Kapitel 6

 

Dem Himmel sei Dank für die Tannen.

Unter den hohen Bäumen war die Temperatur erträglicher. Michael ließ den Blick umherschweifen. Die Einsatzkräfte waren dieselben wie am Vortag. Aber die Umgebung war anders. Hohe Bäume und der Geruch von feuchter Erde hatten die trockenen, staubigen Weiden und den Kuhmistgeruch abgelöst. Drei Meilen von der Farm entfernt, tief in den Kaskaden, hatte die Polizei zwei Entdeckungen gemacht. Die erste war eine Art Bunker unter dem Erdboden.

Aber es war kein Bunker. Es war die Hölle.

Trotz der Hitze überlief Michael ein Schauer. Auf seinen Armen bildete sich eine Gänsehaut.

Mason Callahans knappen Bemerkungen hatte er entnommen, dass in dem engen Loch unter der Erde eine uralte, widerliche Matratze lag, dass es dort verrostete Konservendosen, Handschellen, Eimer und Seile gab. Ein Polizeischüler war bei der Suchaktion über den Eingang gestolpert. Die Tür sah aus wie die Luke eines Unterseebootes. Rund, eng und aus Metall – zu öffnen wie der Deckel einer Thunfischdose.

Die Polizei war vom Bus aus einem kaum sichtbaren Pfad gefolgt, der auch ein Wildwechsel hätte sein können. Als der Leichensuchhund einen Fund angezeigt hatte, hatte die Suchmannschaft eine Kette gebildet und den Bunker gefunden. Die Stelle, die der Hund angezeigt hatte, war die andere große Entdeckung des Tages – eine tiefe Grube.

Bislang waren darin zwei Skelette von männlichen Erwachsenen und zwei von weiblichen gefunden worden. Noch keine Kinder. Forensische Spezialisten bargen unter den strengen Blicken von Victoria Peres die menschlichen Überreste und suchten nach möglichen weiteren. An beiden Fundstellen wurde fieberhaft gearbeitet – am Bunker genauso wie in der größer werdenden Knochengrube.

Wo ist Daniel?

Seit einer Stunde stand Michael hinter dem gelben Absperrband und beobachtete Vicky und ihr Team. Viermal hatte sie zu ihm herübergeschaut und den Kopf geschüttelt. Er presste die Lippen zusammen. Wie viele Leichen lagen noch im Erdboden?

»Es muss einen Zusammenhang geben.«

Detective Lusco war zu Michael getreten. Sein Blick hing ebenfalls an der Bergungsmannschaft. Für einen so massigen Kerl bewegte der Detective sich erstaunlich geräuschlos. Vielleicht war Michael auch nur zu abgelenkt gewesen.

»Zweifelt daran noch jemand?«, fragte Michael.

Lusco zuckte die Schultern. »Ich will keine voreiligen Schlüsse ziehen. Bis wir eine eindeutige Verbindung zum ersten Fundort haben, behandeln wir die Entdeckungen als separate Fälle. Die räumliche Nähe allein reicht nicht aus.«

Michael nickte. Lusco glaubte ganz sicher an einen Zusammenhang. Das tat jeder, der bis drei zählen konnte. Aber laut würde Lusco das erst sagen, wenn es konkrete Beweise gab. »Wo zum Teufel kommen die Gebeine der Erwachsenen her?«

Lusco schüttelte den Kopf. »Das ist die Zehn-Millionen-Dollar-Frage. Der helle Wahnsinn. Wir hatten weitere Kinderleichen erwartet.«

Michaels Magen zog sich zusammen. Er sagte nichts.

»Wir werden rauskriegen, was hier passiert ist«, sagte Lusco. »Und wenn wir den Hurensohn kriegen, der dafür verantwortlich …«

»Er könnte tot sein«, gab Michael zu bedenken. »Die Sache ist zwanzig Jahre her. Oder er sitzt wegen einer anderen Geschichte im Knast.«

Lusco schnaubte. »Das würde uns die Arbeit erleichtern. Wir müssten nur durchsickern lassen, dass er ein Kindermörder ist, dann wären wir ihn los. Leute, die sich an Kindern vergreifen, sind im Knast nicht wirklich populär. Preiswerte Lösung. Erspart dem Steuerzahler jede Menge Kosten.«

Oder lasst mich zwei Minuten mit ihm allein.

Eine kleine Hand schob sich in Michaels. Er zuckte nicht zusammen, er erkannte die Berührung sofort. Michael zog Lacey an sich und umarmte sie. Sie drückte ihn so fest, dass ihm fast die Luft wegblieb.

»Ich kann mir vorstellen, wie dir zumute ist, Michael«, flüsterte sie in sein Hemd.

Er drückte sie noch einmal kurz, dann ließ er sie widerstrebend los.

»Hey, Dr. Campbell. Ich dachte mir schon, dass wir Sie hier treffen.« Lusco lächelte matt. Lacey begrüßte den massigen Cop mit einer kurzen Umarmung. Michael wartete auf die alberne Eifersucht, die ihn immer packte, wenn er sah, wie ein Mann Lacey berührte. Sie blieb aus.

Was zum Teufel ist denn jetzt los?

Michael hörte kaum hin, als Lacey Lusco nach seinen Kindern fragte. Hatte er sich plötzlich damit abgefunden, dass sie einem anderen gehörte? Sein Blick glitt von ihrem blonden Pferdeschwanz zu den durchtrainierten, sonnengebräunten Beinen. Ha. Vielleicht kapierte sein Herz jetzt endlich, was sein Kopf schon lange wusste. Er sah zu, wie Lacey in ihren Schutzoverall schlüpfte und sich nebenher mit dem Detective über den Blumenschmuck für ihre Hochzeit unterhielt. Michael kannte keinen anderen Cop, der sich mit Frauen über High Heels, Babys mit Blähungen oder Blumenarrangements unterhalten konnte. Anfangs hatte Michael das noch erstaunt. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt.

Lauter werdende Stimmen an der Eingangsklappe des Bunkers sorgten dafür, dass der Blumenschmuck sofort vergessen wurde. Stumm beobachteten Lacey und Ray, wie Detective Callahan aus der engen Öffnung kletterte. Der graumelierte Cop hielt nach seinem Partner Ausschau. Er zog sich die Überschuhe von den Cowboystiefeln, warf sie in eine Beweismitteltüte und ging mit ausdrucksloser Miene auf die kleine Gruppe zu.

Keine guten Nachrichten.

Michael spürte, wie Laceys Hand sich erneut in seine schob.

»Was ist?«, fragte Michael. Sein Magen wehrte sich gegen den Big Mac, den er zu Mittag gegessen hatte.

Callahan und Lusco tauschten einen langen Blick aus. Sie verstanden sich auch ohne Worte.

»Mason?« Lacey hielt Michaels Hand noch fester. »Braucht ihr mich da unten?«

Der Detective schüttelte den Kopf. »Keine menschlichen Überreste.«

Michaels Magen beruhigte sich. Daniel war nicht im Bunker. Er atmete aus und hörte Lacey dasselbe tun.

Aber ein Blick zur Grube genügte, um seinen Magen erneut zum Rumoren zu bringen. Wenn Daniel nicht im Bunker war, dann sicher in dem Loch. Weggeworfen wie Müll. Erst als er Lacey leise nach Luft schnappen hörte, merkte er, wie fest er ihre Hand gedrückt hatte. Er ließ sie los. Sie ihn nicht.

»Was ist, Mason?« Lusco sprach leise. Er trat näher und schloss damit den kleinen Kreis.

Callahans braune Augen suchten Michaels. Jetzt kommt’s.

»Wir haben Kinderrucksäcke gefunden.«

Michael konnte nicht atmen.

»Auf einem steht Daniels Name«, sagte Callahan leise.

»Marineblau mit Ninja Turtles«, murmelte Michael mechanisch. Er sah den Rucksack deutlich vor sich. Genau wie Daniels Jacke mit dem Portland-Trail-Blazers-Logo, die Jeans und die roten Nikes. Was hat dein Bruder getragen, als du ihn zum letzten Mal gesehen hast? Wie oft hatte er diese Frage beantwortet?

Callahan nickte. Ein Anflug von Bedauern lag auf seinen Zügen.

Michael verstand ihn nur zu gut. Auch er hatte gehofft, der Rucksack wäre nicht der seines Bruders gewesen.

»Gibt es irgendeine Erklärung dafür, dass wir hier die Leichen von Erwachsenen finden?«, fragte Lusco in das Schweigen hinein.

Callahans Miene blieb undurchsichtig. »Möglicherweise.«

Michael wollte den Detective schütteln, ihn anschreien und eine detaillierte Beschreibung des unterirdischen Gefängnisses fordern. Stattdessen klammerte er sich an Laceys kleine Hand. Der Diamant an ihrem Verlobungsring grub sich in seine Handfläche.

»Gehören die anderen Rucksäcke den Kindern, die wir … gefunden haben?« Laceys Stimme versagte.

Callahan nickte. »Auf jedem steht ein Name. Außen. Mit schwarzem Filzstift geschrieben.«

»Moment mal.« Michael schüttelte den Kopf. »Nein. Die waren nicht beschriftet. Man schreibt die Namen von Kindern nicht für jeden lesbar groß auf einen Rucksack. Das kann gefährlich sein. Die Schule hätte das nie zugelassen. Und verantwortungsbewusste Eltern würden so was nie tun.«

Lacey nickte zustimmend.

Callahan schüttelte angewidert den Kopf. »Irgendjemand hat die Namen draufgeschrieben. Ich glaube, die Schrift ist immer dieselbe. Aber ich dachte, die Schule wollte das so.«

Michael spürte an Laceys Hand, wie sie erschauerte.

»Das war er. Er hat die Rucksäcke beschriftet. Aber warum?«, flüsterte sie. »Wollte er, dass wir sie finden? Wollte er uns sagen, dass wir das Gefängnis der Kinder gefunden haben? Oder hatte er damals einen ganz anderen Grund? War es ihm wichtig, sie unterscheiden zu können?«

Michael schloss kurz die Augen. »Schwer zu sagen, Lace.«

»Die Kinder, die vielen Kinder«, murmelte sie mit erstickter Stimme.

Lusco sprach langsam. »Sieht aus, als hätten wir jetzt die Verbindung, die wir gesucht haben. Der Bunker und die Kinderleichen gehören zusammen.«

Michael schaute von einem Cop zum anderen. »Wir … Ein Zeuge könnte uns vielleicht weiterhelfen. Haben Sie Jamie Jacobs gefragt, wo ihr Bruder ist?«

Lusco machte ein überraschtes Gesicht, aber Callahan zuckte nicht mit der Wimper. »Lassen Sie die Frau in Ruhe. Wir finden Chris Jacobs auch so und befragen ihn noch mal. Sie müssen nicht auch noch Jagd auf ihn machen.«

Michael hätte wissen sollen, dass Callahan ihn immer im Auge behielt. »Keine Sorge. Ich halte mich von ihrem Bruder fern.«

Aber nicht unbedingt von Jamie Jacobs.

 

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Der Mann starrte auf die Online-Nachrichten.

Erwachsene? Sie fanden die Gebeine von Erwachsenen? Wieso denn das?

Er griff zu der Flasche Single Malt, die er bereithielt, um damit Gäste zu beeindrucken, und goss sich eine ordentliche Portion ins Glas. Mit zitternder Hand kippte er den Scotch in sich hinein und genoss das wohlige Brennen in der Kehle. Aufatmend warf er einen Blick in den Spiegel und wartete, bis Ruhe ihn durchflutete.

Vor sehr langer Zeit hatte er das Schicksal einiger Menschen besiegelt, aber das bereute er nicht. Was wäre passiert, wenn er sich damals anders entschieden hätte? Manchmal mussten eben Opfer gebracht werden. Zum Wohl der Allgemeinheit. Er hatte alles richtig gemacht.

Zwanzig Jahre.

Zwanzig Jahre lang waren die Geheimnisse verborgen geblieben und jetzt brachen sie aus dem Erdboden wie explodierende Landminen. Ein einziger kleiner Stolperdraht hatte eine Kettenreaktion ausgelöst.

Aber niemand würde diese Kette je mit ihm in Verbindung bringen. Er schnippte einen Fussel von der Schulterpartie seines Jacketts, rückte seine Krawatte zurecht und hob das Kinn. Niemals. Er hatte alles gut geplant. Er hatte die notwendigen Vorkehrungen getroffen. Die Kette würde genau da enden, wo er sie enden lassen wollte. Er hatte sich den perfekten Sündenbock ausgesucht.

Mit neuer Zuversicht trat er an seinen Schreibtisch und drückte einen Knopf am Telefon.

»Sir?« Die Stimme hallte blechern aus dem Lautsprecher.

»Zu mir ins Büro bitte. Es gibt etwas zu besprechen.«

»Sofort, Sir.«

 

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Die gewitzten Augen des alten Mannes schienen in der Dunkelheit zu glühen. »Ist das jetzt der Ernstfall oder wieder nur eine Probe?«

Chris schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung«, log er. »Aber das macht nichts. Die Regeln bleiben dieselben.«

Der Blick aus den dunklen Augen hielt seinen einen Moment lang fest, dann glitt er zu dem Jungen, der im schwachen Licht einer einzelnen Glühbirne mit einem langbeinigen sandfarbenen Hund spielte. »Das Zimmer ist bereit.«

Chris nickte. »Danke.« Er holte tief Luft und warf wie immer einen prüfenden Blick in die dunklen Ecken des Ladens. Juans Bäckerei stammte aus einer anderen Zeit. Die Einrichtung war schon alt gewesen, als Juans Vater das Geschäft eröffnet hatte. Aber Juan hielt alles makellos sauber. Kein Stäubchen wagte es, sich auf dem Boden oder den Regalbrettern breitzumachen. Um diese Uhrzeit wurde hier nicht gearbeitet. Trotzdem hing der betörende Duft von frischem Brot in der Luft. Chris lief das Wasser im Mund zusammen.

Ein krächzendes Lachen antwortete ihm. »Du hast mich gut bezahlt. Ohne die Miete von dir hätte ich den Laden längst dichtmachen müssen.« Juan schnaubte. »Die Miete für ein Zimmer, das du nie benutzt.«

»Wir waren ein- oder zweimal drin.« Chris gab Juan ein paar Scheine. Sich von dem Geld zu trennen, fiel ihm nicht schwer. Es war eine Art Versicherungsprämie. Er bezahlte für ein beruhigendes Gefühl.

Von seinem Computer aus konnte er die Kameras überwachen, die rund um sein Haus installiert waren. Nun brauchte er nur noch zu warten. Zu sehen, wer nach ihm suchte. Sehen, wen die Nachrichten aus der Versenkung lockten und aktiv werden ließen.

Von dem gemieteten Zimmer wusste keiner. Juan lebte allein und hatte versprechen müssen, niemandem etwas zu verraten. Chris war das Fenster über dem Geschäft vor vier Jahren aufgefallen, und er hatte den alten Mann überredet, ihm den Raum zu überlassen. Ein guter Deal für sie beide: Juan konnte seinen Laden weiterführen und Chris fühlte sich sicherer.

Die Frage war, wie intensiv man nach ihm suchen würde. Wenn dem alten Mann etwas zustieß, würde er sich das nie verzeihen. Der Hund spreizte die Vorderbeine, duckte sich und knurrte spielerisch. Sein Sohn lachte mit heller Stimme und knurrte zurück. Chris sah den beiden schweigend zu.

Um Brian zu schützen, würde er sein Leben opfern.

Er ging davon aus, dass ihm nach Jamies Anruf zwei oder drei Tage blieben, bevor er aktiv werden musste. Die Neuigkeiten waren inzwischen überall im Netz. Die Filterergebnisse füllten seine Eingangsbox. Schulbus aus Oregon. Vermisste Kinder. Entführung.

Die Namen seiner Mitschüler. Jeder einzelne war seit zwanzig Jahren tief in sein Gehirn gebrannt. Der Name und das Gesicht dazu. Die alten Schulfotos online zu sehen, war ein Schock gewesen. Auch sein eigenes Foto aus diesem Jahr. Kurzes Haar, unschuldiges Lächeln, so vertrauensvoll. Nach seiner Rückkehr hatte er sich geweigert, mit zum Schulfotografen zu gehen. Er hatte behauptet, sich für seine Narben zu schämen, und seinen Eltern gesagt, er wolle nicht, dass andere Leute ihn so sähen.

Seit vierundzwanzig Stunden hing er ununterbrochen am Computer und las jedes Wort, das er im Netz über die grauenhaften Entdeckungen finden konnte. Bei den Beschreibungen der kleinen Schädel hatte er geweint und sich die Freunde vorgestellt, mit denen er damals gespielt hatte. Die lispelnde Kendall mit ihrem langen schwarzen Haar und Jeremy mit seinem schiefen Grinsen und den unzähligen Sommersprossen.

Warum war er selbst noch am Leben?

Die Fotos hatten eine Flut von Erinnerungen ausgelöst. Er war wieder dort. In dem Höllenloch. Durchlitt alles noch einmal. Sah die seltsam leblosen, blassen Augen des Mannes, seine Haut, die so weiß war, dass sie durchsichtig erschien. Die kleinsten Mädchen hatte der Geistermann als Erste freigelassen. Die anderen Kinder hatten weinend darum gebettelt, die nächsten sein zu dürfen. Er hatte Kendall an der Hand des Geistermanns gehen sehen. Glücklich lächelnd war sie die Leiter aus dem stinkenden Loch hinaufgeklettert. War es ein Geschenk, dass sie nie gegenseitig von ihrem Schicksal erfahren hatten?

Chris’ Magen zog sich zusammen. Er spürte Schweiß an den Schläfen. Atmen. Ein. Aus. Ein. Verdammt. Das war ein sicheres Zeichen, dass die Nacht voller Albträume sein würde. Okay. Er würde einfach nicht schlafen. Helles Lachen, als der Hund Brian umwarf und ihm das Gesicht leckte.

Der alte Juan schaute zu, wie die beiden über den Boden rollten. »Ein wirklich lieber Junge.« Die braunen Augen sogen sich an Chris fest. »Für ihre Kinder würden Eltern alles tun, nicht wahr?«

Chris nickte und versuchte, den Kloß in seinem Hals zu schlucken. »Alles.«

 

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»Ja! Wir haben eine Übereinstimmung.« Ray Lusco schlug mit der Faust auf seinen Schreibtisch.

»Für eine der Leichen aus dem Massengrab?«, fragte Mason. Er saß Ray gegenüber an seinem uralten Metallschreibtisch und öffnete auf dem Bildschirm den Ordner mit den Fotos des Grabes. Thumbnails füllten seinen Monitor. Ein paar Unterrichtsstunden von seinem Sohn Jake hatten Masons Computerkenntnisse erweitert. Rings um den Monitor klebten Zettel mit Anweisungen für verschiedene Anwendungen. Jake hatte sie ihm Klick für Klick aufgeschrieben.

Massengrab war eigentlich nicht das richtige Wort für die Grube. Die Leichen waren zu verschiedenen Zeiten dort verscharrt worden. Eine über der anderen. Warum öffnete jemand immer wieder dasselbe Grab? Aus Neugier? Hatte er nachschauen wollen, wie die vorige Leiche jetzt aussah? Oder war es nur einfacher, an einer Stelle zu graben, an der der Boden schon locker war?

Die Bergung war ein forensischer Albtraum gewesen. Die Knochen der Toten lagen durcheinander, waren jedes Mal bewegt worden, wenn der Killer eine weitere Leiche verscharrt hatte. Oder hatte er sie absichtlich vermischt?

Am Ende waren fünf Erwachsene gefunden worden. Laut Dr. Peres, der forensischen Anthropologin, die die Bergung leitete, keine alten. Eher junge Leute um die zwanzig. Dr. Peres war in ihrem Element. Mason vermutete, dass die Herausforderung, die die Knochengrube darstellte, ihrer Vorstellung vom Paradies nahekam. Sie hatte ein Dutzend forensische Fachkräfte angefordert und sorgfältig jedes einzelne Fundstück fotografiert und katalogisiert. Mason hatte ihre Augen leuchten sehen, wenn ein Schädel zum Vorschein gekommen war. Meist arbeitete sie stumm, behielt ihre Mutmaßungen für sich und bellte ihren Leuten nur kurze Anweisungen zu. Der Polizei teilte sie an der Fundstelle lediglich das Geschlecht jedes geborgenen Opfers mit.

»Steven James Monroe. Vierundzwanzig. Vorstrafen wegen Prostitution und Drogenbesitz. Die letzte bekannte Adresse ist fast fünfundzwanzig Jahre alt. Vermisst gemeldet im Jahr, bevor der Bus verschwunden ist. Von seinen Eltern.«

»Vierundzwanzig«, murmelte Mason. Er betrachtete ein altes Foto von Monroe. Der Junge sah unschuldig aus, jung und frisch. Wie war er in das Loch gekommen? »Jemand war schon vor der Entführung der Kinder aktiv. Wollen wir wetten, dass die anderen Opfer ebenfalls Prostituierte waren? Vielleicht haben wir es mit einer Neuauflage von Jeffrey Dahmer zu tun, dem Serienmörder, der als Milwaukee Monster bekannt wurde. Nur dass unser Typ anscheinend auch Frauen mag.«

»Wenn sich herausstellt, dass alle Prostituierte waren, deutet das tatsächlich auf ein sexuelles Motiv hin.« Mason hörte Ray an, wie wütend er war. »Das passt auch zu dem Zeug, das wir in dem unterirdischen Verlies gefunden haben.«

»Nur weil der Erste eine bewegte Vergangenheit hat, muss das nicht auf alle zutreffen. Vielleicht sind die anderen vermisste College-Kids. Glaubst du, er hat vor den Kindern die Erwachsenen im Bunker eingesperrt?«

Ray nickte. Mason hörte ihn mit den Zähnen knirschen.

»Warum dieser Wechsel zu Kindern?«

Ray zuckte die Schultern. »Da fragst du den Falschen.«

»Glaubst du, unser unbekannter Täter ist noch am Leben?« Womöglich jagten sie ein gottverdammtes Gespenst.

Mason griff beim ersten Klingeln nach dem Telefon auf seinem Schreibtisch.

»Callahan.«

»Detective Callahan? Cecilia Brody hier.«

Masons Griff um den Hörer wurde fester. »Dr. Brody. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich habe noch mal über Ihre Fragen von neulich nachgedacht.«

Ja, sicher, dachte Mason. Du hast dich endlich entschieden, etwas auszuspucken, was du uns verheimlicht hast. Schon im Krankenzimmer der Frau hatte er das Gefühl gehabt, dass sie und ihr Mann nicht alles sagten, was sie wussten. Erst hatte er geglaubt, der Grund sei die Anwesenheit ihres Sohnes. Aber diesen Gedanken hatte er schnell verworfen. Die Eltern hatten mit ihrem Sohn geredet wie mit einem Fremden.

»Was ist Ihnen denn noch eingefallen, Dr. Brody?«

Als die Leitung ein paar Sekunden lang still blieb, fürchtete Mason, dass die Frau es sich anders überlegt hatte.

»Sie haben gefragt, ob es jemanden geben könnte, der uns mit Daniels Entführung wehtun wollte.«

Mason schwieg.

»Ich habe noch einmal gründlich überlegt, und mir ist eingefallen, dass es etwa einen Monat vor Daniels Verschwinden ein Problem mit einem Patienten gegeben hat.«

»Ein Problem?«

»Einen Todesfall. Er ist mir unter den Händen weggestorben.«

Mason richtete sich auf. Sein Schreibtischstuhl ächzte. »Er ist gestorben? Während einer Operation?«

»Ja. Und die Familie hat mir die Schuld dafür gegeben.« Ihre Stimme klang ruhig, emotionslos. »Er war ein Risikopatient. Ich musste etwas tun, sonst wäre er auf jeden Fall gestorben. Es war ein Versuch, und seine Frau hat das gewusst. Ich habe ihr alles erklärt, und sie hat ihre Einwilligung gegeben. Ich sollte versuchen, ihn zu retten.«

»Was ist passiert?«

»Ich konnte nichts machen. Als wir seinen Brustkorb geöffnet hatten, habe ich gesehen, dass alles noch viel schlimmer war, als wir geglaubt hatten.« Dr. Brody brach abrupt ab.

Mason wartete, überlegte, ob sie dabei war, die Fassung zu verlieren. Er bezweifelte es. Die zarte Frau hatte ein Rückgrat aus Stahl.

»Mr Jeong war nicht alt. Für seinen schlechten Gesundheitszustand sogar eher jung. Während eines Besuchs bei seiner Familie hier in den Staaten ist er in einem Einkaufszentrum in der Stadt zusammengebrochen. Er ist in mein Krankenhaus gebracht worden …«

Mein Krankenhaus?

»… und wir haben sofort die Familie über seinen kritischen Zustand informiert. Er hatte eine erstaunlich große Familie. Von Stunde zu Stunde sind mehr Besucher erschienen. Der Vater des Mannes ist gekommen und hat das Kommando übernommen. Er sprach nur Koreanisch und lebte ebenfalls nicht in den Staaten.«

Dr. Brody räusperte sich.

»Es gab Verständigungsprobleme. Die Frau des Patienten hat recht gut Englisch gesprochen, ihren Schwiegervater aber nicht beruhigen können. Nach dem Tod des Patienten hat der Mann mir Drohbriefe geschickt und das Krankenhaus und mich verklagen wollen.

Er war reich, hatte Unmengen Geld. Er hat damit um sich geworfen und auf meine Entlassung gedrängt. Er hat versucht, die Medien für sich einzuspannen. Es ist ihm nicht gelungen.«

»Ging die Sache vor Gericht?« Mason fragte sich, wie viel Geld jemand haben musste, damit er von der wohlhabenden Dr. Brody als reich bezeichnet wurde.

Er machte sich eine Notiz. Anwälte? Gerichtsunterlagen?

»Nein. Die Klage wurde abgelehnt. Danach bin ich ein paar Tage lang sehr offensichtlich von asiatischen Männern verfolgt worden.«

»Haben Sie die Polizei eingeschaltet?«

»Nein. Sie blieben auf Abstand. Sie sind mir nur überallhin gefolgt und haben dafür gesorgt, dass ich es wusste.«

»Und Sie glauben, der Mann war wütend genug, um Ihrem Sohn etwas anzutun?«

Die Leitung blieb lange stumm. »Ich weiß es nicht«, sagte sie bedächtig. »Sie haben mich gebeten, nichts auszuschließen. Der Zorn dieses Mannes hat mich lange verfolgt. Noch nie habe ich so viel Hass im Blick eines Menschen gesehen. Seine Augen werde ich nie vergessen. Er hat tatsächlich geglaubt, ich hätte seinen Sohn umgebracht.«

Mason hörte die Worte, die sie nicht aussprach. Vielleicht hat er aus Rache meinen getötet.

»Danke, Dr. Brody. Wir kümmern uns darum. Können Sie uns irgendwelche Unterlagen zur Verfügung stellen? Wir setzen uns natürlich auch mit der Rechtsabteilung des Krankenhauses in Verbindung.«

»Vielleicht ist das alles gar nicht wichtig«, sagte sie schnell.

»Wir müssen jedem Hinweis nachgehen.«

»Ja, sicher. Tun Sie, was Sie können. Ich will wissen, was mit Daniel passiert ist. Ich muss es erfahren, bevor …«

Mason blinzelte. Er hatte beinahe vergessen, dass die Frau schwerkrank war. »Doktor … wie geht es Ihnen? Gesundheitlich, meine ich.«

»Ich brauche eine Niere«, sagte sie schlicht. »Ohne Transplantation bleiben mir noch ein paar Monate. Mein Mann und Michael kommen als Spender nicht infrage. Sie haben selbst je nur eine Niere. Eine erbliche Geschichte. Und wegen des hohen Abstoßungsrisikos brauche ich ein ganz spezielles Organ.«

Mason wand sich innerlich. Ihre schonungslose Offenheit brachte ihn durcheinander. »Ach … okay. Das ist übel … Ich hoffe, man findet …«

»Danke, Detective. Guten Tag, Detective.«

Das Telefon klickte.

Verdammt. Mason legte bedächtig den Hörer auf und rieb sich den Nacken. Ray warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Dr. Brody?«

Mason nickte. »Ein paar Monate, bevor ihr Junge verschwunden ist, ist ihr ein Patient auf dem OP-Tisch gestorben. Der Vater des Mannes hat offenbar nicht alle Latten am Zaun. Ein reicher, verrückter Ausländer. Möglicherweise haben wir es mit einem Racheakt zu tun.«

Ray nickte. »Das ist mehr, als den anderen Eltern eingefallen ist. Kendall Johnsons Mutter hatte am Tag vor Kendalls Verschwinden eine Auseinandersetzung mit der Musiklehrerin ihrer Tochter. An andere Vorfälle kann sie sich nicht erinnern. Die Lehrerin war damals zweiundsiebzig.« Ray schüttelte den Kopf. »Sie ist vor acht Jahren gestorben.«

»Als die Kinder verschwunden sind, haben die Brodys den Ermittlern nichts von dem verstorbenen Patienten gesagt.« Mason kratzte sich am Kinn. »Ich wüsste gerne, weshalb. Und warum rücken sie jetzt damit raus? Verdammt, vor einer Minute hätte ich Dr. Brody selbst fragen können.«

»Sie hatte zwanzig Jahre lang Zeit, nachzudenken und in ihren Erinnerungen zu kramen«, gab Ray zu bedenken.

»Der Senator wusste davon. Als ich bei ihnen war, hatte ich das Gefühl, dass er noch etwas sagen wollte. Vielleicht hat er gehofft, dass seine Frau davon anfängt.« Mason trommelte mit einem Stift auf seinen Schreibtisch. Wie passte die neue Information zu dem, was sie im Wald gefunden hatten?

Ein zorniger koreanischer Vater und ein junger Mann aus der Gegend von Portland, der auf den Strich ging.

Eins und eins ergab in diesem Fall nicht zwei.

»Uns fehlen noch ziemlich viele Puzzleteile«, stellte Ray fest.

»Stimmt. Und es ist unser Job, sie zu finden.«