Kapitel 7

 

Jamie schaltete die Nachrichten aus. Sie wollte nicht noch mehr Leichensäcke sehen und Leute, die in der Erde wühlten. Sie wollte keine weiteren vagen Erklärungen von irgendwelchen Polizisten und Spekulationen von Reportern hören. Vom Fernsehen hatte sie genug. Ganz kurz hatte sie Michael Brody hinter einem gelben Absperrband stehen sehen – Hand in Hand mit einer hübschen Blondine.

Es war nur eine kurze Bildsequenz gewesen, ein sekundenlanger Kameraschwenk zu einer Gruppe von Polizisten und Detectives. Warum lief die Szene jetzt als Endlosschleife in ihrem Kopf? Michaels angespannte Haltung hatte sie berührt. Er sah aus, als könnte er seine Gefühle nur mühsam im Zaum halten. Genau wie heute Morgen in ihrer Schule, als sie sich um Kopf und Kragen geredet und viel zu viel Persönliches über Chris preisgegeben hatte. Als er sie dann gebeten hatte, mit ihm zu fahren, hatte er nicht alle Gefühle verbergen können. Sie hatte Funken in seinen Augen gesehen. Sie hätte Ja sagen können. Er wollte mit ihrem Bruder sprechen, nicht mit ihr eine Spritztour machen. Jamie ging in die Küche und machte sich über das Geschirr her. Es stapelte sich sonst nie im Spülbecken. Was war bloß mit ihr los?

Vor ein paar Stunden hatte sie ihre Schlüssel im Auto eingeschlossen. Sie hatte ratlos in das leere Fach in ihrer Handtasche gestarrt, wo sie eigentlich sein mussten. Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen hatte sie feststellen müssen, dass die Schlüssel gut sichtbar im Wagen lagen. Mit einem genervten Schnauben hatte sie nach der magnetischen Schachtel unter dem Fahrzeug getastet, die sie vor Jahren dort versteckt hatte. Sie ging gerne auf Nummer sicher, hätte aber nie geglaubt, dass sie die Schachtel mit den Ersatzschlüsseln einmal brauchen würde.

Jemand klingelte an der Tür. Jamie ging hin und drückte das Auge ans Guckloch.

Wenn man vom Teufel sprach. Draußen war es dunkel, aber das Verandalicht erhellte sein Gesicht.

Er zwinkerte und ihr Herz schlug einen Salto.

Meine Güte.

Erbost über ihre eigene Reaktion öffnete sie die Riegel und dann die Tür. »Was wollen Sie?«

»Ich möchte, dass Sie mitkommen und mir helfen, Ihren Bruder zu finden.«

»Vergessen Sie’s. Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich das nicht mache.« Sie schüttelte bei jedem Wort den Kopf. »Lassen Sie ihn in Ruhe. Der Medienrummel ist eine riesige Belastung für ihn. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass er schreckliche Albträume hat. Das darf nicht noch schlimmer werden.«

»Schützen Sie Ihren Bruder oder seinen Sohn?«

Jamie knickten beinahe die Knie weg. Sie hielt sich am Türknauf fest. »Haben Sie Sohn gesagt? Chris hat keine Kinder.« Wie bitte?

In den grünen Augen flackerten Mitgefühl und Ärger auf. »Doch, hat er. Wussten Sie das nicht?«

Jamie war sprachlos. Sie schüttelte den Kopf. Chris? Sohn? »Sieht aus, als wollte er nicht nur Sie schützen«, sagte Michael leise. Plötzlich wurden seine Augen schmal. »Hey. Sie müssen sich setzen.« Er nahm sie an den Armen, schob sie zum Wohnzimmer und drückte sie auf die Couch. Dann setzte er sich zu ihr. Sein Gewicht auf den Polstern führte fast dazu, dass sie gegen ihn kippte. Sie gab sich Mühe, aufrecht sitzen zu bleiben.

Das Atmen fiel ihr schwer. Ihr war schwindelig. Sie hatte einen Neffen? Hatten ihre Eltern das gewusst? »Wie alt?«

»Was meinen Sie?«

»Der Junge. Wie alt ist mein Neffe?«, krächzte sie.

»Etwa sieben oder acht.«

Jamie drückte die Augen zu und wischte sich unwirsch die Tränen ab. »Er hat mir nie von ihm erzählt.«

»Ja, sieht ganz so aus.« In Michaels Stimme lag Mitgefühl. »Es tut mir leid.«

»Ist er verheiratet? Hat er mir das auch verschwiegen?« Warum? Warum hatte Chris ihr das verheimlicht?

»Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er jemals verheiratet war. Die Mutter des Jungen ist gestorben, als der Kleine ein Jahr alt war.«

Mehr Tränen flossen. Tränen für das mutterlose Kind und den einsamen Vater. »Sie ist tot? Wer war sie?«

»Ich habe nicht viel mehr als ihren Namen: Elena Padilla. Sie war zweiundzwanzig, als sie starb.«

Jamie merkte plötzlich, dass sie sich an Michaels Händen festklammerte. Ihre Fingerknöchel waren weiß. Sie ließ ihn los, aber ihre Finger fühlten sich an wie gefroren. Nur mit Mühe ließen sie sich strecken. Sie klemmte sie zwischen die Knie und sah ihn an.

Sein Blick war besorgt. Er schaute sie an, als hätte er Angst, sie könnte entzweibrechen.

»Entschuldigen Sie«, murmelte sie. Ihre Zunge war taub. »Es ist nur … Chris ist alles …«

»Sie haben außer ihm keine Angehörigen mehr, und es tut weh, dass er sein Kind vor Ihnen versteckt hat.«

»Wie heißt er? Wie heißt der Junge?« Ihre Gedanken hörten einfach nicht auf, sich zu drehen. Sie hatte einen Neffen und Chris hatte kein Wort davon gesagt?

»Ich weiß es nicht«, antwortete Michael.

»Und Sie sind sich ganz sicher?« Sie sah ihn an. »Er hat wirklich einen Sohn?«

»Irrtum ausgeschlossen«, sagte er leise.

Sie drehte den Kopf weg, wollte das Mitleid in seinem Blick nicht sehen. »Wissen Sie, wo er ist?« Sie fragte sich nicht mehr, wie Michael zu seinen Informationen kam und ob sie richtig waren. Ihr Gefühl sagte ihr, dass er alles, was er erfuhr, noch mindestens dreimal überprüfte.

»Ich weiß zumindest, wo wir anfangen können zu suchen.«

Jamies Herz zog sich zusammen. Sie spürte den dringenden Wunsch, Chris und seinen Sohn zu sehen. »Woher wissen Sie das alles? Wie haben Sie das herausgefunden?«

Michael zuckte die Schultern. »Gleich nach unserem ersten Gespräch haben Sie in Ostoregon angerufen. Die Region ist ziemlich dünn besiedelt. Ich habe ein bisschen herumtelefoniert und mit dem Sheriff der Gegend gesprochen. Er kennt einen Chris Jacobs, der sehr zurückgezogen lebt. Der Sheriff meint, sein Bezirk sei ideal für Leute, die mit dem Rest der Welt nichts zu tun haben wollen. Klingt das nach Ihrem Bruder?«

»Ja, leider.«

»Ihren Bruder kennt er, weil Chris’ Partnerin oder Freundin bei einem Autounfall umgekommen ist. Ich finde keine Eintragungen über eine Eheschließung, aber über den Unfall gibt es Zeitungsberichte. Darin wird auch das Kind erwähnt.

Was in den Artikeln steht, passt zu dem, was der Sheriff mir erzählt hat. Muss eine schlimme Sache gewesen sein, ein Anblick, den man nicht so schnell vergisst.«

»Keine Details, bitte«, sagte Jamie hastig. Sie wollte keine Bilder vom grauenhaften Unfalltod einer jungen Frau im Kopf haben.

Michael nickte. In seinen Augen sah sie einen Schatten, der vorher noch nicht da gewesen war. Wie viel Grauenhaftes hatte er in seinem Job als Reporter schon gesehen und in seinen Artikeln beschrieben?

»Kommen Sie jetzt mit und helfen mir bei der Suche nach Ihrem Bruder? Sicher redet er lieber mit Ihnen als mit einem Fremden. Ich fahre nicht als Reporter, sondern als Privatperson. Ich will wissen, was mit meinem Bruder passiert ist.«

Jamie wünschte sich nichts sehnlicher als ein Wiedersehen mit Chris. Es war so lange her …

Gleichzeitig hatte sie eine ganze Liste von Dingen im Kopf, die sie dringend erledigen musste. »Ähm … ich muss die Zeitung abbestellen und die Post und meine Nachbarin bitten, die Katze zu füttern. Außerdem habe ich morgen Abend ein Elterngespräch …«

Ihre Einwände klangen selbst in ihren Ohren lahm.

»Großer Gott, Prinzessin. Ja oder nein? Ich fahre morgen früh. Die Fahrt ist lang, ein bisschen Gesellschaft wäre nett.«

Sie erstarrte, konnte sich einfach nicht durchringen. »Ich brauche ein paar Tage.« Sie musste erst darüber nachdenken. Sie musste planen, bevor sie sich auf den Weg machte. Nach Chris’ Verschwinden hatten ihre Eltern sie nicht mehr aus den Augen gelassen. Ein Nachmittag bei einer Freundin? Ihre Eltern sahen sich die Familie vorher an. Eine Übernachtung bei einem anderen Kind? Undenkbar. Erst ab dem College hatte sie nicht mehr mit ihren Eltern unter einem Dach geschlafen.

Ihr ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis war sie nie losgeworden.

Michael warf einen Blick auf die Uhr. »In Ordnung. Verstanden.« Er stand auf und starrte sie mit blitzenden Augen an.

Jamie war verwirrt. Sein fordernder Blick passte nicht zum Ton seiner Worte. Seine Augen sagten: Komm mit! Lass alles stehen und liegen! Und er wollte sie nicht nur dabeihaben, damit ihr Bruder zugänglicher war. Er wollte … noch etwas anderes.

Wärme durchrieselte ihren Körper. Wie würde es sich anfühlen, mit diesem energiegeladenen Mann allein zu sein? Sobald er in ihrer Nähe war, stand sie unter Strom. Er war gefährlich.

Und Gefahren ging Jamie prinzipiell aus dem Weg. Sie stand auf und machte ein paar Schritte von ihm weg. »Das geht nicht. Ich kann nicht von einer Minute auf die andere hier weg.«

»Warum nicht? Sie haben keine Familie, nur eine Katze. Es sind Sommerferien. Der ideale Zeitpunkt, um mal spontan zu sein.«

Seine Worte gaben ihr einen Stich. Dass ihr Leben in ruhigen Bahnen dahindümpelte, wusste sie. Sie brauchte niemanden, der sie daran erinnerte. Die Reaktion ihrer Eltern auf Chris’ Verschwinden hatte sie nun mal geprägt. Sie war zu einem vorsichtigen Menschen geworden, der sich jeden Schritt gut überlegte. Ihre Impulsivität war dabei auf der Strecke geblieben. Aber es gab Schlimmeres.

Michael hatte ihre größte Schwachstelle aufgedeckt. Dabei kannte er sie kaum. Sie hob den Kopf. »Rufen Sie mich an, wenn Sie ihn finden. Und seinen Sohn. Ich will alles über meinen Neffen wissen.«

Das Schweigen saugte die Luft aus dem Wohnzimmer.

Schließlich sagte er lächelnd: »Geht klar.« Dann drehte er sich um, ging zur Tür, warf ihr über die Schulter einen letzten Blick zu und verschwand.

Das Geräusch der sich schließenden Tür hallte durch ihr leeres Haus. Jamie atmete aus und ließ sich wieder auf die Couch fallen. Würde Michael Chris finden? Chris hatte immer deutlich gemacht, dass er in Ruhe gelassen werden wollte. Auf die Nachricht, die sie ihm gestern hinterlassen hatte, hatte er nicht reagiert. Sollte sie ihm eine weitere auf die Mailbox sprechen? Ihn warnen, dass jemand nach ihm suchte?

Sie schüttelte den Kopf. Im Lauf der Jahre hatten schon viele Leute versucht, ihn zu finden. So hartnäckig Michael auch sein mochte – Chris wusste, wie man sich Reportern entziehen konnte. Aber, meine Güte, ihr Bruder hatte einiges zu erklären. Wenn sich die Wogen geglättet hatten, musste er ihr seinen Sohn vorstellen.

Aber weshalb hatte sie das Gefühl, grade eine Chance verpasst zu haben? Warum war sie nicht mit Brody gefahren?

 

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Der Mann stapfte aufgebracht in seinem Büro hin und her.

»Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht? Was haben Sie dort hinterlassen? Eine Folterkammer? Ein Sexverlies? Sie sollten sie beseitigen, nicht als Sklaven für Ihre perversen Gelüste behalten. Verdammte Kacke!«

Gerald saß stumm auf seinem Stuhl. Er kannte verschiedene Versionen dieser Predigt und wusste, dass der Boss nur Dampf ablassen musste. Sollte er doch reden.

»Ich kann nicht fassen, dass Sie das ganze Zeug im Bunker gelassen haben. Wer weiß, was die da finden? Heutzutage können die verdammten Forensiker sogar nachweisen, dass du irgendwo ein Reiskorn fallen gelassen hast. Sie haben der Polizei eine Schatzkiste voller Kinderkram hinterlassen. Ihre Fingerabdrücke können überall sein. Und ich weiß, dass sie im System erfasst sind.« Der Mann blieb stehen und starrte ihn an.

»Ich hatte immer Latexhandschuhe an«, sagte Gerald. Das stimmte nicht ganz. Für gewisse Dinge zog er die Handschuhe aus.

»Haben Sie die Handschuhe dort liegen lassen? Die können sogar von der Innenseite der verdammten Dinger noch Fingerabdrücke holen.«

»Natürlich nicht.«

Sein Boss starrte ihn an, und Gerald verstand, warum die Leute Respekt vor ihm hatten. Er zeigte seinem Gegenüber deutlich, was er von ihm hielt. Und im Augenblick ließ er Gerald spüren, dass er ihm nicht glaubte.

Gerald war ziemlich sicher, dass er keine Handschuhe im Bunker vergessen hatte. Als er vor über zehn Jahren zum letzten Mal dort gewesen war, hatte er allen verdächtigen Müll beseitigt. Die Sachen der Kinder hatte er stehen lassen. Damit konnte man ihm nichts nachweisen. Es zeigte nur, dass Kinder da gewesen waren.

Die meisten hatte er sich schnell vom Hals geschafft. Erst die Mädchen, dann die kleineren Jungs. Die beiden ältesten Jungen hatten ihm am besten gefallen. Deshalb hatte er sie auch am längsten behalten.

Zum tausendsten Mal dachte er an Chris Jacobs. Erinnerte er sich wirklich nicht an jene Jahre? Oder war das nur eine Schutzbehauptung? Gerald hatte ihm und David deutlich gesagt, was er mit ihren Familien anstellen würde, wenn sie ihm nicht gehorchten. Und Chris hatte er als Mahnung ein Geschenk ins Krankenhaus geschickt. Die unmissverständliche Aufforderung, den Mund zu halten.

Aus welchem Grund auch immer – Chris Jacobs hatte geschwiegen.

Seinem Boss gingen offenbar ähnliche Gedanken durch den Kopf. »Vielleicht hilft der Medienrummel Jacobs’ Gedächtnis auf die Sprünge.«

»Er wohnt ja nicht mal mehr in Oregon. Zumindest kann ich ihn nicht finden. Ich suche regelmäßig nach ihm. Aber er bleibt offenbar gerne auf Abstand zu seiner Vergangenheit.«

Der Boss warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Die verdammte Geschichte macht quer durch die Staaten Schlagzeilen. Vielleicht sogar weltweit. Die Medien sind ganz versessen auf tote Kinder.«

Gerald zuckte die Schultern. »Er weiß weder, wer ich bin, noch, wo er mich finden kann.«

»Sie könnten eine Beschreibung von Ihnen rausgeben. Ihr Aussehen ist nun mal etwas ungewöhnlich.« Der Mann musterte ihn von oben bis unten.

Gerald wand sich unter seinem Blick. Er tat, was er konnte, um nicht aufzufallen. Trotzdem war er nie sicher, ob die Leute ihn nicht anstarrten. Schon als kleines Kind hatte er gemerkt, dass er nicht aussah wie die anderen Kinder. Und Kinder waren grausam. Selbst Tiere verstießen Artgenossen mit abweichendem Aussehen aus dem Herdenverband. Das hatte er gelesen. Und bei Menschen war das nicht anders. Er war immer ein Ausgestoßener gewesen.

»Daniel ist tot. Das ist viel wichtiger«, gab Gerald zurück. »Wenn er überlebt hätte, hätten wir wirklich ein Problem.«

»Ihr Glück, dass er tot ist.« Sein Boss sah aus, als würden ihm gleich sämtliche Sicherungen durchbrennen. »Wenn ich damals gewusst hätte, dass Sie die verdammten Kinder einsperren, anstatt sie zu beseitigen, hätte ich Sie eigenhändig erdrosselt.

Ihr Job ist noch nicht erledigt. Sie schnappen sich Chris Jacobs so schnell wie möglich und schalten ihn aus. Das ist längst überfällig. Nicht früher darauf zu drängen, war nachlässig von mir. Sie hätten das schon damals erledigen müssen, als er wieder aufgetaucht ist. Mir haben Sie gesagt, alle seien tot. Sie haben mir schamlos ins Gesicht gelogen und ein paar von den Kindern behalten.«

Sein Boss fing an, sich zu wiederholen. Er hatte einen knallroten Kopf und das silberne Haar stand an einigen Stellen borstig ab. Normalerweise war seine Erscheinung makellos. Doch die angespannte Situation ging nicht spurlos an ihm vorbei.

Gerald fuhr sich durchs Haar. »Ich suche alle paar Jahre nach ihm. Im Netz ist nichts zu finden. Entweder existiert er nicht mehr oder er hat seinen Namen geändert. Ich würde auf die Namensänderung tippen.«

»Er könnte immer noch eine Aussage machen, sich vielleicht sogar hypnotisieren lassen, damit sie doch noch irgendwas aus seinem Hirn klauben können.«

»Und was soll er sagen? ›Ich erinnere mich an einen weißhaarigen Kerl mit Tätowierungen? Ich habe zwei Jahre lang mit einem anderen Jungen in einer unterirdischen Blechbüchse gelebt?‹ Wie soll man das mit uns in Verbindung bringen?«

»Daniel ist lange am Leben geblieben. Vielleicht hat er Chris gesagt, was er gesehen hat.« Der Boss wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Damals wusste keiner, dass es eine Verbindung zwischen uns gibt. Ein Kind hätte schon gar nicht darauf kommen können.«

»Daniel war schlau. Es hieß, er sei ein verdammtes Nachwuchsgenie.«

»Selbst für ein Genie ergibt eins und eins nicht fünf«, widersprach Gerald.

»Was zum Teufel soll das denn heißen?«

»Er wusste nicht genug, um die Zusammenhänge zu erkennen.«

»Haben Sie Chris Jacobs’ Schwester gefragt, wo er ist?«

»Jeder hat sie gefragt. Die Polizei, die Medien. Die sagt kein Wort.«

»Sie muss doch irgendeine Ahnung haben, wo ihr Bruder sich versteckt. Sie gehen jetzt zu ihr, quetschen sie aus und bringen die Sache zu Ende. Ich frage mich, wie ich Ihnen je vertrauen konnte. Und jetzt verschwinden Sie.«

Gerald hasste ihn. »Ja, Sir.«

Seinem Boss blieb gar nichts anders übrig, als ihm zu vertrauen. Dafür gab es einen guten Grund. Und Gerald hoffte, dass er eines Tages die Gelegenheit haben würde, ihm diesen Grund in sein perfektes Gesicht zu schleudern.

 

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»Tut mir leid, aber ich mache für heute Schluss, Lisa. Läufst du noch weiter?« Jamie balancierte auf einem Bein, zog den anderen Fuß hinten hoch, bis die Ferse ihre Shorts berührte, und dehnte die Oberschenkelmuskulatur. »Ich weiß nicht, woher die Krämpfe kommen.«

Lisa joggte auf der Stelle. »Ich drehe noch eine Runde. Läufst du morgen wieder mit?«

»Ja klar, ich versuche es. Bis morgen dann.«

Lisa schoss davon. »Versuch es mal mit einer Wechseldusche!«, rief sie noch über die Schulter.

Jamie nickte und stakste vorsichtig zu ihrer Haustür. Verdammt. Der ziehende Schmerz im Oberschenkel war lästig. Dabei waren sie erst drei Meilen weit gelaufen – die Hälfte der Strecke, die Lisa und sie mehrmals pro Woche absolvierten. Sie würde ein Wärmepad auflegen und den Muskel vorsichtig dehnen. Dazu viel trinken. Eigentlich glaubte sie nicht, dass sie dehydriert war. Aber bei der Hitze in den letzten Tagen konnte man nie wissen.

Plötzlich war sie furchtbar durstig. Sie schloss die Haustür auf, ging in die Küche und erstarrte. Großer Gott. Der Inhalt sämtlicher Schubladen lag auf dem Boden verstreut, alle Schränke standen offen. Die Augen starr auf das Chaos gerichtet, schob sie sich langsam rückwärts aus dem Raum.

Raus hier. Sofort.

»Nicht bewegen. Nicht umdrehen«, sagte eine männliche Stimme hinter ihr.

Sie erstarrte. Er drückte etwas Kleines, Hartes an ihren Hinterkopf. Ihr Herz begann, wie wild zu hämmern, ihr Mund wurde trocken, ihr Blickfeld verengte sich.

»Leg dich langsam auf den Boden. Auf den Bauch. Hände auf den Rücken.«

Er wird mich vergewaltigen.

Jamie rührte sich nicht. Wenn sie erst auf dem Boden lag, hatte sie keine Chance mehr, sich zu wehren.

»Runter. Sofort!«, blaffte er.

Sie schüttelte den Kopf, konnte weder sprechen noch die Beine bewegen.

»Verdammte Schlampe.« Er rammte ihr die Faust ins Kreuz und drückte ihr die Waffe in den Nacken. »Wird’s bald!«

Jamie fiel schmerzhaft auf die Knie. Er packte ihre Hand und riss ihr den Arm auf den Rücken. Die Waffe bohrte sich in ihre Haut.

»Wo ist dein Bruder?«

Chris? »Was wollen Sie?« Ihre Stimme hörte sich fremd an.

Die Waffe grub sich noch tiefer in ihr Fleisch. »Wo ist dein verdammter Bruder? Der mit den hübschen runden Narben im Gesicht.« Er drückte ihr die Pistolenmündung an die Wange. »Willst du dieselben haben? Ich hab Zigaretten dabei.«

Jamies Augen begannen zu tränen. Die Waffe tat ihr weh, aber noch viel schmerzhafter war die Vorstellung von Chris’ versengter Haut.

»Wo ist er? Ich weiß, dass ein Reporter nach ihm sucht. Im Augenblick will jeder Chris Jacobs haben. Den berühmten einzigen Überlebenden.« Den letzten Satz spuckte der Kerl geradezu aus. »Erinnert er sich wirklich nicht, wo er war und was mit ihm passiert ist? Ich wette, an meine Zigaretten erinnert er sich gut.«

Jamie schüttelte hastig den Kopf.

»Nein … er weiß nicht …«

Oh, mein Gott. Er ist es. Er ist derjenige, der Chris gequält hat. Er hat die Kinder umgebracht.

»Das glaube ich nicht. Der Medienrummel wird seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Ich wette, er wird nicht mehr gut schlafen, wenn er von den vielen kleinen Gräbern auf der Farm hört. Okay. Und jetzt sei eine brave Schwester und sag mir, wo er ist.«

»Ich weiß es nicht! Ich weiß es wirklich nicht. Ich rufe eine Nummer an und hinterlasse ihm eine Nachricht … Irgendwann ruft er mich dann zurück. Ich habe gestern auf seine Mailbox gesprochen, aber noch nichts von ihm gehört. Aber Michael …« Jamie presste die Lippen aufeinander.

Er hat Zigaretten auf meinem Bruder ausgedrückt. All diese Kinder …

Sie spürte, wie die Haut an ihrem Wangenknochen unter der Mündung der Waffe einriss.

Chris’ Albträume … die Schreie … Er ist derjenige …

»Michael? Der Reporter? Hat er was rausgefunden? Weiß er, wo er den dürren Scheißer findet?«

Jamie schüttelte den Kopf und versuchte, vor der Waffe zurückzuweichen. »Er weiß nichts.«

»Warum glaube ich dir nicht?« Der Kerl riss an ihrem nach hinten gedrehten Arm und ihre Sicht verschwamm.

»Ich weiß nicht … Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen!«

»Ich will deinen Bruder!« Er gab ihr einen heftigen Stoß und ihr Gesicht knallte auf den Holzboden.

Alles, was sie je über Selbstverteidigung gelesen hatte, wirbelte durch ihren Kopf. Eine Grundregel lautete: Wehr dich und schrei!

Jamie rollte sich blitzschnell auf den Rücken und trat mit den Füßen nach dem Mann. Sie traf ihn an den Knien und am Schienbein.

Sie schrie. Sie steckte ihre ganze Kraft in die Schreie und Tritte.

Ihre Beine waren vom jahrelangen Lauftraining gestählt und er stolperte überrascht von ihr weg. Die Pistole fiel zu Boden und sie grapschte danach. Er warf sich auf die Waffe, schnappte sie und zog sie ihr durchs Gesicht. Das Metall riss ihr die Lippen auf.

Sie hörte nicht auf zu schreien. Er war auf gleicher Höhe mit ihr und sie trat zu, so fest sie konnte. Gegen seine Arme, seine Beine, in seinen Bauch, seinen Hintern. Sie traf bei jedem Tritt. Er bewegte sich im Krabbengang von ihr weg. Jedes Mal, wenn er sich mit der Hand abdrückte, schlug die Waffe auf den Boden.

Tritt ihn! Tritt ihn! Bloß nicht aufhören! Jamie schob sich auf dem Hinterteil auf ihn zu, nutzte die stärksten Muskeln ihres Körpers und hämmerte mit den Füßen auf ihn ein. Er zog sich an einer Schranktür vom Boden hoch und floh aus der Küche.

Jamie stemmte sich auf Hände und Knie und sprang auf. Sie stützte sich am Türrahmen ab, sah gerade noch ein Stück von seinem Hemd, als er aus der Haustür rannte.

An den Türrahmen geklammert starrte sie ihm hinterher. Die Sonne schien durch die offene Haustür in den Flur. Langsam glitt sie mit dem Rücken am Türrahmen entlang zu Boden.

Er ist weg. Er ist derjenige … Die Kinder … Chris …

Jamie bekam kaum Luft. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Ihre Arme zitterten. Sie verschränkte sie über der Brust und hielt sie mit den Händen fest. Das Zittern hörte nicht auf.

Sie musste die Polizei rufen. Sofort.

Das Telefon auf der Arbeitsplatte schien meilenweit entfernt.

Oh, mein Gott, er hätte mich fast umgebracht.

Sie blinzelte, sah, wie die Schränke sich verzogen und verschwammen. Ihr Magen krampfte sich zusammen.

O Mist.

Sie riss eine Schüssel aus dem Chaos auf dem Boden und übergab sich.

 

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Michael warf ein weiteres Paar Shorts in seine Tasche.

»Verdammt.« Was war mit ihm los? Er wollte seit einer Stunde unterwegs sein und hatte noch nicht mal gepackt. Zum ersten Mal im Leben hatte sein innerer Wecker ihn im Stich gelassen, und er konnte sich denken, weshalb.

Er hatte die halbe Nacht wach gelegen und an Jamie Jacobs gedacht. Die restliche Zeit hatte er von ihr geträumt. Erst beim Duschen hatte er gemerkt, wie spät es schon war.

Dass sie nicht mitfahren wollte, enttäuschte ihn. Er hatte gehofft, mit ihrer Hilfe besser an Chris herankommen zu können – wenn sie ihn denn fanden. Er hatte gehofft, sie würde ihm die Türen öffnen. Außerdem wollte er sie unbedingt näher kennenlernen. Er schnitt vor dem Spiegel eine Grimasse und suchte nach einer neuen Rasierklinge. Jamie war anders. Viel mehr als ein unterhaltsames Intermezzo. Seine Gedanken kreisten nur noch um diese Frau und wie er mehr Zeit mit ihr verbringen konnte.

In seinem Leben fehlte etwas. Das war ihm schlagartig klargeworden.

Herrje. Er hörte sich an wie ein frisch Bekehrter.

Er schlüpfte in seine Leder-Flip-Flops, warf sich die Reisetasche über die Schulter und ging zur Tür. Vorsichtshalber überprüfte er seine Taschen. Schlüssel, Brieftasche, Telefon. Alles klar.

Die Haustür fiel hinter ihm ins Schloss, die Hitze des Morgens schlug ihm ins Gesicht. Es war erst sieben Uhr und das Thermometer näherte sich bereits der Dreißig-Grad-Marke. Wie heiß würde es erst hinter den Kaskaden sein? Auf der Ostseite des Staates war das Wetter extremer als im Westen. Entweder noch heißer oder noch kälter. Als er zu dem schwarzen SUV vor seiner Garage joggte, vibrierte das Handy in seiner Tasche. Er kümmerte sich nicht darum. Er konnte von unterwegs zurückrufen.

Es war Zeit, etwas über Daniels Schicksal herauszufinden. Sein ganzes Leben lang hatte er wissen wollen, was mit seinem Bruder passiert war, und endlich rückte dieses Ziel näher. Das spürte er.

Als er das Wohnviertel hinter sich hatte, steckte er das Telefon in die Halterung am Armaturenbrett und schaute aufs Display. Kein Name, nur eine Nummer. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Jamies Nummer. Er hatte sie noch nie gewählt, aber ihre Handynummer, ihre Festnetznummer und die Nummer ihrer Schule hatten sich seit seinen Recherchen über diese Frau in sein Gedächtnis gebrannt.

Er drückte die Rückruftaste.

Hat sie es sich anders überlegt und will doch mitkommen?

Im letzten Moment bemerkte er ein Stoppschild, stieg auf die Bremse und befahl seinem Herzen, sich zu beruhigen.

»Michael?« Jamies panische Stimme füllte seinen Wagen. Seine Brust zog sich zusammen.

»Jamie. Was ist los?«

Er hörte sie nach Luft ringen.

»Verdammt, Jamie. Was ist passiert?« Er schnappte das Telefon, schaltete die Freisprecheinrichtung aus und drückte es ans Ohr. »Alles okay?«

»Mir … ja … Mir geht’s gut.«

»Das hört sich aber nicht so an.«

»Ähm … bei mir wurde eingebrochen.«

»Raus. Sie müssen raus aus dem Haus. Sofort.« Er zerquetschte beinahe das Handy.

»Nein. Schon in Ordnung. Die Polizei ist da. Mir ist nichts passiert.«

Michael atmete aus. Gott sei Dank. »Geben Sie mir jemand von denen.« Die Geschichte aus Jamie herauszukriegen, würde ewig dauern.

Er schaltete die Freisprechanlage wieder an und wendete. Seine Pläne konnten warten. Er machte sich auf den Weg zu Jamies Haus.

»Sie sprechen mit Officer Byers.«

»Byers. Fehlt ihr wirklich nichts? Was zum Teufel ist passiert?«

»Schwer verletzt ist sie nicht. Hat ein paar Kratzer und blaue Flecken abbekommen. Der Sanitäter hat ihr Gesicht schon verarztet. Sie hatte Glück. Vor allem, wenn man bedenkt, dass er bewaffnet war.«

»Bewaffnet? Hatte er eine Schusswaffe?« Michael trat auf die Bremse.

»Der Kerl hat die Pistolenmündung in ihre Wange gebohrt. Sie hat sich gewehrt und ihn in die Flucht geschlagen.«

»Was?« Michaels Backenzähne mahlten aufeinander.

»Sie hat ihn verjagt. Wer weiß, was sonst passiert wäre.«

»Ich fasse es nicht! Haben Sie ihn?«

»Noch nicht. Aber sie konnte ihn beschreiben. Wir kriegen ihn sicher.«

»Bitte geben Sie sie mir noch mal.« Michael atmete gute fünf Sekunden lang aus. Der Typ hätte sie umbringen können.

»Michael?« Ihre Stimme klang jetzt fester.

»Hey, Prinzessin. Ich bin auf dem Weg. Ich bin in zehn Minuten da.«

»Ich weiß gar nicht, warum ich Sie angerufen habe. Sie müssen nicht …«

»Ich komme. Keine Widerrede.« Nichts würde ihn davon abhalten.

»Okay«, flüsterte sie.

»Und wir werden ein ernstes Gespräch darüber führen, ob es wirklich klug ist, sich gegen einen bewaffneten Angreifer zu wehren.«

Sie gab ein ersticktes Lachen von sich, das jedoch bald in ein Schluchzen überging.

»Nicht weglaufen. Ich bin schon fast da.«

»Bitte nicht auflegen, okay?«, krächzte sie.

»Würde mir nie einfallen.«

 

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Als Erstes sah Michael die beiden Streifenwagen. Jamie stand mit drei Uniformierten vor der Tür. Sie schienen etwas zu besprechen. Jamie trug atemberaubende, knappe schwarze Laufshorts. Heiliger Bimbam. Rannte sie etwa so durch die Gegend? Der Anblick der riesigen Pflaster an den Rückseiten ihrer Oberschenkel ließ Michael die Shorts vergessen. Er wurde wütend.

Alle Köpfe fuhren zu ihm herum, als er die Wagentür zuknallte und über die Straße joggte. Jamie hatte die Arme wie einen Schutzschild vor der Brust verschränkt. Trotz ihrer Sonnenbräune wirkte sie blass.

Ihr Gesicht. Michael wollte den Einbrecher erdrosseln. Auf ihrer rechten Wange klebte eine dicke Kompresse und ihre Lippen waren blutig und geschwollen.

Er eilte zu ihr und zog sie fest an sich. Vielleicht hielt sie das für zu vertraulich, aber das war ihm egal. Nach dem, was sie erlebt hatte, brauchte sie sicher eine Umarmung. Sie erstarrte nur eine Sekunde lang. Dann atmete sie durch und wurde etwas lockerer. Er rieb ihr den Rücken. Das ärmellose Lycra-Top fühlte sich seidig an. Aber längst nicht so seidig wie ihre Haut. Sie behielt die Arme vor der Brust, schmiegte die Stirn aber vorsichtig an seine Wange. Michael spürte, wie sie ein Zittern durchlief.

»Mir geht’s gut.«

Er rieb ihr noch einen Moment lang den Rücken, dann trat er einen Schritt zurück, hielt sie an den Schultern fest und schaute ihr in die Augen. »Was ist passiert?«

Als einer der Uniformierten hüstelte, starrte Michael ihn an. »Ist das Haus sauber?«

»Ja, wir haben uns gründlich umgesehen. Ms Jacobs war noch nicht wieder drin, um nachzusehen, ob etwas fehlt.« Der Cop sah Jamie an und hob eine Augenbraue. Michael wollte ihn treten, weil er sie unter Druck setzte. Auf seinem Namensschild stand Byers.

»Es geht schon«, sagte sie. Sie nahm eine von Michaels Händen von ihrer Schulter und hielt sie fest. »Kommen Sie mit mir?«

Als könnte ihn jemand davon abhalten.

Auf dem Weg zur Haustür bemerkte Michael, dass die Cops auf Jamies Hintern starrten. »O Mann«, murmelte er. Sofort zuckten ihre Blicke weg. Sein Beschützerinstinkt hatte ihn voll im Griff. Nur mit Mühe hielt er sich davon ab, die Zähne zu fletschen.

Jamie trat durch die Haustür und ging langsam den Flur entlang. Michael spürte, wie ihre Hand zitterte, als sie die Küche betraten. »Darf ich da überhaupt rein?«, fragte sie. »Ich will keine Beweise zerstören.«

»Lassen Sie einfach alles unverändert, bis es fotografiert ist«, sagte Michael. »Es geht ja nicht um Mord.«

Die Küche sah aus wie nach einem Tornado. Michael entdeckte drei im Zickzack verlaufende braune Streifen auf dem Boden. »Ist das sein Blut oder Ihres?«

»Meins.« Jamie schaute sich die Blutspur an. »Das hier könnte von meinem Gesicht sein. Das restliche Blut stammt vielleicht von meinen Oberschenkeln. Als ich am Boden lag und nach ihm getreten habe, habe ich mich an irgendwelchen Glasscherben geschnitten, ohne es zu merken.« Vorsichtig betastete sie die Bandage an ihrem rechten Oberschenkel. »Dass ich blute, hat mir erst der Sanitäter gesagt.«

»Fehlt etwas?«, fragte Byers.

Jamie schaute sich um. »Ich glaube nicht. Hier drin war nichts wirklich Wertvolles. Es sei denn, er steht auf Mauviel.«

Michaels Schnauben kam gleichzeitig mit Byers Frage. »Auf was?«

»Kochgeschirr.« Michael zeigte auf die glänzenden Kupfertöpfe, die auf dem Boden verstreut waren. »Nicht billig.«

Byers sah ihn fragend an.

»Meine Mutter hat welche«, erklärte Michael.

Nach einem kurzen Rundgang durchs Haus war Jamie sich relativ sicher, dass nichts fehlte. Aber der Einbrecher hatte ganze Arbeit geleistet und sämtliche Schubladen herausgerissen und ausgekippt. Die Schränke geleert. Byers Partner machte stumm Digitalaufnahmen. Jamies Schmuck war vollständig vorhanden, die elektronischen Geräte noch alle da. Jamies Schultern wurden ein wenig lockerer. Trotzdem ging sie nervös in der Küche auf und ab. Sie konnte jetzt nicht stillstehen.

»Er hat das ganze Haus durchsucht«, sagte Michael. »Wie lange waren Sie weg?«

»Etwa zwanzig Minuten. Normalerweise laufe ich eine Stunde. Aber ich hatte Muskelkrämpfe.«

»Laufen Sie jeden Tag?«

»Fast jeden Tag.«

»Immer um dieselbe Zeit?«

»Immer um sieben.«

Michael und die Cops sahen sich an. »Jemand kennt Ihre Gewohnheiten. Er dachte, er hätte eine Stunde lang Zeit. Sie müssen ihn überrascht haben, bevor er etwas mitnehmen konnte.«

Jamie schüttelte den Kopf. »Er hat nicht nach Wertsachen gesucht, sondern nach Chris.«

Michael stand sofort unter Strom. »Was?«

Der Uniformierte, der sich Notizen machte, sagte: »Er hat sie immer wieder gefragt, wo ihr Bruder ist.«

Michael packte Jamie am Arm und drehte sie zu sich herum. »Er wollte zu Chris? Hat er das gesagt?«

Sie nickte. »Er hat gesagt, Chris würde sich an seine Zigaretten erinnern. Die, mit denen er ihn verbrannt hat. Er war es, Michael. Er hat Chris gequält. Er muss auch die Kinder ermordet haben. Und deinen Bruder.«

Daniel. Michael lockerte seinen Griff und strich entschuldigend über Jamies Arm. Er hatte das Gefühl, sein Kopf müsste explodieren. Der Mann, der Daniel umgebracht hat, ist noch am Leben. Ich werde ihn finden.

»Entschuldige, Prinzessin.« Er wandte sich Byers zu. »Sie müssen die Staatspolizei anrufen: Detective Callahan von der Abteilung für Kapitalverbrechen.«

Der Cop kniff die Augen zusammen. »Kapitalverbrechen? Wieso? Wir haben gerade einen unserer Detectives angefunkt. Er ist für Raub und Körperverletzung zuständig.«

Michael schüttelte den Kopf. »Wir brauchen Callahan. Es gibt eine Verbindung zu mehreren Mordfällen, in denen er ermittelt.«

Byers sah Jamie fragend an. Sie nickte schweigend. »Verdammt«, schimpfte Byers. »Dann sofort raus hier. Alle.« Er machte einen Schritt auf Michael zu. »Ich hoffe, Sie wissen, wovon Sie reden. Warum zum Teufel haben Sie uns das nicht gleich gesagt?« Sein grimmiger Blick schloss Jamie mit ein.

Michael merkte, wie ihm langsam der Kragen platzte. »Weil mir das erst in dem Moment klar wurde, als Ms Jacobs ihren Bruder erwähnt hat. Und sie hat, verdammt noch mal, grade um ihr Leben gekämpft und steht unter Schock.« Er funkelte Byers herausfordernd an.

»Es tut mir leid …«, begann Jamie.

»Sie können nichts dafür. Gar nichts.« Er rieb ihr die Schultern. »Haben Sie ihn sehen können?«

Sie nickte und fing an, zu zittern.

»Du meine Güte. Los, raus in die Sonne. Haben Sie eine Jacke griffbereit?«

»Nichts anfassen«, sagte Byers. »Ich habe eine Erste-Hilfe-Decke im Wagen. Die kann sie sich gerne überwerfen.«

Jamies Zähne fingen an zu klappern.

»Heiliger Bimbam«, sagte Michael. »Raus. Schnell.«

 

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Ihr wurde einfach nicht warm. Dabei lag sie in zwei Erste-Hilfe-Decken gehüllt vor ihrem Haus in der prallen Sonne. Michael hatte seinen Rucksack aus dem Wagen geholt und unter ihre Füße geschoben. Jetzt kniete er neben ihr und rieb ihre Hände.

»Das ist nur der Schock, Prinzessin. Es wird gleich besser.«

»Warum nennen Sie mich immer Prinzessin? Und können Sie die bitte wegschicken?« Ihre Zähne klapperten noch immer. Um sie herum standen Uniformierte und starrten auf sie hinab. War es nicht schon seltsam genug, dass sie auf dem Rasen lag? Was sollten die Nachbarn denken?

»Gehen Sie weg«, kommandierte Michael. Die Polizisten gehorchten. »Prinzessin ist mir sofort durch den Kopf geschossen, als ich Sie zum ersten Mal gesehen habe. Genau genommen haben Sie mich sogar an eine Königin erinnert. Vielleicht liegt es an Ihrer Haltung. Die ist irgendwie majestätisch. Nicht hochnäsig oder steif. Eher … würdevoll, etwas distanziert und selbstbewusst.«

Majestätisch? »Das ist mein Direktorinnen-Modus. Sorgt dafür, dass die Kinder gehorchen.« Ihr verdammter Körper wollte nicht aufhören zu zittern. »Mir ist immer noch so kalt.«

Michael beugte sich über sie. Die grünen Augen blickten besorgt.

Jamie schloss die Lider, atmete tief aus und versuchte, sich zu entspannen. Die Pausen zwischen den Zitterattacken wurden länger.

»Schon besser«, sagte Michael leise. »Glauben Sie, Sie können jetzt reden?«

Jamie öffnete die Augen. Seine Besorgnis berührte sie. Sie nickte. »Helfen Sie mir bitte, mich aufzusetzen.«

Er schüttelte den Kopf. »Dafür ist es noch zu früh.« Er winkte Byers zu sich.

»Wie genau hat sie Ihnen den Kerl schon beschrieben?«

Byers warf einen Blick auf seinen Notizblock. »Weiße Person, männlich. Etwa eins achtzig bis eins fünfundachtzig groß, mittlere Statur. Ende vierzig bis Anfang fünfzig. Rotblondes Haar, blaue Augen. Leichte, dunkelblaue Laufhose, langärmeliges weißes Shirt, Tätowierungen auf beiden Handgelenken.«

Jamie nickte. »Ich glaube, die Tattoos haben seine Arme komplett bedeckt. Ich konnte durch sein Shirt hindurch schwache Umrisse erkennen.«

»Wahrscheinlich hat er deshalb mitten im Juli etwas Langärmeliges getragen«, sagte Michael. »Ich frage mich, ob er die lange Hose aus demselben Grund anhatte.«

»Tätowierte Beine?«, fragte Byers.

Michael zuckte die Schultern. »Möglich.«

Jamie hatte keine Lust mehr, auf dem Rücken zu liegen und Leute auf sich herunterblicken zu lassen. »Setzen Sie mich auf.«

Michael zog sie vorsichtig in eine sitzende Position, stützte ihren Rücken und ließ die Hand dort liegen. Ihre Haut saugte seine Körperwärme auf. Es fühlte sich himmlisch an.

»Seine Beine habe ich nicht gesehen. Nicht mal seine Knöchel.« Jamie ließ ihren Kampf mit dem Angreifer noch einmal an sich vorbeiziehen. »Aber er sah seltsam aus.«

»Definieren Sie seltsam.« Michaels rechter Mundwinkel bog sich nach oben.

Sie dachte nach. »Mit seinen Augen stimmte was nicht. Als wäre die Farbe nicht echt.«

»Kontaktlinsen?«, fragte Byers.

Sie nickte bedächtig. »Vielleicht. Mit den Haaren war es dasselbe. Die Farbe sah künstlich aus. Wie selbst gefärbt.«

»Herrje. Eitel ist er auch noch.« Michael grinste schief. »Kommt nicht damit klar, dass er grau wird.«

»Vielleicht hat er in Wahrheit dunkles Haar und hat es aufgehellt, damit man ihn nicht so gut erkennt. Vielleicht sind seine Augen eigentlich braun«, überlegte Byers. »Sind Sie sicher, dass er bei den Farben nachgeholfen hat? Ich selbst habe erst nach fünf Jahren gemerkt, dass meine Frau ihre Haare färbt. Und dann auch nur, weil ihre Schwester es erwähnt hat. Woran haben Sie gesehen, dass seine Haarfarbe nicht echt ist?«

Jamie war verunsichert. Vielleicht hatte sie sich getäuscht. »Frauen achten auf so was, die meisten Männer nicht. Bei diesem Kerl hatte ich einfach so ein Gefühl.« Sie suchte nach einer Erklärung. »Sie haben mich nach seiner Haarfarbe gefragt. Ich habe sie mir vorgestellt und gesagt, woran ich mich erinnere: rotblond. Aber irgendetwas hat mich an meiner Antwort gestört. Ich glaube, ich habe unbewusst registriert, dass sein Haar gefärbt sein muss. Richtig klargeworden ist mir das aber erst grade eben.«

Beide Männer starrten sie an. Byers Stift hing über seinem Notizblock.

»Frauen haben einen Blick für solche Dinge«, sagte sie noch einmal.

Byers las vor, was er auf seinen Block schrieb: »Laut weiblichem Instinkt: Kopfhaar gefärbt, farbige Kontaktlinsen.«

 

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Gerald stopfte die Latexhandschuhe in seine Hosentasche. Das war nicht gut gelaufen.

Korrektur: Es war eine beschissene Katastrophe.

Er saß auf dem Parkplatz von McDonald’s in seinem Wagen, trank Cola und verschaffte sich einen Überblick über seine Blessuren. An den Beinen würde er eine Woche lang Blutergüsse haben und einer seiner Finger war auf die doppelte Größe angeschwollen. Er hoffte nur, dass das verdammte Ding nicht gebrochen war.

Verdammt, diese Frau hatte Kraft.

So heftig hatte sich noch keine gewehrt. Dabei waren es meist die Frauen, die verbissenen Widerstand leisteten. Viel mehr als die Männer. Oder aber er hatte sich immer Männer ausgesucht, zu denen die Opferrolle passte. Die Frauen hatten keine Opfer sein wollen. Selbst die Prostituierten waren ziemlich schnell ausgerastet, wenn die Dinge nicht nach ihren Vorstellungen liefen.

Jamie Jacobs hatte ihn fast zu Tode erschreckt, als sie vorzeitig vom Laufen zurückgekommen war. Nach seinen Beobachtungen hielt sie sich immer streng an gewohnte Abläufe. Er hätte verschwinden sollen. Sie anzugreifen, war nicht grade ein Geniestreich gewesen. Aber er war frustriert gewesen, weil er in ihrem Haus nichts gefunden hatte. Leider hatte die Befragung nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt.

Noch dazu hatte die Jacobs-Frau sein Gesicht gesehen.

Unwichtig.

Er biss sich auf die Wange. Völlig egal. Er färbte sich das Haar und versteckte die Iris seiner Augen hinter Kontaktlinsen. Vielleicht war es Zeit für einen neuen Look. Dunkleres Haar? Dunklere Augen? Er besaß sämtliche Kontaktlinsenfarben, die es gab. Normalerweise blieb er bei unauffälligen Blau- oder Grüntönen. Die Leute, mit denen er arbeitete, merkten nie, dass seine Augenfarbe sich hin und wieder ein wenig änderte. Anscheinend gab es so etwas öfters.

Seinem Boss würde er auf keinen Fall verraten, dass sie ihn gesehen hatte. Wo Chris Jacobs war, wusste er immer noch nicht. Im Haus hatte er nichts gefunden. Keine Adresse, keine Mail, keine Bilder. Nichts, was auf die Existenz eines Bruders hinwies.

Wenn seine Schwester nicht gesagt hätte, sie wüsste nicht, wo er sei, hätte er ihn für tot gehalten. Menschen lösten sich nicht einfach in Luft auf. Es gab immer irgendwelche Spuren.

Und was jetzt?

Wütende Augen in der Farbe heller Jade füllten seinen Kopf. Sie hatte Angst gehabt. Aber in diesen Augen hatte auch wilde Entschlossenheit gebrannt. Jamie Jacobs war ein ganz besonderes Exemplar. Groß, schlank und fit. Kein Gramm überflüssiges Fett am Körper. Er spürte ihre Muskeln noch unter den Fingerspitzen. Und das lange, schimmernde, dunkle Haar. Ein wenig erinnerte sie ihn an ihren Bruder. Chris Jacobs war groß und schlaksig gewesen. Während der zwei Jahre geworden. Das anfangs noch etwas füllige Kind hatte sich in einen spindeldürren Kerl verwandelt. Dünn waren beide Jungen gewesen. Wenn sie nicht zu viel Kraft hatten, war es leichter, sie unter Kontrolle zu halten. Deshalb versorgte er sie nur mit einem Minimum an Kalorien.

Wie sie entkommen konnten, war ihm ein Rätsel.

Er empfand ihre Flucht als persönliche Beleidigung, für die er sich schon lange revanchieren wollte. Niemand hatte ihn je so gedemütigt. Nicht seit seiner Teenagerzeit.

Bevor sie verschwunden waren, hatte er die Jungen etwa einmal die Woche besucht. Er hatte einen Vollzeitjob und war manchmal einfach zu müde für die lange Fahrt. Bis zum Wochenende hielt er sich mit prickelnden Gedanken an die Gefangenen in seinem Verlies und der Vorfreude über Wasser. Er hatte sich schon früher Gefangene gehalten. Erwachsene. Männer und Frauen. Leute, die er in den Straßen von Portland oder Salem aufgelesen hatte. Menschen, von denen er annahm, dass sie niemand vermissen würde.

Wegwerfware.

Ob männlich oder weiblich war nicht so wichtig. Beide waren zu etwas gut. Beide befriedigten seine Bedürfnisse. Dass das auch mit Jungen kurz vor der Pubertät funktionierte, hatte ihn überrascht. Aber noch jüngere Kinder? Reine Zeitverschwendung. Er hatte sie schnell entsorgt. Mit den beiden ältesten Jungen … das war etwas anderes gewesen.

Er schloss die Augen. Als Kind waren Jungs seine Feinde gewesen. Sie hatten ihn geschlagen, getreten, angespuckt und ihm Schimpfnamen hinterhergerufen. Die Mädchen hatten ihn einfach ignoriert. Mit dreizehn hatte er angefangen, sich zu wehren. Bruce war einer von denen gewesen, die ihn am schlimmsten malträtiert hatten. Er und seine Freunde hatten Gerald im Schulbus verspottet. Die Fahrt war ein täglicher Höllenritt gewesen. Selbst nach dem Aussteigen hatte Bruce noch weitergemacht. Als sie an den Müllcontainern des Wohnblocks vorbeigegangen waren, war Gerald ausgerastet. Er erinnerte sich daran, dass er Rot gesehen hatte. Dass aus seiner Frustration Wut geworden war. Er hatte seinen Rucksack fallen lassen, das Tor zu den Containern gepackt und es Bruce ins Gesicht geschlagen. Bruce war jaulend auf die Knie gefallen und hatte sich die blutende Nase gehalten.

In diesem Augenblick hatte Gerald den Kick gespürt. Einen wilden Rausch, einen Adrenalinschub – seine Macht. Mit klopfendem Herzen hatte er über dem jammernden Jungen gestanden und war dieser Droge sofort verfallen.

Dieser Augenblick hatte sein Leben verändert.

In ihm war ein Blutdurst erwacht, von dem er zuvor nicht einmal etwas geahnt hatte. Der Anblick des Jungen, dem er Schmerzen zugefügt hatte, erfüllte ihn mit Kraft und Stolz. Auch er war in der Lage, Kontrolle auszuüben. Jetzt hatte er den Beweis.

Es war besser, der Täter zu sein als das Opfer.

Einer der Jungen war im Bunker sofort auf ihn losgegangen. Welcher von beiden, wusste er nicht mehr genau. Aber er hatte etwas Wichtiges erkannt: Während ihn die Unterwürfigkeit der anderen Kinder nervte, reizte ihn der Kampfgeist der älteren Jungen.

Er hatte sie behalten.

Ohne den Anruf des Staatsanwaltes vor zwanzig Jahren hätte er nie erfahren, wie viel solche Jungen ihm selbst als Erwachsenem noch geben konnten.

Zuvor hatte er den Bezirksstaatsanwalt zwei Jahre lang nicht gesehen. Der Mann hatte vor nunmehr zweiundzwanzig Jahren einige Anklagepunkte gegen ihn fallen lassen, weil die Polizei keine handfesten Beweise liefern konnte. Während der Anhörung hatte er geschwitzt, denn eigentlich gab es jede Menge Spuren, die ihn mit dem Mord an Sandra Edge in Verbindung bringen konnten. Sie hatten zwar nicht beweisen können, dass er selbst Hand an sie gelegt hatte, wohl aber, dass er mit ihr und seinem Kumpel Lee zusammen im Zimmer gewesen war.

Dann waren die Blutspuren und andere Beweisstücke verschwunden. Nicht nur ein Teil davon, sondern alle. Man hatte nichts mehr gegen ihn in der Hand.

Der Staatsanwalt machte ihm Angst. Er war hellwach, intelligent und unerbittlich. Gerald hatte mit einer langen Gefängnisstrafe gerechnet. Doch er wurde lediglich wegen deutlich harmloserer Vergehen zu ein paar Monaten verknackt.

Von Beihilfe zum Mord war keine Rede mehr.

Für den Mord war Lee eingefahren. Und er hatte es verdient. Er hatte Sandra vollends erwürgt und war blöd genug gewesen, es zuzugeben.

Zwei Jahre lang hatte Gerald voller Unbehagen damit gerechnet, dass die verschollenen Beweismittel in irgendeiner Ecke der Asservatenkammer wieder auftauchten. Bis zu dem völlig unerwarteten Anruf.

Ja, es gab die Beweise noch. Nein, sie waren nicht verloren gegangen. Aber sie würden nie vor Gericht landen, wenn Gerald dem Anrufer einen Gefallen tat.

»Was für einen?«, hatte er gefragt.

»Sie kümmern sich für mich um ein Kind.«

Ein Kind?

Der Ex-Staatsanwalt hatte klargestellt, dass er sehr wohl wusste, welche Rolle Gerald bei Sandras Mord gespielt hatte.

»Warum ich?«

»Weil ich weiß, wozu Sie fähig sind. Und falls Sie es nicht machen, sitzen Sie bis ans Ende Ihres Lebens im Knast.«

»Und wenn ich die Sache für Sie erledige?«

Es hatte eine längere Pause gegeben. »Dann habe ich vielleicht einen festen Job für Sie.«

Der feste Job hatte Gerald interessiert. Er machte ihn seit nunmehr zwei Jahrzehnten ziemlich gut und würde seinen Boss nicht noch einmal enttäuschen. Dass es dem Mann nicht gefallen würde, wenn er die Jungen behielt, war ihm klar gewesen. Deshalb hatte er ihm nichts gesagt. Der Boss war schon stinksauer gewesen, dass außer dem speziellen Kind noch so viele andere mit in die Sache hineingezogen worden waren.

»Ich habe es so gemacht, wie ich es für am besten hielt. Sie wollten eine schnelle Lösung und die haben Sie bekommen. Keine Zeugen. Außerdem bleibt auf die Art das Motiv unklar. Wenn so viele Kinder verschwinden, weiß keiner, wer das eigentliche Opfer sein sollte. Oder ob es um alle ging. Die Polizei wird ewig im Dunkeln tappen.«

Danach hatte sein Boss keine Klagen mehr gehabt. Zwei Jahre lang hatte er sich beeindruckt gezeigt, weil keinerlei Hinweise auf die vermissten Kinder aufgetaucht waren, keine Spur von dem Bus oder der Fahrerin. Details über die Abwicklung hatten seinen Boss nicht interessiert.

Und dann war Chris Jacobs aus dem Wald getaumelt. Halb tot, ohne Gedächtnis und meilenweit von dem unterirdischen Bunker entfernt.

Seinem Boss waren sämtliche Sicherungen durchgebrannt. Erst als bekannt geworden war, dass der Junge eine Hirnverletzung hatte, hatte er sich ein wenig beruhigt.

Gerald wusste, wie riskant es gewesen war, die Jungen so lange zu behalten. Aber sie hatten seine Seele genährt – mehr als vor ihnen die Erwachsenen.

Und jetzt gab es Jamie Jacobs. Eine neue Herausforderung.

Er schaute zu, wie die Autos sich am Drive-in-Schalter vorbeischoben, und ließ dabei die Ereignisse des Morgens noch einmal an sich vorüberziehen. Nach einer Frau wie Jamie drehten Männer sich um. Er hatte schon über einen Monat lang keine Frau mehr gehabt und spürte noch immer ihre seidige Haut unter den Fingern. Gerald rutschte auf die Sitzkante.

Er brauchte Sex. Dringend.

Er hatte eine ganze Liste mit Telefonnummern von Frauen mit moderaten Preisen. Verdammt. Alles Discounterware. Aber er wollte etwas wirklich Exquisites.

Auf der Konsole vibrierte das Telefon. Er klappte es auf und starrte grimmig aufs Display. Jetzt schon? Er will jetzt schon wissen, wie es gelaufen ist? Scheiße. Gerald drückte auf den grünen Knopf.

»Ja.«

»Verdammt, was ist heute Morgen passiert? Was haben Sie angerichtet? Im Haus dieser Jacobs wimmelt es von Cops.«

Geralds Brust zog sich zusammen. Früher hatten Kinder ihn drangsaliert – jetzt war es ein Erwachsener. Aber es tat gut zu wissen, dass sein Boss Blut und Wasser schwitzte. Den Mann in Bedrängnis bringen zu können, verschaffte ihm Genugtuung.

Die Kontrolle hatte er. Nicht sein Boss.

»Ich habe nach Hinweisen auf ihren Bruder gesucht. Sie wussten das. Sie kam früher vom Laufen zurück als sonst und vielleicht hat sie bei meinem Rückzug ein bisschen was abbekommen.«

Dass ihm die Frau beinahe den Arsch nach vorn gedreht hatte, musste sein Boss nicht erfahren.

»Was haben Sie gefunden?«

»Ein paar Unterlagen und Post«, log er. »Adressbücher auch.«

»Vielleicht lässt sich der Vorgang beschleunigen.«

»Wie denn?«

»Mit Michael Brody. Unser rasender Reporter zeigt ungewöhnlich viel Interesse an Jamie Jacobs.«

»Ich habe mir schon gedacht, dass er an der Sache dran ist. Wegen seines Bruders. Aber Sie meinen, er hat ein persönliches Interesse an der Frau?« Geralds Eingeweide zuckten. Brody und Jamie? Das gefiel ihm nicht.

»Genau. Ein persönliches Interesse. Und ich kenne ihn. Wenn er eine Story wittert, ist er nicht aufzuhalten. Er wird wühlen, bis er Chris Jacobs ausgebuddelt hat.«

»Und ich soll an ihm dranbleiben?«

»Sehen Sie? Sie sind ein kluges Kerlchen. Deshalb arbeiten Sie ja für mich. Und abgesehen von der Riesenscheiße, die Sie vor Jahren gebaut haben, erledigen Sie Ihre Aufträge immer korrekt.«

Gerald schluckte eine bittere Entgegnung hinunter. »Sie kennen mich am besten, Boss.«

»Das kann man wohl sagen. Und denken Sie immer daran: Ich habe Sie am Arsch.«

Dito.

 

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»Wollen Sie mir erklären, was Sie mitten in diesem Fall zu suchen haben?«

»Ich kann nichts dafür«, sagte Michael ins Telefon. Detective Mason Callahan konnte ihn anraunzen, so viel er wollte. Denn Michael wusste, dass der Mann ihn in Wahrheit schätzte – auch wenn er das nie zugeben würde. Ihm selbst ging es umgekehrt genauso.

»Ich könnte schwören, dass ich gesagt habe, Sie sollen von der Jacobs-Frau wegbleiben.«

Michael ging nicht darauf ein. »Hat man Ihnen erzählt, dass sie übel zugerichtet wurde?«

»Ja. Geht es ihr gut?«

»Sie hat unglaubliches Glück gehabt und nicht viel abbekommen.« Michael lehnte am Kühler seines Trucks und drehte sich nach Jamie um. Sie saß immer noch auf dem Rasen und versuchte, sich die Tätowierungen ins Gedächtnis zu rufen. Die Notfalldecke hatte sie abgestreift. Neben ihr hockte ein Cop. Er reichte ihr eine Wasserflasche und schaute zu, wie sie eine Zeichnung anfertigte und ihr Werk zwischendurch immer wieder begutachtete.

»Soweit ich gehört habe, hat der Einbrecher nach dem Aufenthaltsort von Chris Jacobs gefragt. Und er hat ihr gesagt, er sei für die Narben im Gesicht ihres Bruders verantwortlich.«

»Richtig«, sagte Michael. »Er hat ihr angedroht, ihr ebenfalls welche zu verpassen.«

»Das heißt nicht, dass er tatsächlich derjenige ist, dem ihr Bruder die Narben verdankt. Damals stand sogar in der Zeitung, dass der Junge mit brennenden Zigaretten gefoltert wurde.«

Michael verkniff sich einen Kommentar darauf und entgegnete stattdessen: »Vermutlich hat er Angst, dass Chris Jacob sich doch erinnert und ihn identifizieren kann. Wieso sollte er sich sonst für ihn interessieren?«

»Vielleicht schuldet Jacobs ihm Geld«, gab Callahan flapsig zurück.

»Sie mich auch.«

Callahan lachte. »Ich werde mich mal mit Ms Jacobs unterhalten.«

Michael war noch nicht fertig. »Sie glaubt, er war Ende vierzig, vielleicht Anfang fünfzig. Damit wäre er im passenden Alter für den Mist, der vor zwanzig Jahren passiert ist.«

»Ich behaupte nicht, dass er es nicht war. Verdammt, Brody. Selbstverständlich verfolgen wir diese Spur. Aber im Augenblick habe ich einen Stapel Autopsieberichte von Kinderleichen auf dem Schreibtisch. Beim Lesen mache ich alle fünfzehn Minuten Pause und dresche auf die Wand ein, so geladen bin ich. Und nach diesem Stapel wartet noch ein zweiter auf mich – von den Erwachsenen aus der Grube. Wissen Sie was? Sie übernehmen meinen Job und ich Ihren. Sie lesen dieses Zeug und ich fahre durch den Sonnenschein, werde hübsch braun und stecke die Nase in anderer Leute Angelegenheiten.«

»Verstanden, Callahan.«

Der Detective redete in ruhigerem Ton weiter. »Ich kümmre mich darum, Brody. Ich will den Dreckskerl genauso sehr zwischen die Finger kriegen wie Sie.«

»Kaum vorstellbar«, murmelte Michael.

»Schade, dass er so normal aussieht. Einer wie er fällt nicht sonderlich auf.«

»Was?« Michael fuhr auf. »Was ist mit den Tattoos?«

»Tattoos?«, fragte Callahan scharf.

»Auf seinen Handgelenken. Jamie meint, dass sie vielleicht sogar seine Arme bedecken.«

Callahan fluchte so laut und anhaltend, dass Michael den Hörer vom Ohr nahm.

»Hallo?«, sagte Michael, als Callahan Luft holen musste. »Was ist nun mit den Tätowierungen?«

»Wir haben Fotos.«

»Fotos? Wovon?«

Callahan hatte sich vom Telefon abgewandt und redete aufgeregt mit jemandem.

»Callahan? Was für Fotos?« Michael knirschte mit den Zähnen.

»Lusco sucht grade die Datei. Dieses perverse Schwein.«

»Lusco?« Michael hörte die Stimme des anderen Detectives im Hintergrund.

»Nein. Der Typ, der Ms Jacobs überfallen hat.«

Michael hätte den Detective am liebsten geschüttelt. »Großer Gott, Mann, wovon reden Sie?«

Callahan räusperte sich. »Wir haben im Bunker Fotos gefunden. Alte Polaroids. Kranke Bilder. Die waren nicht mal versteckt. Er hat sie auf einem Regal liegen lassen, damit man sie gleich sieht.«

Michael hatte plötzlich einen galligen Geschmack in der Kehle. Daniel?

Der Dreckskerl hat ganz üble Fotos von den Kindern gemacht. Auf einigen sind seine Hände oder die Hände von irgendjemandem zu sehen. Die Handgelenke sind tätowiert.«

»Die Handgelenke?«

»Ja. Es sieht nicht aus, als gingen die Tattoos noch weiter hoch. Auf den Unterarmen sind keine. Er hat so was wie asiatische Schriftzeichen auf den Gelenken, mehr nicht. Die Zeichen sind relativ groß. Etwa vier Zentimeter im Durchmesser.«

»Und sein Gesicht ist nicht zu sehen?«, fragte Michael. Sein Kopf fühlte sich plötzlich wattig an. Er stützte die Ellbogen auf die Motorhaube und steckte den Kopf zwischen die Arme.

»Es gibt bloß Kindergesichter. Von dem Erwachsenen sieht man nur die Hände.«

Michael wollte keine weiteren Details. Sein Hirn lieferte ihm bereits mehr als genug.

»Wie hat Ms Jacobs die Tätowierungen beschrieben?«, fragte Callahan.

»Bislang gar nicht. Sie macht gerade eine Skizze. Aber sie meint, es seien viele gewesen.«

»Er könnte sich im Lauf der Zeit immer mal neue stechen lassen haben.«

»Augenblick, Callahan.« Michael ging zu Jamie. »Hey Prinzessin. Was macht die Kunst?«

Jamie lächelte matt. »Nennen Sie mich bitte nicht Prinzessin.« Sie betrachtete den Skizzenblock. »Ich weiß gar nicht, was ich hier tue. Ich kann sie mir einfach nicht vorstellen.«

»Ich habe ihr gesagt, sie soll mit den Farben anfangen«, sagte der Cop neben ihr. »Und später grobe Linien und Formen einzeichnen.«

»Zeigen Sie mal her.« Michael streckte die Hand nach dem Block aus.

Für die Umrisse hatte sie offenbar mit einem Stift ihre eigenen Hände und Handgelenke umfahren. Von der Mitte der Unterarme bis zu den Gelenken hatte sie blasse, mehrfarbige Wirbel gemalt. Auf den Handrücken wurden die Farben kräftiger. Blautöne, Rot und Grün. Direkt auf die Handgelenke hatte sie über die Farben hinweg dicke schwarze, sich kreuzende Linien gezeichnet, die an das Raute-Zeichen erinnerten.

Michael spürte, wie ihm Galle in die Speiseröhre stieg.

»Er ist es«, sagte er ins Telefon. »Wir sind in dreißig Minuten bei Ihnen.«