Prolog
Achtzehn Jahre zuvor
Er kauerte hinter einem Holzstapel und beobachtete das kleine Mädchen durch eine Lücke zwischen den Scheiten. Es war etwa zehn, strahlte aber eine für dieses Alter ungewöhnliche Selbstsicherheit aus. Die Kleine trug ein getigertes Kätzchen in ein kleines Spielhaus. Dabei brabbelte sie etwas von Tee und Plätzchen. Das Mädchen trug abgeschnittene Hosen und ein T-Shirt mit Flecken vom Mittagessen.
In dem Spielhaus aus Plastik musste es furchtbar stickig sein, denn das Wetter war heiß und trocken, und das war auch gut so. In den letzten paar Nächten hatte er im Wald nicht gefroren. Tagsüber war die Hitze allerdings mörderisch. Das große, weiße Farmhaus hatte er am Morgen entdeckt. Es war seine erste Berührung mit der Zivilisation seit … Jahren. Vorsichtig, die Umgebung fest im Blick, hatte er sich von einem Schatten zum andern bis zu seinem jetzigen Versteck geschlichen. Vor einer Stunde hatte er beobachtet, wie ein paar ältere Jungs in einem zerbeulten Farmtruck weggefahren waren und wie eine Frau zwei graue Katzen durch die Hintertür ins Freie gelassen hatte. Die Frau hatte freundlich ausgesehen.
Er sehnte sich nach ein bisschen Freundlichkeit.
Er drängte sich näher an den Holzstapel, legte den Kopf gegen die Scheite und zwinkerte gegen die Schleier vor seinen Augen an. Hunger verspürte er schon seit Tagen nicht mehr. Essen interessierte ihn kaum. Er wollte nur Wasser. Neben der Hintertür hing ein Schlauch, aber bis dahin waren es gut dreißig Meter.
Vielleicht sollte er zu der Frau gehen und um Hilfe bitten. Aber er würde sich erst aus seinem Versteck wagen, wenn er sich ganz sicher fühlte. Er würde warten, bis es dunkel wurde. Dann …
»Tabby! Komm zurück!«
Das Kätzchen sauste über seine Füße. Er stützte sich erschrocken am Holzstapel ab.
Oh, oh.
Die Kleine bog in vollem Lauf um die Ecke und blieb abrupt stehen, als sie ihn entdeckte. Mit offenem Mund und großen Augen starrte sie ihn an. Zögernd ging sie zwei Schritte auf ihn zu und musterte ihn dabei eingehend.
Er konnte sich nicht rühren. Er wusste, dass er schlimm aussah. Seine schmutzige Kleidung hob sich kaum vom Braun des Holzes und des Erdbodens ab und seine Haut war unter der Dreckschicht vermutlich schneeweiß. Er hatte lange keine Sonne gesehen.
Ihre blauen Augen sahen ihn neugierig an. Sie kam näher. Ihr Blick wanderte von seinen nackten Füßen voller Blasen bis hinauf zu dem alten, blutigen Hemd, das er sich um den Kopf gewickelt hatte.
Zwei Meter vor ihm blieb sie stehen. Falls sie schnell wegrennen musste, reichte dieser Abstand aus. Aber anscheinend hielt sie ihn nicht für gefährlich. Ihr Eindruck war richtig. Er war in etwa so bedrohlich wie ein Seehundbaby.
»Sprichst du Englisch?«, fragte sie laut.
Er biss sich auf die Wange. Das ist das Erste, was ihr einfällt?
»Lebst du im Wald? Wie alt bist du?« Ihre Augen verengten sich.
Mühsam stand er auf, stützte sich am Holzstapel ab und spürte, wie sein Kopf durch diese kleine Anstrengung anschwoll. Sie riss die Augen auf. Er war dünn. Klapperdürr. Sie hatte seine blauen Flecken und die Abschürfungen entdeckt. Unter seinen Kleidern gab es noch mehr davon. »Ja, ich spreche Englisch. Nein, ich lebe nicht im Wald. Und ich bin dreizehn«, krächzte er.
Sie stellte sich aufrechter hin. »Geht’s dir gut?«, fragte sie besorgt.
Er berührte vorsichtig seinen improvisierten Turban und zuckte zusammen. »Hast du Wasser?«
Sie nickte und rannte ins Spielhaus. Mit einer geblümten blauen Tasse auf einer passenden Untertasse kam sie wieder heraus. Zittrig führte er die Tasse an seine aufgeplatzten Lippen. Das warme Wasser war himmlisch, aber die ungewohnte Schluckbewegung tat weh. Dass das Mädchen ihm so bereitwillig half, trieb ihm fast die Tränen in die Augen.
»Woher sind die rosa Flecken in deinem Gesicht?«
Klirrend stellte er die Tasse auf die Untertasse. Die Narben. Zigaretten. Der Bunker. Geschichten, die er niemandem erzählen konnte, ohne viele Menschenleben zu gefährden. »Kann ich bitte noch was haben?«
Diesmal holte sie eine kleine Kanne und schenkte ihm daraus ein. Er trank. Damit ihm die Beine nicht wegknickten, kauerte er sich wieder auf den Boden. Übelkeit stieg in ihm auf. Hatte er zu schnell getrunken? »Ist deine Mutter da?«
Sie nickte. »Soll ich sie holen?«
»Bitte. Erzähl niemand anderem, dass ich hier bin, okay? Hol einfach nur deine Mom.« Er lehnte den Kopf gegen den Holzstapel und schloss die Augen. Grelle Farben flossen hinter seinen Lidern ineinander, während die Welt sich langsam um ihn herum drehte. Das Sprechen hatte ihn angestrengt. Aber er war aus dem Wald entkommen und diese Familie würde ihm helfen. Jetzt musste er nur auf der Hut bleiben und den Mund halten.
»Wie heißt du?«, flüsterte sie.
Er öffnete die Augen einen Spaltbreit. Aus ihrem Blick sprach nur schlichte Neugier. »Chris. Chris Jacobs.« Seine trockenen Lippen verzogen sich. »Kannst du deine Mom holen? Bitte?«
Sie drehte sich um und rannte zum Haus. Die sonnenbraunen Beine flogen.