Kapitel 5

 

»So was will ich nie wieder erleben.« Detective Ray Lusco starrte kopfschüttelnd in den Kaffee auf dem Tisch im Diner. »Noch so ein verzweifeltes Elternpaar ertrage ich nicht. Verdammt, ich komme mir schon selbst vor wie ein Verbrecher.«

Mason nickte. Das Einzige, was noch schlimmer war, als mit Eltern über ein totes Kind zu reden, war, die Todesnachricht zu überbringen. Ray und er hatten den ganzen Tag nichts anderes gemacht. Die Eltern waren bereits am Vortag über den Fund informiert worden, sichere Identifizierungen gab es aber erst seit ein paar Stunden. Die meisten Mütter und Väter hatten sich schon vor langer Zeit damit abgefunden, dass sie ihr Kind nie wiedersehen würden. Nur die Eltern des damals neunjährigen David Doubler hatten immer noch geglaubt, ihr Sohn würde eines Tages zur Tür hereinspazieren.

Mit einigen Elternpaaren hatten Ray und Mason in einem Büro im gerichtsmedizinischen Institut gesprochen. Sie hatten viele Tränen gesehen, viel Schicksalsergebenheit. Aber dann waren die Doublers an der Reihe gewesen. Die Doubters – Zweifler – wäre ein besserer Name für die beiden gewesen. Sie hatten Röntgenbilder vom kindlich kleinen Kiefer ihres Sohnes mitgebracht. Die Mutter hatte sie für den Fall, dass die Leiche ihres Sohnes einmal gefunden würde, zwanzig Jahre lang in einem Umschlag aufbewahrt. David Doubler senior hatte die Identifizierung durch Dr. Campbell angezweifelt.

Mason schüttelte den Kopf. Die selbstbewusste Odontologin ließ sich von David senior nicht in die Ecke drängen. Lacey Campbell hatte die Röntgenaufnahmen in aller Ruhe neben ihre eigenen Bilder vom Schädel eines kleinen Jungen gehängt und den Eltern ganz genau erklärt, wie man die Bilder las. Selbst Mason hatte die Übereinstimmungen erkannt. Aber David senior hatte sich stur gestellt. »Milchzähne sehen alle gleich aus. Und Amalgamplomben hatte damals jedes Kind.«

Als Dr. Campbell stumm auf die unverwechselbaren Umrisse der weißen Flecken gezeigt hatte, als die sich die Amalgamfüllungen der ersten permanenten Backenzähne auf dem Röntgenbild abhoben, hatte der Vater den Kopf geschüttelt. Für ihn war das kein Beweis. In diesem Augenblick war der Leiter des gerichtsmedizinischen Instituts ins Zimmer gekommen. Dr. James Campbell sah seiner Tochter an, dass sie sich am liebsten frustriert die Haare gerauft hätte.

»Vielleicht hilft das hier weiter«, hatte der grauhaarige Mediziner gesagt und den Eltern eine kleine Plastiktüte hingehalten. »Erkennen Sie das wieder? Wir haben es etwa auf Höhe des Halses bei den Überresten des Kindes gefunden.«

Mrs Doubler war beim Anblick des silbernen Kettchens in der Tüte in Tränen ausgebrochen. Mason hatte geschluckt. Er kannte solche Anhänger gut. Sein Sohn hatte jahrelang denselben getragen, nachdem man bei ihm Jugenddiabetes festgestellt hatte.

Ray nahm einen Schluck Kaffee. »Zum Glück haben wir nun alle durch.«

Mason sagte nichts. Ray wusste selbst, dass das nicht stimmte. Es musste noch eine weitere Kinderleiche geben – die eines Jungen. Und Mason hatte bereits mit den Eltern gesprochen.

Dr. Brody war eine starke Frau. Sie wusste, dass ihr Sohn nicht wiederkommen würde. Aber bei ihrem Mann war Mason sich nicht sicher. Er hatte das Gefühl, dass der Senator den Tatsachen ebenso wenig ins Auge sehen wollte wie Mr Doubler.

»Ich verstehe das nicht. Warum fehlt eine Leiche? Warum sollte eine an einem ganz anderen Ort liegen? Warum waren nicht alle auf der Farm?«, fragte Ray.

Mason rührte in seinem Kaffee. Ihn beschäftigten dieselben Fragen. Eine Weile saßen sie stumm am Tisch und ließen die Gespräche der anderen Gäste an sich vorbeiziehen.

»Gestern Abend bin ich nach Hause gegangen und habe meine beiden ganz fest in den Arm genommen.« Rays Kinder waren etwa im Alter der Opfer. Wenn Mason zu Besuch war, ließen die Geschwister ihn bei jedem Videospiel alt aussehen. Ray schaute ihm fest in die Augen. Die meisten anderen Cops hätten die Worte in ihren Kaffee gemurmelt. Aber nicht Ray. Wenn es um seine Kinder und seine sexy Frau ging, scheute der massige Kerl sich nie, Gefühle zu zeigen.

Ray schaute Mason erwartungsvoll an.

»Ja, ich habe Jake auch angerufen.« Mason widerstand der Versuchung, anstatt in Rays Augen aus dem Fenster zu sehen. Der neunmalkluge Jake hatte es seinem Vater mal wieder schwer gemacht, einen vollständigen Satz aus ihm herauszubekommen. Zunächst war der Stiefvater des Teenagers am Apparat gewesen. Aber Mason unterhielt sich lieber mit seinem Urologen als mit dem stets bestens aufgelegten Superdad. Der Mann hatte in seinem Leben all das richtig gemacht, was Mason vermasselt hatte. Jetzt hatte er Masons Frau und seinen Sohn. Ex-Frau.

Und Mason hatte Tiefkühlpizza und ein leeres Bett.

Als Rays Handy klingelte, atmete Mason erleichtert auf. Er hatte den verräterischen Ausdruck in Rays Augen bemerkt, der ihm verriet, dass Rays Frau Jill bald wieder ein Blind Date für ihn einfädeln würde. Jill versuchte alle paar Monate, ihn zu verkuppeln, und er musste sich immer irgendwie rausreden. Nicht ganz leicht, denn Jill war früher Strafverteidigerin gewesen.

»Wo soll das sein?« Rays Stimme schnellte um eine Oktave nach oben. »Sind die sich sicher? Wie weit?«

Masons Rückgrat kribbelte, während Ray etwas in sein stets griffbereites Notizbuch schrieb. Etwas Wichtiges, Großes. Das spürte Mason.

»Verfluchte Scheiße!«

Mason erstarrte. Ray neigte nicht zu Kraftausdrücken.

Ray nahm das Telefon vom Mund und flüsterte Mason grimmig zu: »Sie glauben, sie haben den Ort gefunden, an dem die Kinder gefangen gehalten wurden. Bevor …«

Mason nickte. Bevor er sie umgebracht hat.

 

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Jamie betrachtete den Kalender auf ihrem Bürocomputer. Mit einem in einer Sandale steckenden Fuß wippte sie im Rhythmus der klassischen Melodie, die leise aus den Lautsprechern plätscherte. Noch zwei Tage bis zu ihrer freien Woche. Gestern Abend hatte sie ein Dutzend Farbproben an die Schlafzimmerwand gepinselt. Sie hatte nicht stillsitzen können und versucht, die Gedanken an die traurigen Funde aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie klickte auf die Farbtafel. Wie viele Beigetöne konnte es geben? Cappuccino, Weizen, Sand, hawaiianischer Sand …

Ihr Blick fiel auf die dunklen Grünnuancen. Waldgrün würde gut zu den Dielenböden und den Läufern passen. Sie schloss die Onlinebroschüre und verschob sie in ihr Eingangsfach. Die Auswahl war einfach zu groß. Warum fielen ihr solche Entscheidungen so schwer? Dasselbe Problem hatte sie in der Eisdiele. Sie konnte sich erst festlegen, wenn sie sich alle Geschmacksrichtungen zweimal angeschaut und die kleinen Schilder zweimal gelesen hatte. Am Ende nahm sie aber immer Minze mit Schokostückchen.

Jemand räusperte sich. Ihr Blick flog zu der hochgewachsenen Gestalt an der Tür. Ihr Herz setzte aus.

»Meine Güte.« Michael Brody lehnte lässig an ihrem Türrahmen. »Wie lange stehen Sie schon da?«

Seine Smaragdaugen blitzten sie an. »Lange genug, um zu wissen, dass Sie sich nicht für eine Farbe entscheiden können.« Um seine Lippen spielte ein provozierendes Lächeln. Jamie schnappte nach Luft. Sie ertappte sich dabei, wie sie die muskulösen Arme und Beine dieses braungebrannten Typen anstarrte, und zwang sich, ihm ins Gesicht zu sehen. Es half nichts – sie starrte schon wieder. Diesmal hing ihr Blick an den Strähnchen in seinem hellbraunen Haar, die nicht aus einer Tube, sondern vom Sonnenlicht stammten.

Für so etwas legten ihre Freundinnen beim Friseur Hunderte von Dollar auf den Tisch. Und dass ein Mann so kräftig grüne, von langen schwarzen Wimpern umkränzte Augen hatte, war einfach nicht fair. Sie wollte sich gar nicht ausrechnen, wie viel Wimperntusche sie für denselben Effekt brauchte.

»Was machen Sie hier?«

»Ich suche immer noch nach Ihrem Bruder.« Er kam näher und betrachtete ihren perfekt organisierten Desktop.

Jamie stand auf. Michael sollte seine Körpergröße nicht gegen sie ausspielen können. Wahrscheinlich hatte er jede Menge Tricks auf Lager, um Antworten aus seinen Opfern … ähm … Interviewpartnern herauszukitzeln.

»Ich muss Ihnen nicht sagen, wo mein Bruder ist. Er mag keine Reporter und will in Ruhe gelassen werden.«

Michael kniff die Lippen zusammen, stützte sich auf ihren Schreibtisch und beugte sich nach vorn. »Woran erinnert er sich?«

»An nichts.« Sie ging einen Schritt zurück und lehnte sich an die Fensterbank.

»Haben Sie mit der Polizei gesprochen?«

»Die haben gestern Abend angerufen.«

»Callahan?«

Jamie richtete sich auf. Er kannte den Detective? Oder wollte er ihr das nur weismachen? »Ja.«

»Haben Sie heute schon von ihm gehört?« Seine Augen gefroren zu grünem Eis.

Sie schüttelte den Kopf. Ihr Magen krampfte sich zusammen. »Was ist passiert?«

»Wie lange war Ihr Bruder nach seiner Rückkehr in Therapie?«

Jamie schnaubte. »Verschwinden Sie.«

»Er wurde gefoltert, nicht wahr? Vermutlich hat er jahrelang Albträume gehabt.«

Sie starrte ihn unverwandt an. »Warum tun Sie das?«

Michaels Augen wurden weicher. Er hielt sie mit seinen Augen fest. »Ganz sicher nicht aus Bosheit. Ich will nur verstehen, wie Ihr Bruder denkt. Die Polizei glaubt, sie hat den Ort gefunden, an dem die Kinder gefangen gehalten worden sind. Es gibt Hinweise darauf … Vielleicht würde Ihr Bruder sich erinnern, wenn er sich das ansieht.«

Wie sah das Gefängnis der Kinder aus? Was hatte die Polizei gefunden? O Chris …

»Nein. Das sollte er auf keinen Fall sehen. So etwas würde ich ihm nie zumuten.« Chris’ Schreie hallten durch ihren Kopf. Wie oft hatte sie ihn nachts geweckt, weil er im Schlaf geschrien hatte? Die Wunden an seinem Körper waren irgendwann verheilt. Aber sein Geist und seine Seele … die waren nie mehr dieselben gewesen. Ihr fröhlicher, lustiger großer Bruder war nie zurückgekehrt.

»Wo ist er?« Michael zog jedes Wort in die Länge.

»Ich sagen Ihnen, was ich auch der Polizei gesagt habe«, blaffte Jamie. »Ich habe eine Telefonnummer. Ich hinterlasse eine Nachricht. Manchmal ruft er mich zurück oder schickt mir eine SMS. Aber immer mit unterdrückter Nummer. Ich nehme an, es ist nicht dieselbe, unter der ich die Nachricht hinterlasse.«

»Ist er nach Hause gekommen, als Ihre Eltern bei dem Autounfall umgekommen sind?«

Jamie schluckte. »Nein. Ich glaube nicht.«

Michael wirkte plötzlich so angespannt wie ein Jagdhund, der Beute witterte. Gnadenlos stürzte er sich auf ihre Worte. »Sie glauben? War er nun da oder nicht? Wie lange liegt der Unfall zurück? Zwei Jahre?«

»Zweieinhalb.« In ihren Augenwinkeln brannten Tränen.

»Ist er gekommen?«

»Ich habe ihn nicht gesehen.«

»Aber?« Seine Augen ließen ihre nicht los.

»Aber ich weiß, dass jemand im Haus meiner Eltern war. Ein paar Fotos fehlten und in der Küche lag eine Skizze.«

»Eine Skizze? Meinen Sie eine Zeichnung?«

Jamie nickte.

»Und Sie haben der Polizei nicht gesagt, dass jemand im Haus war?«

»Es war ja kein Einbruch. Derjenige, der da war, hatte einen Schlüssel. Und an der Skizze habe ich erkannt, dass es Chris gewesen sein musste.«

»Warum? Was hat er gezeichnet?«

Jamie zuckte die Schultern. Die Zeichnung hing gerahmt in ihrem Schlafzimmer und war kein großes Geheimnis. »Eine Bergkette. Nach seiner Rückkehr hat er viel gezeichnet. Besonders Berge und Strände. Das war Teil seiner Therapie …« Sie brach ab.

»Sie haben ihn bei der Beerdigung nicht gesehen? Er hat keinen Kontakt mit Ihnen aufgenommen?«

»Gesehen habe ich ihn nicht mehr, seit er weggegangen ist«, flüsterte sie. In ihrem Herzen tat sich ein Riss auf.

»Und wann war das?«

»Vor beinahe zehn Jahren.«

Überrascht sah er sie an. »Sie haben Ihren Bruder zehn Jahre lang nicht gesehen?«

Jamie nickte.

»Was für ein Idiot.«

Sie fuhr auf. »Das können Sie nicht sagen. Sie haben keine Ahnung, was er durchgemacht hat.«

»Sie haben auch einiges hinter sich. Ihre Eltern sind verunglückt und Ihr Bruder will sie nicht mal sehen? Klingt extrem egoistisch.«

»Er … Das ist okay. Es hat mir nichts ausgemacht. Ich konnte ihn verstehen. Er hatte so viel hinter sich. Die Formalitäten konnte ich auch allein erledigen.«

Michael starrte sie zwei Sekunden lang schweigend an. »Und Sie haben das sicher perfekt gemacht.«

Jamie hob das Kinn. »Es ging.«

Wieder entstand eine längere Pause. Jamie konnte geradezu hören, wie die Rädchen in seinem Kopf ineinandergriffen.

»Warum besuchen Sie einander nie? Warum versteckt er sich vor Ihnen?«

Jamie befeuchtete ihre Lippen. »Er ist gern allein. Er mag es nicht, wenn Leute ihn ansprechen oder anstarren. Das war seit seiner Rückkehr so. Sein Gesicht … sein Gesicht war nicht in Ordnung. Sein Kiefer war gebrochen …« Einen Moment lang versagte ihre Stimme. »Und gegen die Brandnarben und die Narben von den anderen Verletzungen halfen auch die Operationen nicht viel. Er hat es nicht ausgehalten, angegafft zu werden.«

»Aber jetzt ist er erwachsen.«

»Das ändert nichts. Er ist direkt nach der Highschool weggegangen.«

»Und Ihre Eltern haben das zugelassen?«

»Sie haben nicht versucht, ihn aufzuhalten. Meist haben sie ihn das machen lassen, womit er am besten klarkam. Er ist durch die Hölle gegangen. Darüber sprechen konnte er nicht. Aber nachts …« Jamie ließ den Satz in der Luft hängen.

»Albträume? Schreie?«

Sie nickte.

»Glauben Sie, dass er noch immer damit zu kämpfen hat?«

»Sonst würde er sicher zurückkommen.« Jamie riss den Blick von den grünen Augen los. Warum erzählte sie ihm das?

»Vielleicht täte es ihm gut, wenn er noch mal mit der Sache konfrontiert werden würde. Vielleicht könnte er dann damit abschließen.«

»Er hat so viele Therapien hinter sich. Für den Körper, den Geist, die Seele. Und an Grips fehlt es ihm nicht.«

Michael blinzelte. »Das habe ich auch nicht behauptet.«

»Er ist begabt. Chris war der hellste Kopf der ganzen Schule. Dass er schlechte Noten schrieb, hat nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun. Er hätte ein College-Stipendium kriegen können. Oder ein Stipendium für seine Kunst. Seine Bilder sind großartig. Er hat mir immer bei den Hausaufgaben geholfen, denn ihm flog alles zu. Chris hat sich einfach nur gelangweilt.«

Michael starrte sie an. Offenbar überraschte ihn ihr Redeschwall. Er hatte sich die größte Mühe gegeben, ihr ein paar Antworten aus der Nase zu ziehen. Und jetzt sprudelte alles Mögliche aus ihr heraus. Jamie blinzelte heftig. Michael sollte wissen, wie intelligent Chris war. Er sollte Chris nicht für einen durchgeknallten Einsiedler halten, der in einer Waldhütte Sprengstoffanschläge plant. So war ihr Bruder nicht. Er war gutherzig und intelligent und konnte nichts dafür, dass ihm alles unter die Haut ging. Menschenansammlungen ertrug er nicht. Er brauchte eine ruhige Umgebung. Städte waren zu hektisch für ihn. Er musste an einem Ort leben, an dem er selbst das Tempo bestimmte; musste arbeiten, wo sein Talent gewürdigt wurde – nicht in einem Büroabteil.

Chris lebte und atmete durch Computer. Er war sein eigener Boss. Seine Kunden lernten ihn nie persönlich kennen. Mit anderen Menschen kommunizierte er nur elektronisch.

Zumindest sagte er das.

Was Chris genau machte, wusste Jamie nicht. Über Einzelheiten redeten sie nicht und sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, keine Fragen zu stellen.

»Als ich gestern gegangen bin, haben Sie eine Nummer in Ostoregon angerufen. Ist er dort?« fragte Michael.

Jamie starrte ihn an. Ihr wurde heiß und sie straffte die Schultern. Wie zum Teufel hat er das gemacht? »Ist so was nicht illegal?«, presste sie hervor. Ihre Worte trieften vor Sarkasmus. »Haben Sie keine Angst vor einer Anzeige?« Was konnte dieser Mann sonst noch über sie herausfinden? Und über Chris?

Michael verschränkte schulterzuckend die Arme. »Das gehört zu meinem Job.«

»Gegen Gesetze zu verstoßen? Das bezweifle ich. Sie schnüffeln in fremden Angelegenheiten herum und schämen sich nicht mal. Mein Bruder und ich haben mit Ihrem Job jedenfalls nicht das Geringste zu tun.«

Michael blickte schnaubend zur Decke. »Kann schon sein. Aber ich muss seit zwanzig Jahren damit klarkommen, dass mein Bruder verschwunden ist. Endlich habe ich mal wieder eine Spur. Ich werde ihr folgen und jeden einzelnen Stein umdrehen, bis ich alles herausgefunden habe, was sie hergibt.«

Seine grünen Augen waren hart und kalt wie Granit. »Wenn es Sie stört, dass ich in Ihrem Leben herumschnüffle, tut mir das leid. Aber im Augenblick kann ich darauf keine Rücksicht nehmen.«

Ein verschwundener Bruder. Jamie empfand Mitgefühl, aber auch Schuld. Ihr Bruder hatte überlebt. Selbst wenn sie das Gefühl hatte, dass er nie ganz und gar zurückgekommen war.

»Ich weiß nicht, wo er ist«, sagte Jamie leise. »Dass er sich in Ostoregon aufhalten könnte, ist mir neu.« Sie weigerte sich, sich zu schämen, weil sie so wenig über ihren Bruder wusste. Chris wollte es so. Er meinte, es sei zu ihrem Besten.

Was sie nicht verstand.

Als Michael einen Blick auf die Uhr warf, bemerkte Jamie die Muskeln an seinen sonnengebräunten Unterarmen.

O Mann.

Sie wandte ihm den Rücken zu und schaute aus dem Fenster. Auf die Art kam sie nicht in Versuchung, ihn anzustarren. Sie konzentrierte sich auf die verlassenen Schaukeln im Schulhof, aber im spiegelnden Fenster sah sie, wie Michael näher kam. Mit verschränkten Armen fuhr sie herum. Er blieb stehen.

Seine Mundwinkel bogen sich nach oben. Er wusste, dass sie ihn selbst mit dem Rücken zu ihm noch beobachtet hatte. »Ich fahre jetzt zur Fundstätte raus. Wollen Sie mitkommen?«

Jamie erschauerte. »Gütiger Himmel, nein. Ich will doch nicht sehen, wo …«

So viele Kinder.

»Ich habe jemanden, der versucht, noch mehr über die Telefonnummer rauszukriegen. Vielleicht kriege ich bald ein paar Informationen. Bevor ich in den Osten fahre, würde ich das Suchfeld gerne einengen.«

»Sie wollen ans andere Ende des Staates? Sie wollen eine siebenstündige Fahrt auf sich nehmen?« Die Fragen brachen aus ihr heraus. War er verrückt? Er würde ihren Bruder niemals finden.

Er legte die Stirn in Falten. »Ja. Wie soll ich sonst mit ihm reden? Natürlich wäre es schön, wenn ich nicht allein fahren müsste. Wenn Sie mitkommen, ist er vielleicht offener. Aber noch besser wäre es, wenn Sie ihn dazu bringen könnten, am Telefon mit mir zu sprechen.«

Jamie schüttelte den Kopf. Chris hatte ein Recht auf ein ungestörtes Leben. »Die Polizei musste ich auch schon enttäuschen. Er lässt sich zu nichts überreden.« Sie lachte bitter auf. »Chris sagt mir absichtlich nie, wohin er geht. So muss ich die Polizei nicht mal belügen. Er behauptet, je weniger ich wüsste, desto besser sei das für mich.«

»Interessant.« Brody war wieder im Jagdhundemodus. Jamie starrte ihn an. Waren seine Augen gerade eine Spur dunkler geworden?

»Er sagt, es sei besser für mich, seinen Aufenthaltsort nicht zu kennen. Bis zu diesem Moment habe ich das nie verstanden.«

Wieder schaute Jamie zu, wie die Rädchen hinter den faszinierenden Augen ineinandergriffen.

Michael brach den Bann mit einem Blick auf die Uhr. »Ich muss ein paar Anrufe erledigen. Ich will mit dem Sheriff der Gegend reden, in der ich Ihren Bruder vermute. Dann fahre ich. Letzte Möglichkeit, noch mitzukommen.« Sein Blick war herausfordernd.

Er versuchte, sie aus der Reserve zu locken, sie anzustacheln. Männer.

Sie schüttelte den Kopf. Keine Chance. Sieben Stunden lang angeschnallt neben Michael Brody im Auto zu sitzen, war das Letzte, was sie wollte.

»Alles klar.« Er zwinkerte ihr zu. »Dann bis bald.« Und schon war er aus der Tür.

Jamie ließ sich so hart auf ihren Schreibtischstuhl fallen, dass er unter ihr ächzte. Als sie tief durchatmete, wurde sie mit dem Sonnenscheinduft des Reporters belohnt, der ihr in den Kopf stieg und in den Magen fuhr. Der Mann schaffte es, sich durch all ihre Barrieren zu schummeln. Sie hatte ihm mehr über ihren Bruder erzählt als jedem anderen in den letzten zehn Jahren. Es musste an seinen Augen liegen. Vielleicht besaß er ja Jedi-Gedankenkontrollmechanismen, mit denen er sie zum Reden brachte.

Es musste schön sein, einfach die Sachen zu packen und loszufahren, wenn der Job es verlangte. Einen Moment lang waren ihr ihr eigener Beruf und ihre wenig ausgeprägte Wanderlust zuwider. Sie war nicht der Typ für spontane Kurztrips. So etwas wollte gut vorbereitet und geplant sein. Wer fuhr schon von einer Minute zur anderen drauflos?

Michael Brody, der rasende Reporter und Jedi-Gedankenmanipulator.