Kapitel 23
Als der erste Silberstreif am Horizont erschien, bogen Michael und Chris in die Einfahrt der Gouverneursresidenz ein. Die Villa stand auf einem parkähnlichen Grundstück mit hohen Tannen und sanft gewellten Rasenflächen. Felsblöcke waren so raffiniert positioniert worden, dass sie wirkten, als wären sie schon immer hier gewesen. Chris staunte über die Größe des Hauses im Tudorstil.
»Unglaublich, dass unser Onkel es so weit gebracht hat.«
Michael lächelte. »Sie sind beide sehr erfolgreich. Politik liegt ihnen im Blut.«
»Ich erinnere mich.«
»Wie genau hast du ihren Werdegang verfolgt?«
Chris zuckte die Schultern. »Mal mehr, mal weniger. Es gibt Zeiten, da lese ich alles, was über sie im Netz steht. Und dann verbiete ich mir wieder, mich mit ihnen zu beschäftigen. Das funktioniert immer so lange, bis einer von ihnen etwas Medienwirksames sagt oder tut.«
»Ja, darin sind die zwei unschlagbar.« Michael musterte seinen Bruder. »Wie lang hast du noch davon geträumt, Politiker zu werden?«
Chris schnaubte. »Das war schnell vorbei. Als ich zurückkam, habe ich keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Bei der Vorstellung, im Rampenlicht zu stehen, wurde mir speiübel. Viele Jahre lang war ich auf der Flucht vor allen Kameras. Ich wollte nicht, dass plötzlich jemand sagt: ›Du siehst gar nicht aus wie Chris.‹ Meine größte Angst war, aufzufliegen und meinen Eltern das Herz zu brechen. Und wenn er erfahren hätte, dass ich noch lebe, hätte er alle ausgelöscht. Dann hätte ich meine Eltern, deine und dich für alle Zeit verloren.«
»O Mann.«
»Für ein Kind ist das eine schwere Bürde«, sagte Chris. »Ich habe Glück, dass ich nicht komplett durchgedreht bin – ich bin bloß ein bisschen reserviert.«
Michael hob eine Augenbraue. Reserviert? Das sarkastische Grinsen, mit dem Chris ihn ansah, traf ihn mitten ins Herz. Es war ihm fremd und vertraut zugleich.
Wir haben so viel Zeit verloren.
»Du bist ein verdammter Einsiedler.«
»Pass auf, was du sagst, Mann.« Chris drehte sich zum Rücksitz um. Brian schlief immer noch so tief und fest, wie es nur Kinder konnten.
»Das sollte ein Scherz sein. Mir ist völlig klar, wie verkorkst mein Leben ist«, sagte Chris.
»Du musst was ändern. Dein Sohn muss seine Familie kennenlernen. Und wir ihn.«
»Das habe ich vor. Sobald das Gespenst weg ist.«
»Und was ist, wenn wir den Typen nicht finden? Wenn er uns entwischt? Willst du dich dann wieder in der Pampa verstecken? Das ist kein Leben für ein Kind. Verdammt, das ist überhaupt kein Leben.«
»Verstecken gibt es für mich nicht mehr«, sagte Chris schlicht. Michaels Blick hielt er stand.
Michael hielt neben einem Pfosten mit einer Minitastatur und ließ das Fenster herunter. »Hoffentlich. Ich lasse dich nämlich nicht noch mal weg«, murmelte er. Nachdem er einen sechsstelligen Code eingetippt hatte, öffnete sich das Rolltor, das die Zufahrt zum Haus versperrte.
Die Einfahrt endete in einem Bogen vor dem ausladenden zweigeschossigen Wohngebäude. Aber Michael lenkte den Wagen links um das Gebäude herum über eine abschüssige Zufahrt in eine Art Tiefgarage, die unter dem Haus in den Hang eingelassen war.
»Der Privatparkplatz der Residenz?«
Michael nickte. »Für mindestens zehn Fahrzeuge.«
»Hast du den Code?«
»Ich gehe seit vier Jahren hier ein und aus. Und zu meinem Geburtstag im letzten Jahr hat Onkel Phil für mich hier eine Riesensause ausgerichtet. Die Sicherheitsvorkehrungen sind ziemlich engmaschig. Sein Leibwächter und persönlicher Assistent ist rund um die Uhr vor Ort. Aber alle Familienmitglieder kennen die Codes für die Tore.« Außer dir.
Chris sagte nichts. Michael nahm an, dass er sich fehl am Platz fühlte. Chris war sein Bruder – irgendwie. Er gehörte zur Familie – irgendwie. Aber nicht so richtig.
Er hatte ziemlich viel verpasst.
Will er tatsächlich in einen Clan zurück, der ständig in der Öffentlichkeit steht?
»Die Medien werden die Sache gnadenlos ausschlachten.« Michael beließ es bei der schlichten Feststellung.
»Das denke ich mir«, antwortete Chris leise.
»Du wirst dein Bild auf jedem Fernsehschirm und auf jedem Titelblatt sehen. Man wird sich um dich und Brian reißen.«
Chris rutschte auf die Sitzkante. »Ich weiß.«
»Willst du das?«
Chris schwieg.
Michael lenkte den Range Rover auf einen freien Platz neben einem PKW. Auf den markierten Flächen standen noch vier weitere Fahrzeuge. Eines sah aus wie der Mercedes seines Vaters, aber ganz sicher war Michael sich nicht. Für ihn sahen diese Autos alle gleich aus. Er wandte sich Chris zu.
»Erträgst du diesen ganzen Zirkus? Kommst du mit den öffentlichen Auftritten und mit der Presse klar?«
Chris warf ihm einen ernsten, entschlossenen Blick zu. »Dieser ganze Mist ist mir zuwider. Aber ich will meine Familie wiederhaben. Ich will mit dir ein Bier trinken gehen und reden, bis die Bar zumacht. Ich will mit dir zelten und dir nachts mit seltsamen Geräuschen und Schattenspielen eine Höllenangst machen, so wie früher. Ich will Brian unter dem Weihnachtsbaum sitzen sehen, will, dass Jamie und Cecilia ihn fotografieren und mit Weihnachtsplätzchen vollstopfen. Das ist es, was ich mir wünsche. Nicht den ganzen anderen Rotz.«
Die Welle von Gefühlen, die aus Chris herausbrach, traf Michael mit voller Wucht. Er musste heftig blinzeln. Die Brüder starrten einander an.
»Mom ist schwer krank«, sagte Michael. »Weißt du das?«
Chris wurde blass. »Wie schwer?«
»Es sieht schlecht aus. Sie braucht eine Niere. Sie kann kaum noch aus dem Haus. Den Job im Krankenhaus musste sie aufgeben. Natürlich ist sie immer noch im Vorstand. Aber zu den Sitzungen kann sie nicht mehr.« Michael musterte seinen Bruder. Betrachtet Chris sie noch als seine Mutter?
Chris schwieg, aber Michael sah genau, wie sehr ihn das soeben Gehörte beschäftigte. Wie fühlte es sich an, wenn man erfuhr, dass die Mutter, die man seit zwanzig Jahren nicht gesehen hatte, todkrank war?
»Ich will sie sehen. Heute noch. Sobald wir mit Dem Senator geredet haben, fahren wir zu ihr.«
Michael konnte sich vorstellen, wie schwer Chris diese Worte fielen. Sicher war es ein riesiger Schritt, nach so langer Zeit aus einem schützenden Kokon auszubrechen.
»Die Sache mit Weihnachten kriegen wir hin. Ganz sicher«, sagte Michael schließlich.
»Ich muss mich entscheiden«, sagte Chris. »Aber ich weiß nicht, ob ich das Blitzlichtgewitter durchstehe.«
Michael verspürte den unbändigen Drang, seinen kleinen Bruder zu beschützen. Jetzt konnte er etwas für ihn tun. Endlich. »Die Medienmeute kannst du mir überlassen.«
Chris schaute ihn unsicher an. »Wirklich? Nun gut, wenn es so weit ist, wird mir schon was einfallen.«
Michael legte die Hand an die Wagentür. »Kommst du mit rauf?«
Chris warf einen Blick auf den Rücksitz. »Ich bleibe lieber hier. Ich will Brian nicht wecken.«
Michael nickte. Für ein Treffen mit seinem Vater war sein Bruder noch nicht bereit. Aber er würde sich ihm stellen, sobald er so weit war. Und immerhin wollte er mit ihrer Mutter reden.
»Okay. Komm einfach nach, wenn er aufwacht oder wenn dir danach ist. Ich weiß nicht, wie lange das da oben dauern wird.«
Chris sah Michael zur Treppe joggen und fühlte sich wie ein Feigling. Früher oder später musste er Dem Senator gegenübertreten. Aber den Mann im Morgengrauen aus dem Schlaf zu reißen, war keine ideale Voraussetzung für ein Wiedersehen. Das Gespräch mit Cecilia war dringender. Chris hatte schon einmal ein Elternpaar verloren und es bereut, die beiden jahrelang nicht gesehen zu haben. Das durfte ihm nicht noch einmal passieren. Wenn Cecilia tatsächlich so krank war, wie Michael sagte, musste er sie schnell besuchen. Sie hatte ein Recht darauf zu erfahren, dass ihr Sohn am Leben war.
Habe ich das Richtige getan? Hätte ich schon vor Jahren mit meinen echten Eltern Kontakt aufnehmen sollen?
Er atmete tief aus und lehnte sich zurück. Die regelmäßigen Atemzüge vom Rücksitz beruhigten ihn.
Was er getan hatte, hatte er tun müssen. Der Geistermann hatte in den letzten Tagen deutlich gezeigt, dass er immer auf der Lauer gelegen hatte. Wenn Chris irgendwann seine wahre Identität offenbart hätte, hätte er damit das Leben aller Brodys aufs Spiel gesetzt.
Aber jetzt würde er das Gespenst zur Strecke bringen. Er und Michael würden erst ruhen, wenn Jamie wieder da war und der Geistermann für immer verschwunden. Dann war auch Brian in Sicherheit.
Chris verzog das Gesicht. Würde er Brian jemals unbesorgt aus den Augen lassen können? Er konnte den Jungen nicht sein Leben lang bewachen. Was, wenn Michael mit ihm ein Eis essen gehen wollte? Würde er seinen Sohn mit ihm gehen lassen?
Chris’ Magen zog sich zusammen.
Michael war sein Bruder und würde für den Jungen sein Leben geben. Daran hatte Chris keinen Zweifel. Aber wird er auch gut genug auf ihn achten?
Schon ein winziger Moment konnte alles entscheiden. Eine kurze Ablenkung konnte zur Katastrophe führen. Chris rieb die nassen Handflächen an den Shorts. Verdammt. Er brauchte dringend eine Therapie.
Wenn er in ein normales Leben zurückkehren wollte, musste er Brian Freiräume lassen. Er hatte dem Jungen viel beigebracht. Brian wusste, dass er auf sich achtgeben musste und Fremden nicht trauen durfte.
Aber er ist ein Kind.
Chris lehnte den Kopf wieder an den Sitz. Dabei wollte er ihn viel lieber gegen eine Wand knallen. Er wusste, was richtig war. Er wusste, was er tun musste. Aber beim Gedanken daran, es auch tatsächlich zu tun, wurde ihm flau. Höchste Zeit für Eier in der Hose.
Ein dumpfes Klopfen riss ihn aus seinen düsteren Betrachtungen. Er drehte sich zu Brian um. Alles ruhig.
Es klopfte erneut. Und dann noch einmal.
In höchster Anspannung suchte er mit den Augen die Tiefgarage ab. War außer ihnen noch jemand hier? Draußen war es zwar noch nicht richtig hell, aber die Garage war gut beleuchtet. Chris sah niemanden.
Dumpfes Klopfen.
Plötzlich regte sich etwas am Rand seines Blickfelds. Hat sich der Wagen neben uns grade bewegt? Nein, es saß keiner drin. Chris reckte sich, um in den Fußraum vor den Rücksitzen sehen zu können. Keine Chance. Nach einem weiteren Blick zu Brian öffnete er die Tür.
Jetzt ruckelte der PKW im Takt mit zwei Klopfgeräuschen.
Langsam glitt Chris aus dem SUV. Er ließ die Tür offen stehen, war mit drei Schritten bei dem anderen Fahrzeug und spähte durch die Fenster. Die Sitze waren leer.
Jemand liegt im Kofferraum.
Chris brach der Schweiß aus allen Poren. »Scheiße«, flüsterte er. Er starrte den Kofferraum an.
Und wartete auf weitere Geräusche.
Alles blieb still.
Chris ging hinter das Fahrzeug und horchte angestrengt.
Nichts.
Hatte er sich alles nur eingebildet? Nein. Er hatte definitiv etwas gehört und den Wagen dabei vibrieren sehen. Er hielt die Hand über den Kofferraum, als könnte er dadurch besser hören. Nichts passierte.
Chris richtete sich auf. Was jetzt?
Wegen der getönten Scheiben des SUVs war Brian nicht zu sehen, aber durch die offene Tür auf der Beifahrerseite konnte jederzeit jemand ins Fahrzeug springen. Chris ging zu Michaels Wagen zurück und legte die hohlen Hände ans Fenster, um nach Brian schauen zu können.
Der Junge schlief. Sein Kopf war zur Seite gekippt, sein Mund stand offen.
Chris wartete darauf, dass sein Herzschlag sich beruhigte.
Dann fuhr er herum. Das Klopfgeräusch war wieder da. Diesmal sah er, wie der Wagen dabei bebte. Mit zwei Schritten war er am Kofferraum und tippte aufs Blech. »Hey! Ist da wer?«
Die Antwort war ein noch heftigeres Klopfen.
Etwa vermischt mit erstickten Schreien?
»Ach du je!« Chris tastete an der Kante des Kofferraumdeckels hektisch nach einer Entriegelungsmöglichkeit. Er drückte gegen jede kleine Erhebung, bis er das erlösende Klacken hörte. Der Kofferraum öffnete sich und Chris starrte in die weit aufgerissenen Augen seiner Schwester.
Die plötzliche Helligkeit blendete Jamie. Es war, als würden sich kleine Dolche in ihre Augen bohren. Sie drückte das Gesicht in den Teppich.
Seit der Kerl die Mittelkonsole geöffnet hatte, war es im Kofferraum nicht mehr stockduster gewesen. Aber so viel Licht waren ihre Augen nicht mehr gewöhnt. Ein Schatten beugte sich über sie.
»Jamie?« Starke Hände betasteten ihre Fesseln und das Klebeband über ihrem Mund. »Oh, mein Gott!«
Chris? Sie spähte zu der Gestalt hinauf, die sich langsam in ihren Bruder verwandelte. Er schob die Fingernägel unter das Klebeband und riss es ab. Zusammen mit den feinen Härchen um ihren Mund und der obersten Hautschicht ihrer Lippen. Jamie schrie auf.
»Verdammt«, sagte Chris. »Wie zum Teufel …?« Er untersuchte die Fesseln an ihren Hand- und Fußgelenken. »Ich brauche was, womit ich die durchschneiden kann. Moment.« Er hastete davon.
Jamie atmete die frische Luft in gierigen Zügen und blinzelte die Tränen weg. Dann ließ sie matt den Kopf auf den Teppich sinken. »Chris«, krächzte sie.
»Warte.« Er klang nicht allzu weit entfernt.
Gleich darauf stand er mit einem Multifunktionswerkzeug vor ihr und suchte daran nach der Klinge. »Wie zum Teufel bist du dadrin gelandet? Ist das der Wagen des Geistermanns? Du bist nicht verletzt, oder?« Ohne Antworten abzuwarten, machte er sich mit der Klinge an ihren Fesseln zu schaffen.
Jamie leckte sich die Lippen und musste dabei einen Aufschrei unterdrücken. Dann waren plötzlich ihre Hände frei. Schmerzen wie Stromschläge pulsierten durch ihre Arme. Ihre Finger waren nun nicht mehr taub, sie brannten. Jamie stöhnte auf.
»Geht’s?« Chris blickte von den Fußfesseln auf und sah ihr forschend ins Gesicht. Sie nickte und versuchte, sich zu räuspern.
»Alles in Ordnung«, krächzte sie.
»Wer hat dich da reingesteckt? Wer …«
»Der Tätowierte«, presste sie mühsam hervor.
Chris hielt inne. »Ist er mit dir hierhergefahren?«
Jamie nickte. Auf Chris’ Zügen spiegelten sich Angst und Wut. Er wandte sich wieder den Fesseln zu.
»Wo …« Der Rest ihrer Frage ging in einem Hustenanfall unter.
»Wir sind in der Tiefgarage unter der Gouverneursvilla. Verdammt! Das heißt, das tätowierte Gespenst ist oben. Mit Michael!«
»Was?« Jamies Gedanken gefroren. Michael? Hier?
»Weißt du, wer der Kerl ist, der dich entführt hat?«, fragte Chris gehetzt. Er sägte hektisch an den Fesseln.
»Der Tätowierte? Ja. Er hat auch die Kinder verschleppt.«
Chris nickte. Er konzentrierte sich auf seine Arbeit. »Und in Demming hat er gerade erst meinen besten Freund ermordet. Er ist hinter mir her.«
»Ich weiß. Und auch, dass er den Bäcker umgebracht hat. Das tut mir sehr leid, Chris. Glaubst du, Michael …« Ihre Gedanken machten Sprünge. »Wo ist Brian?«
»Hier«, sagte eine kindliche Stimme.
Jamie und Chris zuckten zusammen. Der Junge spähte vorsichtig in den Kofferraum.
»Zurück in den Wagen mit dir, Brian.«
»Aber Dad, warum …«
»Zurück in den Wagen!«
Das Gesicht verschwand, Jamies Herz zog sich zusammen. Ihr Neffe.
»Wir müssen hier weg. Ich muss ihn in Sicherheit bringen.«
Jamie spürte, wie ihre Füße freikamen. »Brian? Aber wo ist Michael?«
Chris schob die Arme unter sie und hob sie mühelos aus dem Kofferraum. Er stellte sie auf die Füße, aber ihr zitterten die Knie. Sie musste sich an ihm festhalten.
»Wo ist Michael?«, fragte sie noch einmal.
»Oben.«
»Und du glaubst, der Tätowierte … verdammt, wie heißt er eigentlich?«
»Gary Hinkes. Aber ich nenne ihn den Geistermann.«
»Hinkes ist oben? Mit Michael? Weiß Michael das?«
»Scheiße, nein. Wir wollten mit Dem Senator reden. Er übernachtet hier bei seinem Bruder. Michael ist raufgegangen, ich habe im Wagen gewartet und plötzlich das Klopfen gehört.«
Jamie klammerte sich an Chris. »Wir müssen ihn warnen. Was ist, wenn …«
»Und wir müssen so schnell wie möglich hier weg. Ich lasse das Monster nicht in Brians Nähe.«
»Erst müssen wir Michael …«
»Ja, klar. Ich gehe jetzt rauf. Ich lasse meinen Bruder nicht hängen.«
Ein paar Sekunden lang fehlten Jamie die Worte. Ihre Finger gruben sich in Chris’ Arm. »Was sagst du da?«
Chris’ Blick verhakte sich in ihrem. »Michael ist mein Bruder.«
Jamies Welt zersprang in tausend Scherben. Ihre Beine gaben nach, aber Chris hielt sie fest.
»Es ging nicht anders«, sagte er. Hellbraune Augen in derselben Form wie Michaels grüne schauten sie um Verständnis bittend an.
Über Jamie brach eine ganze Bilderflut herein. Bilder von Chris, Bilder von Michael.
Sie wusste nicht, warum – aber sie verstand ihn tatsächlich. Im Moment war nur wichtig, dass er wohlbehalten vor ihr stand. Fragen konnte sie später stellen. Als sie nickte, sah sie ihm die Erleichterung deutlich an.
»Ich erkläre dir alles. Aber nicht jetzt. Kannst du fahren?«
Jamie versuchte, einen Schritt zu machen, aber ihre Füße waren völlig taub. »Nein.«
»Okay. Setz dich hinten in den Wagen.« Er nahm sie an den Schultern und zwang sie, ihn anzusehen. »Du passt auf Brian auf. Diese Aufgabe habe ich bisher noch nie jemandem überlassen.« Sein Blick war todernst. Jamie konnte nur nicken. Chris’ rückhaltloses Vertrauen überwältigte sie.
»Ihr beide versteckt euch im Fußraum und wartet, bis Michael und ich bei euch sind. Okay?«
Jamie fing an zu zittern. »Du kannst nicht da rauf. Er darf dich nicht sehen.«
»Daddy?« Brians Stimme klang schrill und mindestens so angstvoll wie Jamies.
»Keine Sorge, Brian. Jamie bleibt bei dir. Ich bin gleich wieder da und bringe Michael mit.«
Brian linste aus dem SUV und Jamies Herz schmolz dahin.
»Brian, das ist deine Tante Jamie, von der ich dir erzählt habe.«
Ängstliche Augen sahen sie an. Brian nickte ernst.
»Hallo Brian.« Jamie saugte den Anblick des Jungen in sich auf. Er hatte so viel Ähnlichkeit mit Chris und Michael. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten.
Brian musterte sie besorgt. »Tut ihr was weh?«
»Sie wurde ganz schön durchgeschüttelt, sie ist müde und durcheinander.« Chris half Jamie auf den Rücksitz des Range Rovers. »Pass gut auf deine Tante auf. Ich bin in einer Minute wieder da.«
»Chris!«, rief Jamie, bevor er die Wagentür zuschlug. »Sei vorsichtig. Er ist gefährlich.« Das letzte Wort flüsterte sie wegen des kleinen Paars Ohren an ihrer Seite.
»Ich bin gewappnet.« Chris griff tief in die Tasche seiner Cargo-Shorts und ließ sie einen Pistolenknauf sehen.
Jamie schnappte nach Luft. »Was willst du … Wo hast du die her?«
»Die gehört Michael. Ich habe sie im Handschuhfach gefunden, als ich nach einem Werkzeug gesucht habe, um deine Fesseln durchzuschneiden. Aber meine eigene habe ich auch.« Er klopfte an seine Hüfte. »Wir waren beide früher Pfadfinder und halten uns gern an die Devise Allzeit bereit.«
»Ach ja?«, flüsterte sie. Es gab ziemlich viel, was sie über Michael Brody noch nicht wusste. Und über Chris.
»Michael hat keine Waffe und da oben läuft dieser Typ rum.« Ihr lief ein Schauer über den Rücken.
Chris nickte ernst. Er zog sein Handy aus der Tasche und gab es ihr. »Ruf die Polizei. Ich muss los.« Der liebevolle Blick, den er Brian zuwarf, ließ Jamie das Herz aufgehen. »Ich hab’ dich lieb, Kumpel. Bin gleich wieder da.« Chris warf die Wagentür zu und Jamie hörte ihn weglaufen.
Sie kauerte sich in den Fußraum, wählte den Notruf und zwang sich, dabei ihren Neffen anzulächeln. »Komm doch zu mir runter. Sobald ich fertig telefoniert habe, erzähle ich dir was über deinen Vater, als er noch ein kleiner Junge war.« Ihr Nacken, ihre Hand- und Fußgelenke schmerzten. Und ihr Bruder war gerade weggerannt, einem Mörder entgegen. Nicht irgendeinem Mörder, sondern dem Killer aus seinen Albträumen.
Bitte sei vorsichtig, Chris.
Brian rutschte zögernd vom Sitz. Seine Augen musterten sie ernst. Jamie suchte nach einer halbwegs bequemen Position, streckte die Beine aus und rieb sich die Handgelenke.
Und bring Michael unversehrt mit.
Michael rannte die Treppe hinauf. Es gab einen Fahrstuhl, aber den benutzte der Gouverneur nur als Lastenaufzug. Auf dem Weg durch die Flure Richtung Küche kam er sich fast vor wie ein Einbrecher. Aber dafür gab es keinen Grund. Seit der Wahl seines Onkels zum Gouverneur ging er hier ein und aus. Während Phils erster Amtszeit hatte er sogar zwei Monate im Haus gewohnt und vor Ort für eine Artikelserie über ein Gesetz recherchiert, das den Senat beschäftigte.
Er musste seinen Onkel und seinen Vater wecken. Aber der Kaffeeduft, der in der Luft hing, verriet ihm, dass bereits jemand wach war.
Kaffee! Ein Königreich für einen Kaffee.
Plötzlich fühlte er sich furchtbar müde. Er rieb sich die Augen. Die lange Fahrt durch die Nacht und die Angst um Jamie machten sich bemerkbar. Aber nach einer Tasse Kaffee würde die Welt vielleicht anders aussehen. Er drückte die Schwingtür zur Küche auf. Niemand da. Michael schnappte sich die halbvolle Kaffeekanne. Irgendwo im Haus verabreichte sich gerade jemand die erste Dosis Koffein. Er goss einen Becher voll und sog den duftenden Dampf ein. Wenn nur die Polizei anrufen und sagen würde, dass sie den Wagen mit dem Tätowierten gefunden hatten. Wenn sie ihn nur kriegen würden. Vielleicht …
Die Küchentür schwang auf, der Sicherheitschef seines Onkels steckte den Kopf herein und erstarrte. Dem Mann fiel buchstäblich die Kinnlade herunter. Dann blinzelte er heftig. Michael konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Diesen verstockten Burschen so aus dem Konzept zu bringen, war nicht leicht. Aber, wow, wie kam er zu dem gigantischen Bluterguss an der Wange?
»Hey Gerald. Ich will mit meinem Vater reden, bevor er los muss. Tut mir leid, dass ich so früh störe. Aber Mom meinte, mein Onkel und mein Vater würden noch vor Tagesanbruch fliegen. Wissen Sie, wann genau? Ich nehme mal an, Sie fahren ihn und Onkel Phil zum Flugplatz, richtig?«
Gerald blinzelte noch ein paarmal, warf einen Blick auf die Uhr an der Kaffeemaschine und zerrte an seinen Jackenärmeln. Er erinnerte Michael immer an eine Eule. Den schlaksigen Körper versteckte er meist in übergroßen braunen oder schwarzen Jacketts, die an Flügel erinnerten. »Ich glaube, es geht in einer halben Stunde los.«
»Prima. Dann bin ich ja noch rechtzeitig gekommen. Sollte ich mich vor dem Kerl in Acht nehmen, der Ihnen das Ding an der Wange verpasst hat?«
»Kleiner Unfall.« Der Eulenmann starrte Michael noch ein paar Sekunden lang an.
Okay. Geht mich nichts an.
»Kaffee?« Michael gab sich Mühe, das Schweigen zu überbrücken. Albern. Gerald hatte den Kaffee wahrscheinlich selbst gemacht.
Den Blick auf Michael geheftet, strebte Gerald zur Schwingtür zurück. Voller Unbehagen sah Michael, wie er dabei die Hand in der Tasche vergrub.
Da ist aber jemand alles andere als erfreut, dass ich hier einfach reinplatze. Aber warum? Michael kam alle paar Wochen vorbei und immer ohne Voranmeldung. Was war heute anders? Sollte er sich entschuldigen?
Geralds Rücken berührte die Tür. Er streckte die Hand aus, um sie vollends aufzustoßen. Dabei rutschte sein Jackenärmel ein Stück nach oben.
Michael starrte auf den farbigen Hautstreifen.
Die Zeit blieb stehen.
Warum waren ihm die Tätowierungen nie aufgefallen? Weil er immer die blöden Jacketts trägt. Und Autohandschuhe.
Michael stieß sich ab, machte einen Sprung nach vorn und schleuderte dem Mann seinen heißen Kaffee ins Gesicht. Aufheulend warf Gerald sich rückwärts durch die Tür. In dem Moment, in dem er die Pistole aus der Tasche zog, rammte Michael ihm die Schulter in die Seite. Sie krachten zu Boden, ein Schuss löste sich. Michael spürte ein Brennen an den Rippen, seine Ohren klingelten.
Er lag auf Gerald, knallte dessen Arm gegen den Boden und sah die Waffe wegschlittern. Michaels rechte Brustseite stand in Flammen. Sie waren auf dem spiegelglatt polierten Holzboden des offiziellen Speisezimmers gelandet.
Auf Händen und Knien arbeitete Michael sich zu der Waffe vor und spürte dabei, wie ein warmes Rinnsal sein Hemd durchdrang. Endlich bekam er die Pistole zu fassen. Seine Finger schlossen sich um den vertrauten Knauf einer Glock. Mit zitternden Armen richtete er sie auf Gerald, blickte auf und schluckte. Gerald hätte sein Spiegelbild sein können.
Sie knieten beide am Boden, hatten beide eine Waffe in der Hand und zielten aufeinander.
Schwer atmend richtete Gerald seine zweite Waffe auf den blutenden Mann vor sich. Nach seiner Rückkehr aufs Anwesen hatte er sofort beide Pistolen eingesteckt. Er wollte sich nicht noch einmal so nackt fühlen wie vor dem Verkehrspolizisten, der ihm den Strafzettel verpasst hatte. Phil hatte ihn oft damit aufgezogen, dass er stets zwei Waffen trug. Jetzt würde er nicht mehr lachen.
Kaffee tropfte von Geralds Gesicht. Der Schmerz wich langsam einem Schockzustand. Michael Brody in der Küche stehen zu sehen, hatte ihm den Boden weggezogen. Wie zum Teufel ist der Mann so schnell von Ostoregon hierhergekommen? Gerald hatte angenommen, dass Brody in dem Kaff auf der Ostseite der Kaskaden nach seiner Freundin suchte. Und jetzt beschmutzte er mit seinem Blut den Fußboden des Gouverneurs und sah aus, als würde er gleich ohnmächtig werden.
Er hatte sehen können, wie Brody beim Anblick der Tattoos ein Licht aufgegangen war. Früher war er dem Mann keinen Blick wert gewesen. Mehr als einen kurzen Gruß hatten sie nie ausgetauscht, und Gerald hatte immer darauf geachtet, die Arme bedeckt zu halten. Der Gouverneur fand den Körperschmuck unprofessionell und erwartete von seinem Sicherheitschef, dass er lange Ärmel und Autohandschuhe trug, vor allem zu offiziellen Anlässen.
Jamie Jacobs musste aufgefallen sein, dass er tätowiert war. Vermutlich hatte sie einen Blick auf seine Handgelenke erhascht.
»Wo ist Jamie?«, schnaufte Michael.
Gerald lachte.
»Wo ist sie? Was hast du mit ihr gemacht?«
Gerald grinste ihn an.
»Wenn du ihr etwas angetan hast, mache ich dich alle.«
»Dann halte ich jetzt wohl besser den Mund.«
»Du verdammtes krankes Arschloch«, stieß Brody hervor. »Du hast die Kinder umgebracht.«
Gerald hob eine Augenbraue und korrigierte die Position seiner Waffe. Brodys Arm sank um ein paar Zentimeter nach unten.
»Ich habe von den Fotos gehört.«
»Von welchen Fotos?«
»Die Polizei hat Polaroids von dir … und den Kindern.«
Ach, diese Fotos. »Soll mich das beeindrucken?«
»Was hast du mit Jamie gemacht?« Brodys Waffe zitterte.
Einer von Geralds Mundwinkeln kräuselte sich nach oben. Er sah keine Notwendigkeit, Fragen zu beantworten.
»Ist sie tot? Hast du sie umgebracht, du Stück Dreck?« Brodys Arme zitterten mit jeder Frage heftiger. »Wo ist sie?«
Gerald hätte die Sache am liebsten mit einem gezielten Schuss hinter sich gebracht. Aber das würde dem Gouverneur vermutlich nicht gefallen. Er hasste Skandale und im Moment konnte man alles noch wie einen Unfall aussehen lassen.
Brody musste aus dem Haus. Um sein Knie bildete sich bereits eine Blutlache. In ein paar Minuten würde er ohnmächtig sein. So lange konnte Gerald warten.
»Mich würde interessieren, warum es ein ganzer Bus voller Kinder sein musste.« Die zweite Stimme kam von weiter rechts. Aus dem Augenwinkel sah Gerald einen Mann mit gezogener Waffe ins Speisezimmer kommen. Was zum Teufel soll das hier werden? Geralds Blick hing weiter an Brody.
»Ich bring ihn um. Ich erschieße ihn gleich jetzt!«, schrie Gerald den zweiten Mann an, ohne Michael aus den Augen zu lassen. »Drück ab und Brody hat einen Sekundenbruchteil später eine Kugel im Herzen.« Er kniete ziemlich dicht vor der Wand. Der zweite Mann konnte sich nicht unbemerkt hinter ihn schieben.
»Chris. Nicht schießen«, schnaufte Brody. »Er muss mir erst sagen, wo Jamie ist.«
»Sie ist unten. Es geht ihr gut.«
Chris Jacobs? Gerald grinste. »Ihr beide seid Kumpels? Sicher habt ihr einiges gemeinsam.« Gerald sah die Hand, in der Brody die Waffe hielt, schwanken. Brody wirkte erleichtert.
»Mehr als du denkst«, zischte Brody. »Die Waffe weg.«
»Vergiss es, du Arsch! Du zuerst!« Gerald behielt Brody fest im Blick.
»Geh wieder runter«, befahl Brody Chris. »Das hier ist meine Sache.«
»Nein. Ich jage ihm eine Kugel in den Kopf«, widersprach Chris. »Er soll für das, was er mir und meinen Freunden angetan hat, bezahlen. Weißt du, wie oft ich mir gewünscht habe, ich wäre tot? Im Bunker und danach? Mein ganzes Leben lang war ich auf der Hut. Mein ganzes Leben lang habe ich nach diesem Kerl gesucht. Und jetzt kniet er direkt vor mir.«
Eine neue Stimme kam hinzu. »Wir wollen doch nichts überstürzen.«
Gerald lächelte, als er seinen Boss hörte.
Gott sei Dank. Michael atmete aus. Links von ihm hatte sein Onkel Phillip gesprochen.
Jetzt würde Gerald aufgeben.
Michaels Muskeln zitterten, seine rechte Seite brannte wie Feuer. Trotzdem konnte er den Blick nicht von Gerald lassen. Es ging einfach nicht.
»Nein!« Jamies Stimme kam aus Phillips Richtung.
»Ich habe was für dich, Gerald! Schau mal, was ich in der Garage gefunden habe«, sagte Phillip. Brian stolperte ins Speisezimmer, fiel hin und blieb vor Gerald liegen. »So eine Scheiße passiert, wenn man Befehle nicht befolgt!«
Chris machte einen Sprung nach vorn, aber es war zu spät. Gerald hatte sich den Jungen bereits geschnappt und drückte ihm die Pistole an die Schläfe. Die Augen starr auf seinen Sohn gerichtet, zielte Chris auf Geralds Kopf. Er wirkte wie versteinert. Sein Sohn war in den Händen seines schlimmsten Albtraums.
»Brian«, presste Chris hervor.
Michael wurde klar, dass Phillip den Jungen ins Zimmer gestoßen hatte. Und jetzt drückte er Jamie eine lange Klinge an den Hals. Ihre wütenden grünen Augen bohrten sich in Michaels.
Michaels Blick flog zwischen Jamie und seinem Onkel hin und her. »Du kannst sie loslassen, Onkel Phil. Sie gehört zu mir.«
Phillip hielt Jamie wie einen Schutzschild vor sich. Ihre Augen waren gerötet, das Haar hing ihr wirr um den Kopf. Sie wippte auf den Fußballen, als könnte sie kaum stehen. Phillip schaute Michael an und schüttelte den Kopf.
Michael bekam keine Luft. Seine Lunge versagte ihm den Dienst. Nein, Onkel Phil … warum? Er richtete die Waffe auf seinen Onkel, dann zögerte er. »Onkel Phil …« Sein Onkel ließ Jamie nicht los.
Michael schwankte. »Lass sie gehen. Es war Gerald, Onkel Phil. Gerald hat …«
Sein Onkel starrte Gerald an. »Was fällt dir ein, hier in meinem Haus einen Schuss abzufeuern?«
Gerald blinzelte. »Kleiner Unfall.«
»Es gibt keine Unfälle, verdammt. Sieh her, was du uns eingebrockt hast!« Phillips Gesicht färbte sich dunkler.
Michaels Blickfeld verengte sich. Plötzlich rutschten alle Puzzleteile an ihren Platz. Sein Magen krampfte sich zusammen. »Du hast es gewusst!«, schleuderte er seinem Onkel entgegen. Die Pistole zitterte nun heftig in seiner Hand. »Du hast gewusst, was Gerald getan hat!« Michael schaute Jamie an. »Ich bringe dich hier raus, Prinzessin.«
Ihr Blick hielt seinen fest, sie bewegte stumm die Lippen. Nenn mich nicht Prinzessin.
Verdammt noch mal. Er blinzelte. In diesem Moment wusste er, dass er alles für sie tun würde: sein Hab und Gut verschenken, seinen Job an den Nagel hängen, seine Freunde in die Wüste schicken – nur um den Rest seines Lebens mit ihr verbringen zu können und von diesen Augen angelächelt zu werden.
»Michael, bitte«, sagte Phillip betont geduldig. »Ich weiß nicht, was hier vor sich geht. Aber mit einer Pistole in mein Haus einzudringen, ist absolut unpassend.« Sein Onkel hatte sein Politikerlächeln aufgesetzt, aber die sonst so lebhaften Augen waren tot. Diese schnellen Stimmungswechsel waren nicht normal.
»Unpassend?« Michaels Kopf summte, seine Glieder bebten. »Das hier ist keine politische Debatte! Dein Sicherheitschef ist ein Killer. Er hat Kinder entführt und ermordet. Meinen Bruder und Jamies! Deinen Neffen! Warum hast du nichts unternommen?«
»Bring mich nicht dazu, deiner schönen Freundin wehzutun, Michael. Wir können über alles reden.«
Michael richtete die Waffe wieder auf Gerald. Der Tätowierte drückte Brian die Pistolenmündung so fest an die Schläfe, dass sich die Haut darum aufwölbte.
Vor lauter Wut konnte Michael nicht mehr klar sehen. Es war, als hätte er rote Nebel vor Augen. Er hörte Chris nach Luft schnappen.
Brian regte sich nicht. Sein Blick schoss zwischen seinem Vater und Michael hin und her.
»Erschieß mich und er tranchiert die Frau«, drohte Gerald.
Michael und Chris zielten nun beide auf den Gouverneur, dessen Klinge sich in Jamies Haut grub. Ein Blutstropfen rann ihr übers Schlüsselbein. Phil starrte Michael mit kalten Augen an. Warum schützt er Gerald noch immer? Warum ist er ihm so wichtig? Chris’ Pistolenmündung zeigte nun wieder auf Gerald.
Michaels Gedanken rasten. Wenn er auf seinen Onkel schoss, konnte er aus Versehen Jamie treffen. Und in beiden Fällen würde Gerald Brian erschießen.
Wenn er oder Chris Gerald erschoss, konnte dessen Waffe losgehen und Brian töten. Und Phillip würde Jamie die Kehle durchschneiden.
Egal, wofür sie sich entschieden, sie konnten nicht gewinnen.
Er schaute Chris in die Augen, sah die tödliche Wut darin, aber keine Antwort auf die Frage, was sie tun sollten.
Zum ersten Mal im Leben konnte Michael nichts riskieren. Sein sonst so untrügliches Bauchgefühl half ihm nicht weiter. Es stand zu viel auf dem Spiel. Nicht nur sein eigenes Leben, sondern Jamies, Brians und Chris’. Schweiß rann ihm über den Rücken. Er versuchte verzweifelt, seine Augen freizublinzeln. Aber am Rand seines Blickfelds wurden die Nebel dichter.
Er musste eine Entscheidung treffen.
»Oh, mein Gott.« Phillips Stimme klang rau. Michael sah, wie sein Onkel Chris mit offenem Mund anstarrte. »Daniel.«
»Was?« Gerald musterte Chris mit gerunzelter Stirn. Dann weiteten sich seine Augen. »Ach du Scheiße! Wo ist Chris Jacobs?«
Jamie schluchzte auf. Tränen liefen ihr über die Wangen. Ihr Schmerz brach Michael fast das Herz.
»Chris hat es nicht geschafft«, flüsterte sie.
»Verdammt! Du hast mir gesagt, Daniel sei tot!«, schrie Phillip Gerald an.
Die Stille im Raum war tödlich. Chris und Michael sahen einander an und wussten, dass sie denselben Gedanken hatten. Warum ist es Phillip so wichtig, dass Daniel tot ist?
Sie richteten ihre Waffen auf ihren Onkel.
»Du steckst hinter allem«, sagte Michael kühl. Diese Ungeheuerlichkeit und eine unbändige Wut auf seinen Onkel verliehen ihm neue Kräfte. »Du wolltest Daniel umbringen lassen, die anderen Kinder sind nur zufällig mit reingeraten. Gerald sollte Daniel ermorden. Der Befehl kam von dir.«
Phillip schwieg. Sein Gesicht war rot vor Zorn, seine Klinge bohrte sich tiefer in Jamies Haut. Sie schnappte nach Luft.
»Warum? Warum? Was habe ich dir getan?«, schrie Chris seinen Onkel an.
Phillip sagte nichts. Chris’ Finger zitterte am Abzug und Brian schniefte leise. Chris richtete die Waffe wieder auf Gerald.
»Du bist ein Gespenst«, spuckte er Gerald entgegen. »Du bist der Geistermann, der meine Freunde getötet und mein Leben und das meiner Familie ruiniert hat. Von beiden Familien.«
Der Geistermann verzog die Lippen. Er ließ die Pistolenmündung über Brians Wange zu seinem Hals gleiten. »Ich habe nur Befehle ausgeführt.«
»Gerald!«, bellte der Gouverneur.
»Es waren deine Befehle!«, schrie der Geistermann zurück. »Du wolltest, dass der Junge stirbt. Du hast gesagt, er hätte gesehen, wie du die Frau erwürgt hast.«
Jamie schnappte laut nach Luft. Michael starrte seinen Onkel an.
Jamie spürte, wie ein weiterer Blutstropfen an ihrem Hals herunterlief. Die Klinge biss ihr in die Haut, der Mann hinter ihr bebte. Der Geruch von Seife wurde immer mehr vom Geruch nach saurem Schweiß überdeckt. Dass der Gouverneur gerade erst geduscht hatte, merkte man nun nicht mehr. Die Anspannung schien allen Sauerstoff aus dem Raum zu saugen. Jamie rang stumm nach Luft.
Der Gouverneur hatte sie und Brian im Wagen überrascht. Sie hatte Brian zur Ablenkung Geschichten erzählt und versucht, die Taubheit aus ihren Füßen zu massieren. Dann war Brians Blick plötzlich über ihre Schulter nach oben geflogen, und einen Sekundenbruchteil später war sie schon nach hinten gekippt, als der Gouverneur die Hecktür aufgerissen hatte, an der sie lehnte. Erschrocken hatte sie sich am Wagen festhalten wollen, war aber mit dem Hinterkopf auf dem Betonboden aufgeschlagen. Ein wutverzerrtes Männergesicht hatte sich über sie gebeugt.
Jetzt kniete Michael vor ihr auf dem Fußboden des Speiseraums und zielte angespannt abwechselnd auf den Tätowierten und seinen Onkel. Chris’ Waffe folgte derselben Choreographie, während die Männer einander anschrien und bedrohten. Michael sah aus, als könnte er jeden Moment bewusstlos werden. Die Blutlache um seine Knie wurde langsam größer. Seine rechte Körperseite triefte von Blut. Wie schwer ist er verletzt? Immer wieder zitterten seine Arme.
Jamie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese Sache gut ausgehen würde.
»Welche Frau?«, schrie Michael seinen Onkel an.
»Keine.«
Jamie spürte, wie der Arm des Gouverneurs sich über ihrer Brust spannte. Sie wollte etwas tun. Ihn treten oder ihm den Ellbogen in den Bauch rammen. Tu etwas! Irgendwas! Sie war eine durchtrainierte Sportlerin, aber er war ein großer, fitter Mann und sie hatte die letzten Stunden mit gefesselten Händen und Füßen in einem stickigen Kofferraum verbracht. Sie konnte von Glück sagen, dass sie in der Lage war, aufrecht zu stehen.
»Du hast gesagt, er hätte alles mit angesehen!«, schrie der Geistermann. Sein blasses Gesicht schien zu leuchten, als wäre sein Blut heller als das anderer Menschen.
Brian hielt sich tapfer. Er schaute mit großen, dunklen Augen von einem zum anderen. Ihm entging nichts. Hin und wieder schniefte er, aber Jamie war stolz auf ihren Neffen. Er blieb ruhig und wartete ab.
Chris dagegen sah aus, als würde er jeden Moment die Nerven verlieren. Er stand breitbeinig da und suchte immer wieder Blickkontakt mit seinem Sohn. Wenn er den Geistermann anschaute, sah Jamie den Tod in seinen Augen.
Was geht jetzt in ihm vor, da Brian in den Händen dieses Mannes ist?
»Ich hol dich hier raus, Kumpel.« Chris sprach so ruhig und leise mit seinem Sohn, als wären sie allein. Brian versuchte zu nicken, aber die Pistolenmündung unter seinem Kinn hinderte ihn daran.
»Chris«, sagte Jamie. Sie wollte ihn bitten, nichts Unüberlegtes zu tun, nicht den Helden zu spielen. Aber wie sagte man das einem Mann, dessen Sohn von einem Killer bedroht wurde? Sie warf ihm einen langen Blick zu. Chris schaute ihr in die Augen und nickte fast unmerklich. Dann fixierte er wieder Brian und den Geistermann.
Er hatte die Botschaft verstanden.
»Halt’s Maul!«, schrie der Gouverneur den Geistermann an. Durch ihr Shirt hindurch spürte Jamie seinen heißen, verschwitzten Körper im Rücken.
»Du bist an der ganzen Kacke schuld, nicht ich. Du hast uns in die Scheiße reingeritten.«
»Ohne mich hättest du die letzten zwanzig Jahre wegen Mordes im Knast gesessen!« Die Stimme des Gouverneurs überschlug sich. »Du bist mir was schuldig!«
»Wir sind längst quitt. Ich habe den Jungen beseitigt!«
»Hast du nicht, verdammt! Er ist hier!«
Was hat Chris gesehen?
Chris hörte angespannt zu. »Du sprichst von dem Ausflug, oder? Vom Schulausflug zum Staatskapitol. Als ich in dein Büro kam, lag eine Frau auf dem Boden. Du hast gesagt, du wolltest ihr helfen. Aber du dachtest, ich hätte gesehen, wie du sie erwürgt hast. Ist das so?«
Der Gouverneur schnaufte nur.
»Ich habe nichts gesehen! Nur eine reglose Frau, die Hilfe benötigte, und ich habe geglaubt, du würdest dich um sie kümmern!« Chris’ Waffe zitterte. »Du hast all die Kinder umbringen lassen, weil du dachtest, ich hätte etwas gesehen? Einfach so auf Verdacht?« Chris liefen Tränen über die Wangen. »Ich habe nichts gesehen! Hörst du? Dein eigener Neffe sollte in deinem Auftrag sterben, aber der wusste gar nicht, was los war!« Chris wischte sich mit der freien Hand übers Gesicht. Mit der anderen zielte er weiter auf den Geistermann. »Ich fasse es nicht! All die Morde, all diese Scheußlichkeiten … für nichts und wieder nichts?«
Michael blieb die Luft weg. Vor seinen Augen tanzten Sterne. Onkel Phil steckt hinter allem. Er hat uns das angetan.
»Lass Jamie gehen, Onkel Phil.« Der Name des Mannes brannte auf seiner Zunge. Aber er sprach ihn absichtlich aus, um ihn daran zu erinnern, mit wem er es zu tun hatte: mit seiner Familie. »Wenn Jamie oder Brian etwas passiert, wird alles nur noch schlimmer. Diese Sache kannst du unmöglich vertuschen. Du bist erledigt.«
Sein Onkel biss die Zähne zusammen und Jamie zuckte. Michael konzentrierte sich auf ihr Gesicht. Angestrengt versuchte er, die vielen neuen Informationen zu verarbeiten. Aber am wichtigsten war jetzt, sie unversehrt hier rauszubringen. Bevor er zu viel Blut verloren hatte und ihm die Waffe aus der Hand fiel.
»Leg das Messer weg, Onkel Phil.«
»Nein. Ich kann nichts dafür.«
Er klang wie ein trotziges Kind.
»Ich habe diesem Staat große Dienste erwiesen. Überleg dir mal, was ich in meinem Amt alles bewirken konnte. Ich bin wichtig.«
Er ist völlig übergeschnappt. Michaels Angst wurde noch größer.
»Diese Frau war ein Niemand. Sie wollte mich als Sprungbrett benutzen. Zwei armselige Treffen und sie sagt mir, sie sei schwanger? Von mir? Das konnte ich nicht zulassen.« Phil presste Jamie noch fester an sich. Seine Pupillen waren riesig.
Plötzlich nahm Michael aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr.
Phillips Körper kippte nach vorn, sein Kopf flog in den Nacken. Jemand hatte ihn von hinten angegriffen. Der überraschende Stoß warf ihn zusammen mit Jamie zu Boden. Als Michaels Vater auf den beiden landete, schrie Jamie auf. Das Messer verschwand zwischen den ringenden Brüdern. Michael kroch zu der Gruppe, doch sein rechter Arm knickte immer wieder weg. Hinter ihm hallte ein Schuss, aber er ließ Jamie nicht aus den Augen. Er drückte sich vom Boden ab, schnellte nach vorn und packte Phillips Knöchel. Sein Onkel trat nach ihm, rammte ihm den Absatz in den Mund. Michael schmeckte Blut und spuckte es aus.
Inzwischen kniete Der Senator auf dem Rücken seines Bruders und versetzte ihm einen Fausthieb aufs rechte Ohr. Phillip schlug um sich und schaffte es beinahe, Maxwell Brody abzuwerfen. Jamie versuchte mit aller Kraft, sich unter den beiden Männern hervorzuwinden.
Phillip hatte plötzlich wieder das Messer in der Hand und stach wutentbrannt nach dem Oberschenkel seines Bruders. Michaels Vater griff schreiend nach der Klinge. Sie grub sich in seine Hand. Blut ergoss sich auf den Boden und über die ineinander verkeilten Menschen.
Michael packte Jamies Hand und versuchte, sie unter den Männern hervorzuziehen. Sein rechter Arm zitterte vor Anstrengung. Die Waffe hielt er mit links. In der untrainierten Hand nützte sie ihm wenig, aber loslassen wollte er sie auf keinen Fall. Jamie rollte sich auf den Rücken und versuchte, sich loszustrampeln und nach den Männern zu treten.
Michaels Blick sog sich am Oberschenkel seines Vaters fest. Das Blut sprudelte im Rhythmus seines Herzschlags aus der Stichwunde. Phillip hatte eine Arterie erwischt und Maxwells Herz würde den roten Saft gnadenlos aus ihm herauspumpen.
Ihm blieben nur Minuten, um den Blutfluss zu stoppen.
Chris bemerkte Den Senator einen Sekundenbruchteil, bevor der Mann sich auf den Gouverneur stürzte. Als der Gouverneur zu Boden ging, war der Geistermann einen kurzen Moment lang abgelenkt. Chris nutzte seine Chance zum Angriff.
Das Gespenst riss die Waffe hoch, zielte auf Chris. Chris sah die Pistole wie in Zeitlupe in seine Richtung schwingen. Die Mündung deutete genau auf seinen Kopf. Er warf sich nach vorn unter den Arm des Geistermanns. Der Schuss ging in die Decke.
Chris klingelten die Ohren von dem Knall.
Er riss Brian am Shirt aus dem Arm des Geistermanns und stieß ihn beiseite. Mit seinem Körper drängte er das Gespenst ab, drückte es Brust an Brust gegen die Wand und packte den Arm des Mannes, der mit der Waffe immer noch zur Decke zeigte.
Mit dem heißen Atem des Geistermanns im Gesicht drückte Chris ihm mit der freien Hand seine Pistolenmündung an den Hals. Das Gespenst wehrte sich, wollte das Knie hochziehen und versuchte einen Kopfstoß. Chris wich beiden Angriffen aus. Wie aus weiter Ferne hörte er Brian schreien, der Mann solle seinen Dad in Ruhe lassen.
»Brian! Lauf!«
Der Aufprall presste die Luft aus Jamies Lunge. Das Gewicht der beiden Männer versetzte sie in Panik. Die Erinnerung an die letzte Attacke war noch frisch. Sie kratzte, schrie und trat um sich.
Wo das Messer war, wusste sie nicht und es war ihr auch egal. Dann krachte ein Schuss und ihre Augen suchten nach Michael.
Er kroch auf sie zu. Die Waffe in seiner linken Hand schlug bei jeder Vorwärtsbewegung auf den Boden. Zweimal gab Michaels rechter Arm unter seinem Gewicht nach, er blutete aus dem Mund.
Hat der Schuss ihn im Mund erwischt?
Er packte ihre Hand und zog. Aber die beiden kämpfenden Männer lagen halb auf ihr. Ohne darauf zu achten, wen sie mit ihren Tritten erwischte, trat sie noch kräftiger zu. Nur verschwommen nahm sie wahr, dass der zweite Mann Michaels Vater war, der Senator. Die beiden Brüder rangen ächzend miteinander. Immer wieder blitzte das Messer zwischen ihnen auf. Warmes Blut bedeckte Jamies Beine und machte den Boden glitschig.
Hatte sie einen Stich abbekommen, ohne es zu spüren?
Sie sah Michaels offenen Mund, den Schock in seinen Augen. Aber er schaute nicht sie an. Sie folgte seinem Blick und sah das Blut aus dem Bein seines Vaters pulsieren.
Abbinden. Sofort.
»Erschieß ihn!«, rief sie Michael zu. »Schnell!«
Er schüttelte den Kopf. Es war zu gefährlich. Als sie sich von ihm losriss, weiteten sich seine Augen vor Schreck. Mit beiden Händen stieß sie den nächstbesten Männerkörper weg und erreichte damit, dass die Brüder von ihr herunterrollten. Sie trat nach dem Gouverneur, er stach nach ihren Beinen.
Michaels Vater schnaufte. Er war kreidebleich und sein Blick sagte, dass er sehr wohl wusste, wie schwer er verwundet war. Seine Bewegungen wurden schwerfälliger. Mit einem Stoß gegen die Brust gelang es Phillip, seinen Bruder von sich herunter zu katapultieren. Der Senator blieb reglos liegen. Nach Luft japsend starrte er zur Decke.
Er hat schon zu viel Blut verloren.
Der Gouverneur erstarrte. Nach einem kurzen Blick auf das Bein seines Bruders ließ er das Messer fallen und griff nach seinem Gürtel. Michael schoss hoch und riss seinen Onkel um. Phils Kopf knallte auf den Boden.
»Binde das Bein ab«, schrie Phillip unter ihm. »Er verblutet.«
Michael rappelte sich auf, sein Onkel zerrte bereits seinen Gürtel aus den Schlaufen. Er warf ihn Michael zu, der an der Hose seines Vaters riss, damit er die Wunde genauer sehen konnte. Das Blut pulsierte in einem Bogen aus dem Bein. Michael schlang seinem Vater den Gürtel auf Leistenhöhe um den Schenkel und zog zu. Sofort verringerte sich der Blutfluss. Phillip rappelte sich auf die Knie, dabei hing sein Blick wie gebannt an seinem Bruder. Die Schultern des Gouverneurs sackten nach vorn und er vergrub das Gesicht in den Händen.
Jamie schnappte sich Michaels Pistole.
Chris rauschte das Blut in den Ohren. Er schluckte und drängte den Geistermann mit aller Kraft gegen die Wand. Mit dem Finger am Abzug presste er die Waffe an dessen Kiefer. Die Geräusche im Raum verebbten. Es gab nur noch Chris und seine persönliche Heimsuchung. Der Geistermann hörte auf, sich zu wehren. Reglos klemmte er zwischen Chris’ Körper und der Wand. Die Glock hatte keine Sicherung. Chris musste nur den Finger um den Abzug krümmen. Einmal.
Albtraum vorbei.
»Tu’s nicht, Chris«, erklang Jamies Stimme hinter ihm.
Chris’ Finger zuckte.
»Er ist es nicht wert. Schaff dir keine neuen Albträume.«
Chris starrte in die Augen des Menschen, der ihm die Hölle auf Erden bereitet hatte. Er konnte den Rand seiner Kontaktlinsen erkennen. Sah, dass der Haaransatz des Tätowierten nachgefärbt werden musste. Registrierte die Angst in den Augen des Ungeheuers. Der Mix aus Staub und Menthol, der den Geistermann schon immer umgeben hatte, stieg ihm in die Nase. Der abstoßende Geruch war ihm auf unheimliche Weise vertraut.
»Meine Waffe zeigt auf ihn«, sagte Jamie. »Du kannst ihn jetzt loslassen.«
»Brian?«, krächzte Chris.
»Ist in Sicherheit. Ich habe ihn aus dem Zimmer laufen sehen.«
»Michael?«
»Kümmert sich um seinen Vater.« Nach einer kurzen Pause setzte Jamie hinzu: »Er und der Gouverneur versuchen, eine üble Blutung am Bein des Senators zu stoppen.«
Chris konnte den Blick nicht von den Augen des Tätowierten losreißen. Adrenalin jagte ihm durch die Adern, ihm war übel. Während er gegen die Erinnerungen an die ekelhaften Berührungen des Tätowierten kämpfte, spürte er dessen Herz an seinem schlagen. »Lass die Waffe fallen.«
Der Arm des Geistermanns schwebte noch immer über dessen Kopf. Chris hielt ihn mit aller Kraft dort fest. Aber lange würde er nicht mehr durchhalten.
»Loslassen«, feixte der Geistermann zurück. Seine Lippen entblößten gelbe Zähne.
»Erst die Knarre.«
»Fick dich.«
»Auf deinen Kopf sind zwei Pistolen gerichtet. Weg mit der Waffe.« Jamie hörte sich an, als würde sie einen unartigen Drittklässler rügen. Ihre Stimme klang nun näher. Jetzt erst nahm Chris wahr, dass Michael auf Den Senator einredete.
Der Tätowierte schaute über Chris’ Schulter – vermutlich zu Jamie. Plötzlich wirkte er resigniert. Seine Armmuskeln zuckten unter Chris’ Hand, seine Waffe fiel zu Boden.
Chris trat einen halben Schritt zurück und schlug dem Gespenst mit der Pistole ins Gesicht. Die Nase des Geistermanns explodierte in einem Sprühregen aus Blut. Das Gespenst schlug die Hände vors Gesicht und fiel jaulend zu Boden.
»Chris!«, schrie Jamie.
Chris stand breitbeinig über dem Mann. Die Hand mit der Waffe hing an seiner Seite. Schwer atmend starrte er das Ungeheuer an, das sein Leben zerstört hatte. Noch nie zuvor hatte er den Mann wimmernd auf den Knien liegen sehen.
Erschieß ihn.
Tu es.
Er schüttelte den Kopf.
Du hast einen guten Grund. Schütze deinen Sohn.
Das Gesicht in den Händen vergraben kauerte der Geistermann vor ihm auf dem Boden. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hindurch und seine Schultern bebten.
Chris schluckte und wandte sich ab. Jamie stand hinter ihm. Sie hatte die Waffe auf dieses menschliche Stück Unrat gerichtet. Das Haar hing ihr wirr um den Kopf, ihr Körper war blutverschmiert. Aber sie stand fest auf ihren Beinen. Sie erwiderte seinen Blick. In ihren Augenwinkeln schimmerten Tränen.
»Du machst es genau richtig, Chris.«
Chris hatte seine Zweifel.
Jamie lächelte, doch dann fiel ihr Blick hinter ihn und sie riss den Mund auf.
Chris fuhr herum, hob die Waffe und drückte ab.
Ein Nebel aus feinen Blutspritzern benetzte die Wand; der Geistermann kippte zur Seite. Seine Finger lagen an seiner Waffe.