Kapitel 18

 

Das habe ich alles andere als gut hingekriegt.

Chris schaute Michael beim Telefonieren zu. Er wusste nicht, was er machen sollte. Als er Michael auf dem Gehsteig stehen sah, hatte er fast reflexartig auf die Bremse getreten. Ihm war klar gewesen, dass er sich Michael und Jamie offenbaren musste. Deshalb war er zurückgekommen. Als er im Fernsehen gesehen hatte, dass Jamie nichts fehlte und dass sie mit seinem Bruder zusammen war, hatte er beschlossen, sich bei den beiden zu melden.

Er war das Versteckspiel so leid. Und das Weglaufen.

Hat der Geistermann jetzt Jamie?

Er schloss die Augen. Die Anspannung, die von ihm abgefallen war, als er sie gesund und munter im Fernsehen gesehen hatte, packte ihn mit neuer Wucht. Sein Bruder hatte ihm gerade gesagt, dass einer seiner schlimmsten Albträume Wirklichkeit geworden war. Sein Bruder. Chris formte die Worte stumm mit den Lippen. Zwei Jahrzehnte lang hatte er sich verboten, sie auch nur zu denken. Er hatte sich energisch eingeredet, dass er keinen Bruder mehr hatte. Nur so war es ihm gelungen, nicht durchzudrehen und seine Rolle in Jamies Familie zu spielen. Um die Brodys schützen zu können, hatte er selbst glauben müssen, keiner mehr zu sein.

Der Geistermann hatte gesagt, er würde Michael und seine Eltern töten, falls sie je erfuhren, dass Daniel noch lebte. Während seiner Gefangenschaft hatte er diese Drohung immer wieder gehört. Bei jedem einzelnen Besuch in der Blechbüchse unter der Erde hatte der Geistermann Daniel und Chris ausgemalt, was er mit Daniels Familie anstellen würde.

Daniel hatte diese Fixierung auf seine Familie nie verstanden. Warum war der Geistermann so von ihr besessen? Warum interessierte ihn Chris’ Familie nicht?

Als es Daniel gelungen war, zu entkommen, hatte er Chris’ Identität angenommen. Das war nicht schwer gewesen. Nach zwei langen Jahren mit Chris auf engstem Raum wusste er alles über ihn. Das Einzige, was sie im Bunker tun konnten, war reden und einander Geschichten über ihre Familien und ihr Leben erzählen. Und am Ende ihrer Gefangenschaft hatten sie beide ausgesehen wie wandelnde Skelette. Ihre Augenfarbe war ähnlich gewesen, sein Haar war etwas heller. Aber die Farbe des Kopfhaars konnte sich im Lauf des Lebens ändern. Falls Chris’ Eltern je daran gezweifelt hatten, dass Daniel ihr Sohn war, hatten sie sich nichts anmerken lassen. Gewisse Ungereimtheiten konnte man übersehen, wenn man sich etwas von Herzen wünschte.

Er war jetzt Chris Jacobs und sein Leben als Chris dauerte schon fast doppelt so lange wie sein Leben als Daniel.

Hinter Chris’ Familie war der Geistermann nicht her. Deshalb hatte Daniel sich eine Zeit lang als Chris ausgeben und sich offenbaren wollen, wenn er es für sicher hielt. Aber nach den Twinkies im Krankenhaus …

Niemand war sicher. Nirgends. Nie.

Er musste den Mund halten und mit gesenktem Blick durchs Leben gehen. Nur so ließ sich die Gefahr beherrschen. Und es funktionierte. Es hatte Augenblicke gegeben, in denen er beinahe aufgeflogen wäre. Aber letztlich war sein Versteckspiel geglückt.

Jamie war seine kleine Schwester geworden. Ihre Eltern wurden seine und irgendwann hatte er sie geliebt. Er vermisste seine echten Eltern, aber nach allem, was er in der Zeitung lesen konnte, ging ihr Leben den nahezu gewohnten Gang. Cecilia leitete noch immer ihr Krankenhaus, Der Senator machte Politik. Und sie hatten Michael. Wenigstens hatten sie nicht beide Kinder verloren.

Michaels Werdegang hatte er verfolgt. Seit das Internet sich immer weiterentwickelt hatte, las er jeden einzelnen seiner Artikel. Das Netz war seine Rettung gewesen. Es lieferte ihm Informationen über die Menschen, die ihm wichtig waren. Cecilia und Der Senator tauchten häufig darin auf.

Als Brian zur Welt gekommen war, hatte Chris reinen Tisch machen wollen, es dann aber doch nicht getan. Jamie und seine Eltern hätten den Jungen sehen wollen, er hätte heimkehren und seine Identität und die seines Sohnes vor aller Welt offenlegen müssen. Aber wusste er denn, ob der Geistermann nicht nur auf diesen Moment wartete? Vielleicht fand er dann, es sei an der Zeit, den letzten Zeugen zu eliminieren. Und wozu wäre der Geistermann fähig, wenn er erfuhr, dass Chris einen Sohn hatte?

Brian durfte nicht auf das Radar des Geistermanns geraten.

Chris wusste, was der Geistermann mit Jungen machte. Seine Albträume erinnerten ihn daran.

Seit die Kinderleichen entdeckt worden waren, suchten sie ihn wieder fast jede Nacht heim. Er schlief selten mehr als vier Stunden am Stück. Zu den alten Bildern in seinen Träumen waren neue gekommen, und die waren noch viel schlimmer. Denn der Junge in den Fängen des Geistermanns war nicht mehr er selbst, sondern Brian.

Vor acht Monaten hatte er gelesen, dass ein Zehnjähriger auf der Toilette eines Fastfood-Restaurants überfallen worden war. Die Eingangstür zu dem Waschraum mit nur einer Toilettenkabine konnte abgeschlossen werden. Der Vater des Jungen hatte versucht, die Tür einzutreten, als er sein Kind schreien hörte. Am Ende hatte der Restaurantmanager die Tür aufschließen müssen. Der Junge war mit Stichwunden ins Krankenhaus gebracht und operiert worden. Der Täter hatte wegen einiger besonders brutaler Sexualdelikte im Knast gesessen und war erst vor Kurzem wieder freigekommen.

Chris hatte sich übergeben. Seither schaute er immer erst nach, bevor er seinen Sohn irgendwo zur Toilette gehen ließ.

Die physischen Wunden des Zehnjährigen würden heilen. Die emotionalen würde er für immer mit sich herumschleppen.

Wie konnte er Michael das begreiflich machen?

Selbst beim Telefonieren ließ Michael Chris nicht aus den Augen. Und Chris’ Augen hingen an Michael. Er studierte sein Gesicht, den Knochenbau, das Haar, die Bewegungen – die Art, wie sein Bruder den Kopf hielt, wie sein Blick umherschoss. Genau wie Brian.

Chris ging zu seinem Truck, dessen Fahrertür noch immer offen stand. Brian war hinters Steuer gerutscht und beobachtete die beiden Männer mit ernstem Gesicht.

»Wer ist das?«

»Das ist Michael.«

Brian musterte den Reporter mit schief gelegtem Kopf. »Kennst du ihn?«

Chris holte tief Luft. »Ja. Aber ich habe ihn lange nicht gesehen. Michael ist mein Bruder.«

Brian schaute seinen Vater fragend an. »Ich dachte, du hättest bloß eine Schwester.«

Warum habe ich meinen Sohn belogen?

Chris nahm Brians Hände und schaute ihm fest in die Augen. »Ich hätte dir sagen müssen, dass ich auch einen Bruder habe.«

»Ist er sauer?«

Chris nickte. »Ja. Ich habe ein paar Sachen vor ihm geheim gehalten. Genau wie vor dir. Das war nicht richtig. Jetzt ist er wütend auf mich. Aber nicht auf dich.«

»Hast du ihm von mir erzählt?«

Chris schloss die Augen. Brians kläglicher Ton zerrte an seinem Herzen. Es war ein Riesenfehler gewesen, seiner Familie nichts von Brian zu sagen. »Nein. Du bist eine Überraschung. Eine schöne Überraschung. Und sobald er nicht mehr sauer auf mich ist, wird er sich unheimlich freuen, einen Neffen zu haben.«

»Er ist mein Onkel.« Brian testete das Wort. Dann musterte er Michael über Chris’ Schulter hinweg. »Ich glaube, er ist nicht mehr sauer.«

Chris half Brian aus dem Truck und nahm ihn an der Hand. Michael hatte das Handy weggesteckt und wischte sich über die Augen. Die wütende Spannung war aus seinem Körper gewichen, er ließ die Schultern hängen.

Chris hob das Kinn. »Das ist Brian, dein Neffe.«

Ein Lächeln stahl sich auf Michaels Züge. »Hey, Brian. Wie geht’s? Weißt du, dass du genauso aussiehst wie dein Dad, als er in deinem Alter war?«

Brian schüttelte den Kopf. »Schön, dich kennenzulernen, Onkel Michael«, sagte er höflich. Sein Vater legte Wert auf gute Manieren.

Michael erstarrte, er biss sich auf die Lippen. »Ach, verdammt«, flüsterte er, während ihm erneut Tränen in die Augen stiegen. Er packte Chris und drückte ihn an sich. Nach ein paar brüderlichen Klapsen auf Chris’ Rücken zauste er Brians Haar.

Chris wischte sich ebenfalls über die Augen.

 

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Michael saß auf den hölzernen Verandastufen vor Chucks Pension. Während er auf Sheriff Spencer wartete, drehten sich seine Gedanken um die Ereignisse der letzten halben Stunde. Gleichzeitig kam er vor Sorge um Jamie fast um. Spencer hatte gesagt, er solle auf ihn warten, und Michael hielt sich daran, obwohl es ihm nicht passte. Schreckliche Bilder davon, was der Tätowierte mit Jamie anstellen konnte, jagten ihm durch den Kopf. Daniel … Chris saß neben ihm und Brian übte auf dem niedrigen Begrenzungsbalken der Veranda Balancieren. Michael konnte sich noch nicht daran gewöhnen, dass sein Bruder jetzt Chris heißen sollte.

»Brian kennt mich nur als Chris. Und ich selbst nenne mich im Kopf schon seit fast zwanzig Jahren so.«

»Für Mom und Dad könnte das ein Problem sein«, sagte Michael. Bei dem Gedanken an seine Eltern wurde Chris blass. Er bat Michael, ihnen vorerst noch nichts zu sagen.

Im Augenblick hatten sie ein deutlich wichtigeres Problem. »Wir müssen Jamie finden.« Michael rieb sich den Nacken. »Wohin kann er sie gebracht haben?«

Chris schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich hatte gehofft, der Geistermann wäre tot, aber …«

»Wie heißt er in Wahrheit?«

Chris zuckte mit einer Schulter. Die vertraute Bewegung traf Michael wie ein schmerzhafter Pfeil. Wie oft hatte er Daniel früher mit nur einer Schulter zucken sehen? Chris, nicht Daniel.

»Ich weiß es nicht. Wir mussten ihn Sir nennen. Und wenn er nicht da war, haben wir ihn Gespenst oder Geistermann genannt.«

»An irgendetwas musst du dich doch erinnern …«

»Ich erinnere mich an alles.« Chris’ Stimme war lauter geworden, sein Blick verhakte sich in Michaels. »Ich habe alles tausendmal durchlebt und nach Hinweisen gesucht, wie ich dem Kerl auf die Spur kommen kann. Etwas, was mich zu ihm führt. Ich wollte ihm auflauern, ihn im Schlaf umbringen. Dann hätte ich zu meiner richtigen Familie zurückkehren können. Dieses Ziel hat mich angetrieben, seit ich dreizehn war. Weißt du, wie es ist, jahrelang nur diesen einen Gedanken im Kopf zu haben? Ich wollte, dass er tot ist und dass ihr alle vor ihm sicher seid. Ich habe an jedem einzelnen Tag meines Lebens Angst gehabt. Um dich, Jamie, unsere Eltern und Brian.« Chris drehte den Kopf weg. »Er ist ein verdammtes Gespenst. Einfach nicht zwischen die Finger zu kriegen. Und er hat auch mich zu einem gemacht. Ich habe das Gefühl, gar nicht zu existieren. Mein Leben ist nur erfunden und ich tue so, als wäre alles in Ordnung, damit mein Sohn nicht merkt, wie gestresst ich bin und wie viele Gedanken ich mir mache.«

»Brian merkt das genau. Er spürt es. Vielleicht nicht bewusst, aber auf irgendeiner Ebene ist ihm klar, dass mit deinem Leben etwas nicht stimmt.«

Michael folgte Chris’ Blick in die Ferne, sah, wie er jeden Baum, jeden Felsbrocken scannte. Der Mann befand sich in höchster Alarmbereitschaft. Wie hielt er das nur rund um die Uhr durch?

Aber auch Michael war alles andere als gelassen. Er fühlte sich machtlos, musste untätig herumsitzen und konnte Jamie nicht helfen. Dabei staute sich in ihm die Energie für einen ganzen Marathonlauf. Es fiel ihm schwer, sich auf seinen Bruder zu konzentrieren.

»Manchmal wünscht er sich gleichaltrige Spielkameraden. Aber hier in der Gegend wohnen fast keine Kinder und ich unterrichte ihn zu Hause. Juans Hund …« Chris rieb sich das Gesicht. »Juans Hund war vermutlich sein bester Freund. Scheiße. Weißt du, was mit dem Hund passiert ist?«

Michael schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen gesehen.«

»Juan lässt ihn herumstreunen. In Ordnung ist das vielleicht nicht … Aber manchmal ist er ein, zwei Tage lang weg. Ich sehe später mal nach ihm.«

»Wie kann es sein …« Michael musterte Chris zum tausendsten Mal. »Warum haben sie nicht gemerkt, dass du nicht Chris bist?«

»Sie? Meine Eltern?«

»Ja. Ich sehe ganz eindeutig Daniel in dir. Nicht Daniel als Kind … sondern was aus Daniel geworden ist, als er erwachsen wurde.«

Chris schüttelte den Kopf. »Als ich zurückgekommen bin, war ich mehr tot als lebendig. Ich habe ausgesehen, als wäre ich aus einem Straflager entkommen. Mein Gesicht und mein Schädel waren zu Brei geschlagen. Ich glaube, sie haben gesehen, was sie sehen wollten. Unsere Haarfarbe und die Augenfarbe waren sehr ähnlich. Ich habe ihnen gesagt, ich sei Chris, und sie haben es akzeptiert.

Vielleicht hast du vor ein paar Jahren die Geschichte mit dem Autounfall mitbekommen. Ein junges Mädchen starb, das andere wurde schwer verletzt und lag eine Zeit lang im Koma.

Die Mädchen wurden verwechselt. Das tote bekam irrtümlich den Namen des schwer verletzten. Und als dieses Mädchen aus dem Koma erwachte, saßen nicht seine eigenen Eltern im Krankenzimmer, sondern die seiner Freundin. Eltern sehen, was sie sehen wollen.

Ich lag monatelang mit dicken Bandagen um den Kopf im Krankenhaus. Mein Gesicht wurde x-mal operiert und meine Eltern waren einfach nur dankbar, dass ich überlebt hatte.«

»Unsere Eltern müssen es erfahren. Wir können das nicht länger aufschieben. Sie sind zwei Jahrzehnte lang durch die Hölle gegangen.«

Chris schüttelte den Kopf. »Wir warten lieber noch, denn wenn wir es ihnen sagen, müssen wir bei ihnen sein und ihnen helfen, damit klarzukommen. Dafür haben wir im Moment nicht die Zeit. Auf ein oder zwei Tage mehr kommt es jetzt nicht mehr an. Wir müssen erst Jamie finden und uns um den Geistermann kümmern. Danach können wir es ihnen gemeinsam erzählen.«

Michael schaute zum tausendsten Mal auf die Uhr. Der Tätowierte brachte Jamie vermutlich immer weiter weg und er hockte hier auf seinem Hintern. »Verdammt, warum braucht dieser Spencer so lange? Er hat doch gesagt, er sei fertig bei den Buells.«

»Bei den Buells?« Chris sah Michael fragend an. »Ist bei den Buells was passiert?«

Michael erzählte es ihm.

»Und die glauben, das wäre meine Waffe? Okay, ich habe so eine zu Hause … oder vielmehr hatte. Scheiße!«

Chris sprang auf und fing an, auf und ab zu gehen. Seine Lippen formten stumme Flüche. Brian hörte schlagartig auf zu balancieren und beobachtete seinen Vater. Als Michael ihm zuzwinkerte, setzte er die unterbrochene Übung fort und konzentrierte sich wieder darauf, wohin er die Füße setzte.

Brian bekommt viel mehr mit, als Chris ahnt. Er sorgt sich mindestens ebenso sehr um seinen Vater wie Chris sich um ihn. Das ist nicht gesund.

»Keiner kann ewig so leben, als könnte er jeden Moment in einen Hinterhalt geraten«, sagte Michael.

Chris hörte auf, hin- und herzutigern und blieb vor Michael stehen. »Dann muss ich die Bedrohung beseitigen.«

»Den Geistermann auszuschalten, steht ganz oben auf meiner To-do-Liste. Und auf der Liste sämtlicher Cops in Oregon. Du hast jede Menge Unterstützung.«

Chris holte tief Luft. »Warum unsere Familie? Warum wollte der Geistermann ausgerechnet die Brodys vernichten? Über … Jamies Familie hat er nie so gesprochen. Es war, als wäre es seine Mission, uns fertigzumachen.« Er schaute zu Brian hinüber, aber der Junge war am anderen Ende der Veranda mit einem Krabbeltier beschäftigt.

»Was willst du damit sagen?«, fragte Michael bedächtig. Wollte jemand mit der Entführung Den Senator treffen?

Chris zuckte mit einer Schulter und schüttelte den Kopf. »Gegen die Familien der anderen Kinder hat er nie irgendwelche Drohungen ausgesprochen. Nur gegen meine. Und ich hatte immer das Gefühl, es ginge ihm vor allem um mich … ich meine … so, als hätte er die anderen Kinder nur notgedrungen mitgenommen.«

»Glaubst du, eigentlich hättest nur du entführt werden sollen? Um Den Senator zu treffen? Oder Mom?«

Chris runzelte die Stirn. »Direkt gesagt hat der Geistermann das nie. Das lief eher unterschwellig. Der echte Chris und ich haben immer wieder darüber gesprochen. Was wollte der Geistermann von mir?«

Michaels Magen zog sich zusammen. »Verdammt. Du hast mir noch nicht erzählt, was mit Jamies Bruder passiert ist«, flüsterte er. »Ich nehme an, das ist eine üble Geschichte?«

Chris schloss die Augen. »Ja. Wirklich übel.«

 

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»Komm, Chris! Weiter! Mach schon!«, drängte Daniel »Wir können jetzt nicht stehen bleiben.«

Chris sah aus, als könnte er keinen Schritt mehr laufen. Daniel hatte ihn in den letzten Stunden beinahe tragen müssen. Er hatte sich Chris’ Arm über die Schultern gelegt und ihn mitgeschleift. Wasser hatten sie seit ihrer Flucht aus dem Höllenloch noch nicht gefunden. Sie waren jetzt seit dem Morgen des Vortags unterwegs. Daniel schaute nach oben, versuchte, die Uhrzeit zu schätzen. Aber er konnte die Sonne nicht sehen. Der Wald war zu dicht.

Sie würden niemals hier rausfinden.

Aber das war ihm egal. Lieber wollte er im Wald sterben, als den Geistermann noch eine Minute länger ertragen zu müssen. Er und Chris hatten einen Pakt geschlossen: Der Tod war besser als das Leben, das sie erdulden mussten, und sie würden bis zum Ende zusammenbleiben. Chris hatte eine Möglichkeit ausgetüftelt, wie sie verhindern konnten, dass der Bunker komplett verriegelt war, wenn der Geistermann wegging. Zwei Jahre lang hatten sie immer wieder versucht, die Ausstiegsklappe zu öffnen. Den Riegel zu blockieren, war ihnen nur durch vollendetes Teamwork gelungen. Sie hatten den Geistermann ablenken und den richtigen Zeitpunkt abwarten müssen. Ein Junge war für die Ablenkung zuständig, der andere musste das kleine Holzstück an die richtige Stelle bugsieren. Für den Geistermann musste es aussehen, als wäre die Luke fest geschlossen.

Chris litt schon seit Wochen unter Fieberschüben. Der Geistermann hatte ihm Medikamente gegeben, und eine Zeit lang hatte es ausgesehen, als würde sich sein Zustand bessern. Aber dann ging es ihm plötzlich noch schlechter als zu Anfang. Seit drei Tagen quälte ihn außerdem ein furchtbarer Husten. Heute hatte er beim Husten sogar Blut gespuckt. Und die letzte Nacht war so kalt gewesen … An eine weitere Nacht auf dem nackten Erdboden wollte Daniel gar nicht denken.

Erst hatte er Chris mit Erde und Laub bedeckt, um ihn warm zu halten, dann aber lieber die Arme fest um ihn geschlungen. Aber hatte er überhaupt ein Auge zugetan? Ständig hatten ihn seltsame Geräusche aus dem Wald erschreckt, hinter jedem Baum konnte der Geistermann hervorspringen. Chris’ knochiger Körper gab kaum Wärme ab, und Daniel war sicher, dass sie beide die ganze Nacht lang gezittert hatten. Zum Glück hatte es nicht auch noch geregnet. Dass es Sommer war, wusste er. Den Monat kannte er nicht, aber das Jahr. Es war der zweite Sommer seit ihrer Entführung. Für ihn bedeutete Sommer nur etwas weniger Kälte. Und dass der Geistermann kurze Hosen trug.

Er atmete tief. Die Luft roch so gut und sauber. Im Loch hatte es gestunken. Schon nach der ersten Woche. Wenn die frische Luft Chris nur die Kraft gegeben hätte, sich weiterzuschleppen.

Bevor es in der vergangenen Nacht ganz dunkel geworden war, hatten sie zwischen den Bäumen ein Licht gesehen. Es hatte sich bewegt und sie hatten gewusst, dass der Geistermann nach ihnen suchte. Wenigstens konnte er sich dafür keine Hilfe holen. Er hatte ihnen hundertmal gesagt, das Höllenloch sei sein ganz spezielles Geheimnis. Und Daniel glaubte nicht, dass der Geistermann dieses Geheimnis jetzt preisgegeben hatte.

Chris’ Beine bewegten sich nun gar nicht mehr. Vorher hatte er wenigstens noch versucht, sich aufrecht zu halten und abzustoßen, während Daniel ihn schleifte.

»Es geht nicht. Ich kann nicht mehr. Lass mich ein bisschen ausruhen. Dann laufe ich weiter.«

Chris’ aufgesprungene Lippen machten Daniel Angst. Und er fühlte sich so heiß an, als würde er von innen heraus verbrennen. Seine Haut sah aus wie versengt. Fast schuppig.

Daniel wollte nicht stehen bleiben. Er glaubte nicht, dass Chris sich danach wieder aufrappeln und weitergehen konnte. Aber dann ließ er ihn doch hinter einem umgestürzten Baum vorsichtig zu Boden gleiten. Chris schloss seufzend die Augen und lehnte den Kopf an die Baumrinde.

»Ich ruhe mich bloß ein bisschen aus.«

Daniel musterte seinen Freund. Chris’ Knochen zeichneten sich deutlich unter der Haut ab, genau wie bei ihm. Aber Chris’ Ellbogen schien die Haut fast zu durchstoßen. An dem Arm, den er anwinkeln konnte. Der andere war vor Wochen gebrochen und nicht gut zusammengeheilt. Chris benutzte ihn kaum. Der Geistermann hatte ihm eine Schlinge gemacht, die er fast immer trug. Er sagte, der Arm täte weh, wenn er die Schlinge abnahm.

Daniel setzte sich neben seinen Freund. Heiße Tränen quollen ihm aus den Augen. Er wischte sie ärgerlich weg. Heulen brachte sie jetzt auch nicht weiter.

»Daniel?« Es war ein Flüstern.

»Ja?« Daniel wischte sich wieder über die Augen.

»Ich glaube nicht, dass ich noch mal aufstehen kann.«

Daniels Herz gefror. »Du musst dich bloß ausruhen. Schlaf ein bisschen, danach kannst du weiter.«

»Nein, Daniel. Ehrlich …«

»Halt die Klappe, Chris! Sei einfach still! Du kannst das, du wirst sehen!« Daniels Stimme brach.

Chris öffnete die Lider und sah seinen Freund lange an. An seinen Augen erkannte Daniel, dass Chris sich aufgegeben hatte. »Wir wissen beide, dass ich nicht mehr kann. Ich spüre meine Füße nicht mehr, Daniel.«

Daniel schlang die Arme um seinen Freund und drückte ihn fest an sich. Chris fing an, heftig zu husten, aber Daniel ließ ihn nicht los. »Nein, Chris«, flüsterte er. »Ich schaffe das nicht allein. Wir wollten das doch zusammen durchziehen. Gemeinsam bis zum Ende.«

Chris legte den Kopf an Daniels Schulter. Er war leicht wie ein Kätzchen. »Ich weiß. Aber versprich mir, dass du weiterläufst, wenn mir etwas passiert.«

Daniel unterdrückte ein Schluchzen. Warum sagte Chris so was?

»Du würdest das an meiner Stelle auch wollen«, sagte Chris. »Du bist mein bester Freund und wenigstens einer von uns muss es schaffen.«

Daniel sah, wie mühsam sich die ausgemergelte Brust seines Freundes hob und senkte. Solange er bei Chris blieb, würde alles gut werden. Sein Freund brauchte bloß eine Pause. Daniel schloss ebenfalls die Augen. Am besten, er ruhte sich auch ein bisschen aus. Nur ein paar Minuten.

 

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Daniel fuhr aus dem Schlaf hoch. Es war heller als vorher und ein bisschen wärmer. Vermutlich um die Mittagszeit. Wenigstens hatte er nicht den ganzen Tag verschlafen. Sie mussten weiter. Er schüttelte Chris an der Schulter. Zum Schlafen hatten die Jungen sich neben den Baumstamm gelegt. Chris hatte sich zusammengerollt an Daniel gedrückt, um etwas Wärme abzubekommen.

»Chris?« Daniel schüttelte ihn noch einmal.

Der Junge bewegte sich nicht. Daniels leerer Magen zog sich zusammen. Er legte die Hand auf Chris’ Stirn. Sie war kühl.

»O Gott!« Auf Knien und Händen krabbelte Daniel von dem toten Jungen weg. Dann ließ er sich auf den Waldboden fallen und starrte auf die leere Hülle seines besten Freundes. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Langsam krabbelte er zurück und schaute Chris ins Gesicht. »Chris?«, flüsterte er.

Chris antwortete nicht.

Zittrig streckte Daniel die Hand nach Chris aus und strich ihm das Haar von der Wange. Das Fieber war weg, Chris’ Züge wirkten nun nicht mehr hart und angestrengt, sondern ganz entspannt. Er sah aus, als würde er friedlich schlafen. Eine Sekunde lang empfand Daniel so etwas wie Neid. Aber der Moment ging vorbei. Er wollte frei sein, aber nicht so wie sein Freund. Daniel setzte sich neben Chris. Er lehnte den Rücken an den Baumstamm, bettete Chris’ Kopf in seinen Schoß und streichelte sein Haar.