Lucy auch. Deswegen auch ihr vehementes »Nein, hab ich nicht!«

Betty schüttelte fassungslos den Kopf. »Wie das schon klingt. Zusammenbleiben, bis man stirbt. Wie deprimierend das ist, da gleich mit dem Tod zu kommen. Da würde ich erst recht nicht den einen finden wollen, wenn dann quasi gleich alles zu Ende ist.«

»Aber bevor man stirbt, hat man ja ein schönes Leben zusammen. Und heiratet und bekommt Kinder und so.«

»Ein Kind hab ich auch«, sagte Betty und aschte aus dem Fenster. »Zählt das jetzt nichts, weil ich nicht verheiratet bin?«

»Das hab ich nicht gesagt. Das ist was anderes.«

»Wieso?«

»Weil …« Dem konzentrierten Kauen auf ihrer Unterlippe nach, war Lucy auf der Suche nach einem schlauen Dreh, der sie aus dieser Argumentationssackgasse retten konnte. Erfolglos.

»Ich sag dir mal was, Lucinda«, sprach Betty weiter. »Wenn man sich selbst und sein Leben zu strengen Regeln unterwirft, dann verpasst man was. Wenn ich so wie du darauf gewartet hätte, dass mir der Mann, der bis zum Tod hält, über den Weg läuft und mich dann auch noch heiratet, dann hätte ich Max jetzt nicht. Dann wäre mein Leben sicherlich auch spitzenmäßig, aber nicht ganz so spitzenmäßig wie jetzt. Selbst wenn ich es mir aussuchen dürfte: Ich würde trotzdem nichts anders machen, niemals. Ich liebe meinen Sohn.« Sie hielt den Blick fest auf die Straße gerichtet, während Lucy weiterhin auf ihrer Lippe kaute. Jetzt wahrscheinlich, weil sie so die Information, die sie eben bekommen hatte, besser verarbeiten konnte.

Ich drehte mich zu ihr nach hinten. »Das heißt natürlich nicht, dass du irgendetwas tun sollst, was du nicht tun willst.« Es war mir wichtig, das in Hinblick auf Lucys Vergangenheit klarzustellen.

Betty nickte zustimmend. »Klar, man soll nie etwas machen, was man nicht machen will. Regel Nummer zwei.«

»Und Regel Nummer eins?«, fragte ich.

»Man soll immer machen, was man machen will.«

»Ist das nicht dasselbe?«

Von links sah mich Betty an, als hätte ich gerade etwas sehr Dummes gesagt. »Nein?!«

»Also, ich will ein Eis«, erklärte Lucy.

»Bravo, Lucinda! Du lernst schnell.« Betty griff nach ihrem Handy, wählte und wartete, bis am anderen Ende geantwortet wurde. »Marco? Hier der gelbe Bus. Halt mal bei der nächsten Raststätte. Wir wollen ein Eis.« Sie war kurz still, während Marco redete, und sagte dann: »Klar darfst du auch ein Eis essen. Wenn du das willst. Ist ja schließlich Urlaub. Und jetzt fahr rechts raus, ich hab eben ein Schild gesehen.«

An der Raststätte wurde nicht nur Eis verkauft, es gab außerdem auch einen klimatisierten Gastraum, in dem man seine Speisen an Stehtischen zu sich nehmen konnte. Im ersten Moment war das sehr erfrischend, im zweiten verkündete Lucy, dass sie zum Bus zurückgehen wollte, um Pullis und Strickjacken zu holen. Extreme waren nie gut, »wir wollen uns ja keine Erkältung holen«. Nein, das wollten wir nicht. Außer Marco vielleicht, der darauf beharrte, keine Kälte zu spüren. Ein echter Kerl eben, männlich bis an die Grenzen der Vernunft. Betty warf ihm einen abschätzenden Blick zu, und ich war mir ziemlich sicher zu wissen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Sie verglich Marco mit Mo, der ohne Frage durchtrainierter war und schlichtweg der attraktivere Mann. Andererseits war Marco lustig und offen, und ich hatte ihn gleich gemocht. Im Gegensatz zu Mo, den ich noch immer nicht so richtig ausstehen konnte. Er war ein eitler Fatzke. Auch wenn er offensichtlich süße Kinder machen konnte. Oder vielleicht auch gerade, weil …

Apropos, das musste sich auch Marco gedacht haben: »Hast du eigentlich ein Foto von Max dabei?«, fragte er Betty.

»Warum?« Sie sah ihn mit großen Augen an. Irgendwie ging ihr der typische Herzeigedrang, mit dem junge Eltern sonst ausgestattet waren, komplett ab.

»Weil ich gern wüsste, wie er aussieht.«

»Willst du ihn entführen, oder was?«

Marco sah ungefähr genauso verwirrt aus wie Betty selbst. Er lachte unsicher. »Ähm … Nein?«

Es war an der Zeit, hilfreich zu intervenieren. »Betty, ich glaube, Marco ist einfach nur ein bisschen neugierig.«

»Na, dann sag das doch!« Betty griff nach ihrem Geldbeutel, den sie auf dem Stehtisch abgelegt hatte, und wühlte zwischen Kleingeld und Mauttickets herum. Schließlich zog sie ein dreimal gefaltetes Foto aus dem Täschchen und legte es vor Marco hin. »Bitte schön.«

Er nahm es, glättete die Falten und drehte sich zum Fenster, damit mehr Licht auf das Bild fiel. »Der ist ja wirklich süß.« Ich kannte das Foto und wusste, was er sah: den kleinen Max mit Mütze, der sich vergnügt lachend eine alte Stoffpuppe an den Bauch drückte, auf dem Schoß seines Vaters. »Das ist Mo?«, fragte Marco und tippte an betreffender Stelle auf das Bild, und es beeindruckte mich ein wenig, wie völlig frei von jedem Unterton er das sagte, obwohl er offensichtlich stark an Betty interessiert war und ihm der Anblick seines direkten Konkurrenten eigentlich das Herz brechen oder ihn zumindest ein wenig eifersüchtig machen musste. Männer waren so viel besser darin als Frauen, sich nichts anmerken zu lassen.

Betty neigte sich zur Seite, um das Foto besser betrachten zu können, obwohl sie es natürlich in- und auswendig kannte. »Ja. Ist er«, sagte sie.

»Nett«, sagte Marco.

»Ja, ist er«, sagte Betty wieder.

Nicht so nett wie Marco, dachte ich. In einer perfekten Welt würde Betty das vielleicht auch merken.

»Hier sind eure Pullis, ich muss mal schnell«, rief Lucy im Vorbeigehen, beschmiss unseren Tisch mit Textilien und machte sich auf die Suche nach den Toiletten.

Betty steckte das Foto wieder ein und fixierte eine Weile gedankenversunken die Tischplatte, die mit Zuckerkristallen, Brotkrümeln und Kaffeeflecken übersät war. Irgendwann konnte ich nicht umhin, sie zu fragen, ob alles in Ordnung sei, und sie sah mich an, als wäre sie gerade aus einem Traum aufgewacht. »Ich geh mal raus und ruf Max an.«

»Tu das.«

»Ja, mach ich«. Sie zog sich ihren Pulli über. »Ich bin draußen.«

»Da brauchst du den Pulli nicht.«

Aber das hörte sie schon nicht mehr.

»Tja«, sagte ich. Marco zuckte mit den Schultern.

Die Raststätte war gut besucht, in erster Linie von spanischen Familien, die wohl auch genug davon gehabt hatten, in der Mittagshitze im Auto zu sitzen. Der Geräuschpegel war relativ hoch, Kinder schrien durcheinander, Erwachsene unterhielten sich in schnellem Spanisch, und dann gab es da noch diesen Hubschrauber beziehungsweise die Miniaturversion eines Hubschraubers, der genau neben unserem Tisch stand, äußerst anstrengende Geräusche machte und dazu noch hektisch blinkte. So sollte er die Aufmerksamkeit kleiner Kinder auf sich ziehen, die dann wiederum ihre Eltern nötigen sollten, fünfzig Cent in den Schlitz zu werfen, damit der Hubschrauber mit dem Nachwuchs an Bord ein wenig hin und her wackelte und dabei noch mehr anstrengende Geräusche machte. Das war der Plan. Und er funktionierte.

So wenig, wie man als Erwachsener diese Geräte leiden oder ihre Faszination begreifen konnte, so sehr liebten Kinder sie. Zum Beispiel der etwa vierjährige Junge, der in diesem Moment aufgeregt auf den Hubschrauber zugelaufen kam und etwas auf Spanisch brabbelte, das ich natürlich nicht Wort für Wort verstand, aber der Sinn war mir schnell klar. Sein Vater sollte gefälligst das Portemonnaie herausholen und ihm eine Minute Gewackel spendieren. Das tat dieser dann auch, ein schlauer Schachzug, denn genauso wie Miniaturhubschrauber konnten auch Kinder anstrengende Geräusche machen. Insbesondere dann, wenn sie nicht mit dem Miniaturhubschrauber spielen durften. Der Junge stieg ein, die Münze klapperte, und die Fahrt ging unter Piepsen und Getöse los.

Ich schenkte Marco einen leidenden Blick.

»Na, was ist los? Willst du auch mal?«

»Ha, selbst wenn ich es schaffen sollte, mich in das Ding reinzuquetschen, bräuchtet ihr bestimmt einen Bolzenschneider, um mich wieder zu befreien.«

»Oder wir lassen dich einfach hier und holen dich auf dem Rückweg wieder ab.«

»Oh. Danke auch.«

Sein Kopf nickte in Richtung Hubschrauber, neben dem sich gerade die Mutter des Nachwuchspiloten zu ihrem Mann gesellte. Einer anscheinend international gültigen Pärchenchoreografie folgend, legte er einen Arm um ihre Hüfte, und sie legte ihren Kopf an seine Schulter. »Magst du Kinder?«

»Ich?!« Was für eine Frage. Niemand, der keine Lust auf einen verlängerten Urlaub im sozialen Abseits hatte, gab offen zu, Kinder nicht zu mögen. Die Wahrheit war allerdings, dass ich keinen besonders guten Draht zu ihnen hatte, noch nie gehabt hatte. Auch nicht zu Max, was durch die Hochzeitstortengeschichte auch nicht wirklich besser geworden war. Schon klar, Kinder waren Kinder. Ich konnte nur leider mit diesem Kindsein überhaupt nichts anfangen. Deswegen machten Kinder einen großen Bogen um mich und umgekehrt. Das war der unausgesprochene Deal. Aber ich wollte das nicht laut sagen und wie ein Arschloch dastehen. Logischerweise. Also antwortete ich mit einem vielsagenden »ich mag sie schon«.

»Aber es ist noch nicht Zeit für eigene«, ergänzte Marco lächelnd.

Ich winkte ab. »Dafür müsste ich erst mal den geeigneten Mann finden.«

Stirnrunzeln. »Ich denke, du hast einen Freund.«

Oh. »Ja, hab ich.« Ich hatte es nur für einen Moment vergessen … aber wie zur Hölle hatte ich das bitte vergessen können? Ich erklärte mir meine seltsame Antwort auf Marcos Frage damit, dass sie in meinem Leben so viele Jahre lang die Standardreaktion auf Themen dieser Art gewesen war, eben weil ich keinen Freund hatte, dass dieser Automatismus mir dermaßen ins Blut übergegangen war, dass … aber mal im Ernst: Egal wie ich es drehte und wendete, es blieb erbärmlich. Ich hatte meinen Freund vergessen, mit dem ich sogar schon über Kinder gesprochen hatte, gemeinsame Kinder natürlich, erst kürzlich, vor der Hochzeit meiner Mutter. Wir konnten uns auf keine Namen einigen, aber wir wollten. Miteinander. Wirklich. Na ja, damals jedenfalls, vor zwei Wochen. Bevor ich ihn vergessen hatte. Verdammt. »Ich hab einen Freund. Aber das heißt ja nicht, dass …«

»Blödes Thema?«

Wenn Marco so weitermachte, würde er mich zum Heulen bringen. Aber nicht mit mir, ich würde ihm eine Dosis seiner eigenen Medizin verabreichen. »Du magst Betty sehr, oder?«

Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Ja. Ich mag Betty sehr.«

Und weiter? Mir fiel nichts ein. »Ich … äh … auch.«

Marco nickte freundlich. »Prima!«

So viel zur Medizin.

Schnelle Schritte hallten durch den Gastraum, begleitet von hektischen Atemzügen, die zu einer jungen Frau in einem pinkfarbenen Kaftan gehörten, deren Wangen stark gerötet waren. Es sah aus, als nähme sie gerade an einem Dauerlauf teil, dem Kaftan-Run vielleicht. Es war Lucy. Sie wedelte mit einer Handtasche in der Luft, die dunkelblau war, also nicht ihr gehören konnte, denn alles, was sie besaß, war pink. Um das Wedeln zu unterstreichen, rief sie aufgeregt: »Los Taschos! Los Taschos!« und zog damit die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich, die sich wohl fragten, wovon die verrückte Frau da redete. Ich tat ja nichts anderes. Als Lucy an unserem Tisch ankam, bremste sie ihren Lauf, kam aber nicht zu Marco und mir, sondern ging stattdessen auf die Mutter des Hubschrauberkindes zu. »Los Taschos«, sagte sie noch einmal völlig außer Atem und hielt der Frau, die zunächst verständlicherweise einen Sicherheitsschritt von ihr weg machte, die Handtasche entgegen. Nach einem Moment der Verwirrung erkannte sie ihr Eigentum, nahm es an sich und nickte strahlend. »Por suerte! Esto es mi bolso, gracias a Dios! Gracias, señorita.«

»Keine Ursachos«, keuchte Lucy, stellte sich zu uns an den Tisch. »Hat ihre Tasche auf dem Klo vergessen«, sagte sie und deutete zur Erklärung mit dem Daumen auf die Frau hinter sich, die ihr Glück gar nicht fassen konnte. »Neben dem Waschbecken. Ist mir auch schon mal passiert.« Sie wischte sich schwer atmend über die Stirn und leckte sich die Lippen. »So. Und jetzt möchte ich wirklich unbedingt endlich ein Eis.«

Zwischen unserem Abschied vom Berg der Wunder und den Lichtern des abendlichen Lissabon lagen unendliche zehn Stunden Fahrtzeit. Neunzig Stundenkilometer Höchstgeschwindigkeit, das war nach wie vor alles, was Skys Bus zu bieten hatte. Und das auch nur bergab. Und im mageren Windschatten von Marcos Van, dem wir brav hinterherfuhren. Es tat uns schon ein bisschen leid, dass er unseretwegen nur so langsam vorankam, und deswegen beschwerte sich auch niemand, als er die Fahrzeit absichtlich um dreißig Minuten verlängerte, weil er uns unbedingt noch etwas zeigen musste. Er rief extra auf Bettys Handy an und bat sie, den Lautsprecher anzustellen, damit auch wir anderen seine Durchsage hören konnten.

»Ladys! Direkt vor euch, im Moment noch verdeckt von diesem coolen Van, befindet sich die Ponte Vasco da Gama. Die ist mehr als siebzehn Kilometer lang und somit eine der längsten Brücken der Welt und – haltet euch fest – die längste Europas. Zumindest bis jetzt, wer weiß, was noch kommen mag. Wer sagen kann, nach wem die Brücke benannt ist, bekommt die Cola, die seit drei Tagen in meinem Handschuhfach liegt.«

»Ich weiß es! Ich!« Lucy warf sich aufgeregt über die Vordersitze Richtung Armaturenbrett, auf dem Bettys Handy mit Marcos Stimme drin lag, und schnipste mit ihrem Finger, als wäre sie wieder in der Schule.

»Das war nur ein Scherz«, hörten wir Marco sagen, und Lucy ließ enttäuscht den Arm sinken.

»Ich hätt’s aber gewusst.«

»Glaub ich dir.« Ich tätschelte ihr aufmunternd die Schulter. »Aber sei doch froh, dass du keine warme Cola trinken musst.«

»Hm«, machte Lucy. Sie war nicht überzeugt.

»Auf alle Fälle«, verkündete Marcos Stimme, »wäre es eine Schande, dieses beeindruckende Bauwerk zu verpassen. Das hier ist der beste Weg nach Lissabon, meine Damen, also lehnt euch zurück und genießt die Fahrt. Ach so, der Spaß kostet ein bisschen was, die Mautstation kommt gleich …« Betty und ich stöhnten gleichzeitig wegen der außerplanmäßigen Extrakosten. Die Maut- und Fischbratstrafgebühren in Frankreich hatten ein unschönes Loch in unsere Reisekasse gefressen. »Aber keine Bange!«, fuhr Marco fort, der uns laut und deutlich gehört hatte, »Ich lad euch ein. Sobald wir in der Stadt sind, verrechne ich den Betrag mit Portwein.«

Betty nickte zufrieden. »Klingt fair.«

»Portwein?« Meine Mundwinkel wanderten unwillkürlich nach unten. Da war ich endlich aus Tante Doris’ Dunstkreis raus und dem ständigen Likörchenzwang entkommen und dann das. Portwein. »Ich nehm lieber die Cola.«

»Von wegen!«, schaltete Lucy sich ein. »Die gehört wenn dann mir!«

»Hör gar nicht hin, Schnuppi.« Betty lenkte mit der linken Hand und zog mit der rechten ihren Geldbeutel aus der Ritze neben ihrem Sitz, während sie weiter ins Telefon sprach. »In Portugal trinkt man Portwein, und damit hat’s sich. Klare Sache.«

»Du sagst es«, antwortete Marcos Stimme. »Over and out.«

»Over and out, jawoll.« Betty schaltete das Handy aus und grinste mich an.

»In Bologne-sur-Mer isst man Spaghetti Bolo. In Portugal trinkt man Portwein.« Ich schüttelte matt den Kopf. »Du machst es dir wirklich leicht.«

»Genauso sollte das Leben sein, Schätzelein. Leicht.«

Eine weitere Stunde später hatten wir in Lissabon Bus und Van unter einer Schnellstraße neben dem Zoo geparkt. Ich konnte mir den ironisch gemeinten Kommentar nicht verkneifen, dass wir hier bestimmt herrlich schlafen würden. Aber Betty erinnerte mich, Schätzelein, daran, dass man nach genügend Gläsern Portwein überall gut schlafen könne.

»Na, dann müssen wir uns ja zumindest um deine Nachtruhe keine Sorgen machen.«

Der Boden unter meinen Füßen vibrierte ein wenig. Eine Nebenwirkung der stundenlangen Fahrt vermutlich, vielleicht lag es aber auch an der Schnellstraße, über die im Sekundentakt Autos und Lastwagen rumpelten. Ich hoffte stark, dass ich die Ohrstöpsel, die sich irgendwo in dem Durcheinander meiner Reisetasche befinden mussten, später würde lokalisieren können.

Lucy warf einen besorgten Blick auf die Uhr. »Schon nach neun. Bekommen wir jetzt überhaupt noch etwas zu essen?«

»Wieso sollten wir nicht?«

»Weil es spät ist?«

»Im Gegenteil. Das ist die perfekte Essenszeit im Süden.« Marco legte ihr einen Arm um die Schulter und zog sie mit sich, dem Stadtzentrum entgegen.

»Neun Uhr abends?!«

»Du meine Güte, Lucinda! Wir sind hier nicht in Remscheid. Die Provinz und ihre Regeln können uns nichts mehr anhaben. Das hier ist anders. Das ist Lissabon!« Betty schlug die Bustür zu, schloss ab und atmete tief die abgasgeschwängerte Luft ein. »Ich liebe es!«

Betty liebte auch die engen Gassen der Altstadt. Betty liebte die Sardinen, die ihr brutzelnd und in Öl schwimmend in dem Restaurant serviert wurden, das wir, getrieben von übermächtigem Hunger und ohne viel darüber nachzudenken, für unser Abendessen ausgesucht hatten. Die dreisprachige Speisekarte schrie »Touristenfalle«, aber Betty liebte es, genau zu wissen, was sie bestellte. Sie liebte auch den jungen portugiesischen Kellner. Und den Portwein, den sie und Marco tranken, liebte sie so sehr, dass ihr das Wort lieben irgendwann nicht mehr groß genug war und sie es verdoppeln musste. »Ich liebeliebe diesen Portwein.«

Ich fragte mich, ob sie nicht vielleicht etwas zu viel von den Abgasen unter der Schnellstraße eingeatmet hatte, oder während der Fahrt in dem stickigen Bus vielleicht ihr Gehirn überhitzt war.

»Ich liebe Urlaub!«

»Wer tut das nicht?«

Lucy tippte Betty an die Schulter und zeigte neben sich auf den Boden. »Guck mal, eine Katze!« Nicht dass das eine Sichtung der besonderen Art gewesen wäre. In der schmalen Gasse, in der unser Esstisch dicht an der Hauswand des Restaurants stand, wimmelte es nur so von Streunern. Zwei Hunde warteten ein paar Meter weiter in der Dunkelheit auf eine Gelegenheit, sich heruntergefallene Essensreste einzuverleiben, und die Katzen, dünn und struppig, strichen an den Wänden entlang und um Tischbeine herum, mit derselben Mission. Eine von ihnen saß direkt neben unserem Tisch und ließ sich von Lucy ihr räudiges, getigertes Fell streicheln, während sie an den Fingern der anderen Hand schnupperte, die Lucy ihr hinhielt wie eine Visitenkarte.

Marco intervenierte mit fast väterlicher Strenge. »Lucy! Net anfassen!«

Lucy sah ihn kurz verdutzt an, ließ sich aber nicht beirren und kraulte die Katze weiter hinter den Ohren, was diese dazu animierte, ihren Kopf an Lucys Handgelenk zu reiben. »Die ist aber ganz lieb, Marco, die beißt nicht.« Lucy war anscheinend überzeugt, solche Einschätzungen nach fünf Sekunden machen zu können. Aber für sie hatte ja auch ein Tag gereicht, um zu glauben, dass Karol der eine für sie war.

»Ich sag ja auch gar nicht, dass die Katze dich beißt, aber auf der Katz …«

»Zu den Hunden geh ich nicht«, versprach Lucy, die offensichtlich nur mit halbem Ohr zugehört hatte, »vor Hunden hab ich nämlich Angst. Der Hund da auf dem Bauernhof am Strand, vor dem hatte ich auch richtig Angst. Das kannst du dir gar nicht vorstellen. Oder Willi, der Hund von meinen Eltern … wenn ich nach Hause komm, müssen sie ihn immer wegsperren. Der ist echt gefährlich.« Während sie sprach, wanderten ihre Finger durch das räudige Katzenfell.

»Ich geb’s auf.« Marco schüttelte matt den Kopf. »Einer kapiert’s nie.«

»Noch ’n Gläschen Port?«, fragte Betty und war schon dabei, den Kellner herbeizuwinken.

»Nicht für mich.« Ich kratzte die letzten Reste meiner Mahlzeit auf dem Teller zusammen und schob mir den ganzen Haufen in den Mund.

»Schätzelein, du begehst einen großen Fehler …«

»… denn in Portugal trinkt man Portwein«, beendete ich mit vollem Mund ihren Satz.

»Ganz genau. Und er ist einfach köstlich.« Sie leckte sich demonstrativ über die Lippen, zeigte auf die leeren Gläser und hielt zwei Finger hoch, als der Kellner kam. »Dois, por favor.«

Ich hob erstaunt die Augenbrauen. »Portugiesisch, Bettina?«

»Ich hau dir gleich eine rein.« Sie bedachte mich mit einem bösen Blick und nickte zu den zwei älteren Herren hinüber, die vor der Bar auf der anderen Seite der Gasse saßen, also etwa einen halben Meter von uns entfernt. »Hab ich bei denen aufgeschnappt.«

»Nicht schlecht.« Ich verzog anerkennend den Mund, dann übernahm ein herzhaftes Gähnen. »Tut mir leid, Leute, aber ich muss zurück zum Bus. Sonst schlaf ich hier noch ein.« Ich durchsuchte meine Tasche nach meinem Portemonnaie, aber Marco hob eine Hand, um mich zu stoppen.

»Lass mal, ihr seid eingeladen. Hab ich doch versprochen.«

Ich sah ihn verdutzt an und wartete, dass er das Angebot zurücknahm, was er aber nicht tat und bedankte mich schließlich überrascht. Betty und Lucy schlossen sich mir an, was dazu führte, dass Marco vor Verlegenheit rot anlief. »Macht da jetzt nicht so ein großes Ding draus. Ihr seid die besten Reisebegleiter, die ich seit Langem hatte.«

Ein kollektives »Awwww!« ertönte an unserem Tisch, und weil ich direkt neben Marco saß, umarmte ich ihn fest und fühlte die weiche, warme Haut unter seinem T-Shirt und hatte plötzlich diesen Männergeruch in der Nase. Ein Geruch wie aus einer lange vergangenen Zeit. Richard, schoss es mir durch den Kopf. Ein warmes Gefühl bewegte sich in meinem Bauch. Ich ließ Marco los und machte somit die Bahn frei für Betty, die ihm über den Tisch gebeugt einen feuchten Portweinkuss mitten auf den Mund gab. Wie er darauf reagierte, nahm ich nicht mehr wahr, ich war zu abgelenkt. Ich dachte an Richard. Überraschend gute Gedanken.

Während Marco und Betty noch gemeinsam die Altstadt von Lissabon unsicher machen wollten, hatten Lucy und ich uns, taumelnd vor Müdigkeit und Übersättigung, zurück zum Bus geschleppt. Die Lissabonner Nacht war kaum kühler, als es der Tag auf der Autobahn gewesen war, und ich fühlte mich verschwitzt und schmutzig und wünschte mir von ganzem Herzen eine ausgiebige, kalte Dusche. Oder einfach ein schnelles Bad im Meer. Stattdessen putzten wir uns mit warmem Wasser aus dem Trinkwasserkanister unter der Schnellstraße die Zähne, legten uns ohne Decke und alle viere von uns gestreckt auf die Matratze im Bus und waren ganz froh, dass Betty nicht da war und wir so viel Platz für uns hatten. Es war fast zu heiß zum Atmen.

Umso mehr wunderte ich mich darüber, wie schnell Lucy eingeschlafen war, was ich an den gleichmäßigen, lang gezogenen Atemzügen und dem niedlichen Schmatzgeräusch erkannte, das sie in den ersten Minuten ihrer Nachtruhe gern machte. Faszinierend, dachte ich, dass fünf Nächte genügen, damit ich Lucys Einschlafroutine genauso gut kenne wie Richards.

Einschlafen. Das wäre schön gewesen, aber ganz egal wie müde ich eben gerade noch gewesen war, daran war nicht zu denken. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere in meinem verzweifelten Bemühen, eine effektive Schlafposition zu finden, aber ich blieb hellwach, als hätte ich einen Eimer Koffein zu mir genommen. Über meinem Kopf, über dem Dach des Busses und links und rechts von dem Mittelstreifen, auf dem wir standen, rauschten die Autos in einer unregelmäßigen Regelmäßigkeit vorbei. Das Geräusch machte mich wahnsinnig.

Leise fluchend und vorsichtig, um Lucy nicht zu wecken, bewegte ich mich von der Matratze hinunter und wühlte im Dunkeln in meiner Tasche herum auf der Suche nach den Ohrstöpseln, die ganz sicher da irgendwo sein mussten, die ich aber nicht fand. Nach ein paar Minuten gab ich auf, setzte mich auf den Matratzenrand und überlegte, was ich tun sollte, jetzt, da ich das mit dem Schlafen ohnehin vergessen konnte. Richard. Tagelang hatte ich kaum an ihn gedacht, und wenn, dann nicht unbedingt positiv, in den letzten Stunden aber hatte er sich immer wieder in meinen Kopf geschlichen. Und in meinen Bauch. Ich spürte plötzlich das unbedingte Verlangen, mit ihm zu sprechen. Ich nahm mein Handy von dem Regal über der Matratze, schlüpfte in das nächste Paar Flip-Flops, das ich finden konnte, merkte, dass es Lucys waren, zwei Nummern zu klein für meine Füße, beschloss, dass das egal war, und öffnete die Tür. Autolärm schlug mir entgegen.

»Daphne? Es ist gleich Mitternacht. Ist was passiert?«

»Nein, ich kann nur nicht schlafen …«

»Ich schon.«

»Tut mir leid. Hab ich dich geweckt?« Ich wusste, wie Richard klang, wenn man ihn aus dem Schlaf riss. So wie jetzt. Insofern war meine Frage ziemlich überflüssig, ich stellte sie aber trotzdem, süß und anschmiegsam. Wie eine Katze, die sich ihren Platz auf dem Schoß erschmust, genau so fühlte ich mich.

Nachdem ich die letzten Tage damit verbracht hatte, Richard nicht zu vermissen, war ich auf einmal übermannt von einer unerbittlichen Sehnsucht. Ich wollte mich neben ihn in unser Bett legen, damit er mich fest in den Arm nehmen und mir einen Kuss auf den Nacken geben konnte, wie er es immer tat. Ich konnte ihn förmlich riechen. Meine Fingerspitzen meldeten eine Art Phantom-Berührung. Es war so intensiv, dass es seltsam war, und wenn in meinem Kopf Platz dafür gewesen wäre, hätte ich mich vielleicht darüber gewundert und mich gefragt, was diese 180-Grad-Wendung in meinem Gefühlszentrum veranlasst hatte. Aber so, wie es war, war alles, was ich tun konnte, schnurren.

»Ich hab noch nicht so lang geschlafen, ist nicht so schlimm.« Richard gähnte lang gezogen am anderen Ende der Leitung. »Was ist das denn für ein Krach? Stehst du an der Autobahn?«

»Wir parken unter einer sechsspurigen Schnellstraße. Neben einer vierspurigen Hauptstraße. In Lissabon.«

»Dann ist es ja kein Wunder, dass du nicht schlafen kannst.«

»Ja. Das und …«, in meinem Bauch kribbelte es, »ich hab dich vermisst, glaube ich.« Schmetterlinge! Wer hätte damit heute noch gerechnet?

Richard atmete entspannt ein und aus. »Ach, Kleines. Du fehlst mir auch.«

Fast hätte ich gequietscht vor Glück, beließ es aber bei einem Lächeln. »Ich liebe dich.«

»Und ich liebe dich.«

Mehr brauchte ich nicht. Das Gleichgewicht war wiederhergestellt. Ich verstand gar nicht, was in der letzten Woche mit mir los gewesen war. Was genau war mein Problem gewesen? Es war doch alles in Ordnung, sogar mehr als in Ordnung. Geradezu wunderbar war es. Ich war im Urlaub, zu Hause wartete der Mann, den ich liebte, der mich auch liebte … es war genau so, wie Betty gesagt hatte. »Okay, ich lass dich dann mal weiterschlafen«, sagte ich, »du musst morgen bestimmt früh aufstehen. Ist doch Montag oder?« Hätte ich bloß nicht gefragt.

»Ja, ist es«, antwortete Richard. Hätte er bloß wenigstens kurz über das nachgedacht, was er als Nächstes sagte. »Aber ich kann ja ausschlafen.«

»Wie? Ausschlafen?« Ich schnurrte nicht mehr.

»Ähm«, machte er, und ich hörte förmlich, wie ihm sein Fehler bewusst wurde, wie er angestrengt nach einer Erklärung suchte, die mich nicht böse machen würde. Es gab sie nicht. Er seufzte. »Ich hab mir freigenommen.«

»Morgen?«

»Die nächsten zwei Wochen.«

Ich schnappte nach Luft. Nichts war mehr weich und anschmiegsam. Keine Spur mehr von Schmetterlingen, stattdessen ein Haus aus Glas, kalt und scharfkantig, in das jemand einen Stein geworfen hatte. Ich hörte das Klirren, die Splitter flogen, und ich merkte die Stiche in der Magengegend, als die Scherben sich in mich bohrten. »Du hast dir zwei Wochen freigenommen? Ausgerechnet jetzt? Ausgerechnet dann, wenn ich selbst im Urlaub bin?« Meine Stimme überschlug sich vor Empörung mit jedem Fragezeichen. Zumindest in meinem Kopf war sie lauter als die Schnellstraße.

Richard versuchte, sich zu erklären. »Das ist alles ziemlich scheiße gelaufen, ich weiß. Aber plötzlich hat es gut gepasst, weil wir die meisten Projekte abgeschlossen haben, und nachdem die letzten Wochen so viel zu tun war …«

»Du konntest dir nicht einen einzigen Tag freinehmen, bevor ich weggefahren bin!«

»Ja eben, weil so viel zu tun war.«

»Aber jetzt plötzlich geht es?!«

»Daphne, hörst du mir eigentlich zu?«

Berechtigte Frage, und: Nein, ich hörte nicht zu. Ich war wütend. Rasend wütend. Taub vor Wut. »Seit zwei Jahren versprichst du mir, dass wir zusammen Urlaub machen. Und nie bekommst du frei. Nie. Und wenn ich einmal beschließe, mit meinen Freundinnen wegzufahren, statt in Hamburg zu hocken und meine freie Zeit damit zu verbringen, darauf zu warten, dass du endlich fertig bist mit deinem Musikscheiß, dann klappt es plötzlich mit deinem Urlaub. Denkst du, ich bin bescheuert?«

»Du legst dir das jetzt irgendwie zurecht, damit du auf mich sauer sein kannst.«

»Ja, Richard, genau, weil es mir so viel Spaß macht, sauer auf dich zu sein. Das ist auch der Grund, warum ich überhaupt noch mit dir zusammen bin. Weil ich mich so unendlich gern über dich aufrege.«

Er war still, anders still als bei den Telefonaten der letzten Tage. Als wir uns einfach nichts zu sagen hatten. Diese Stille war voller Dinge, die gesagt werden wollten, Entschuldigungen und Anschuldigungen auf beiden Seiten. Aber wir waren wohl beide überrollt von der Entwicklung dieses Gesprächs und der Wucht des Ungesagten. Eine kleine Glashausscherbe piekte mich in die Niere und gab mir die Energie für ein letztes Wort. »Arschloch«, sagte ich. Und dann legte ich auf.

Ich weinte noch ein bisschen unter der Schnellstraße. Als ich endlich wieder müde war und meine Nase verstopft, strich ich mir die Haare aus dem verschwitzten Gesicht und stieg in den Bus. Im Licht der Straßenlaterne, das orange durch das Fenster fiel, lag Lucy auf der Matratze und kratzte sich im Schlaf, verbissen und ohne Aussicht auf ein schnelles Ende.