Kapitel 1
Gegenwart
»Keine Presse.« Misstrauische Polizistenaugen fixierten Michael.
Die Farm in Oregon roch durchdringend nach Mist, obwohl keine einzige Kuh zu sehen war. Dank seiner Recherchen wusste er, dass der Milchviehhof schon vor zwanzig Jahren aufgegeben worden war. Drahtzäune liefen in trunkenen Zickzacklinien an den Rändern der früheren Weiden entlang. Knapp hundert Meter entfernt stand ein Schuppen, in den Michael keinen Fuß setzen würde. Nicht mal für eine Million. Er war kein Angsthase, aber das Gebäude sah aus, als würde es zusammenbrechen, sobald auch nur ein Spatz auf dem durchsackenden Dach landete. »Ich bin nicht als Reporter hergekommen. Ich soll mich bei Dr. Campbell melden«, log Michael.
»Der Doc ist schon seit einer Stunde weg.« Der Cop musterte Michael abschätzig. Er nahm an, dass Michael den Namen des Gerichtsmediziners nur nannte, damit er durchgelassen wurde. Wie viele Reporter hatte er heute schon verscheucht? Der Fund einer so großen Anzahl von verscharrten Überresten zog logischerweise die Aasgeier an. Er hob eine Augenbraue und machte Michael damit deutlich, dass er sich schon etwas Besseres ausdenken musste.
Kein Problem. »Ich will nicht zu Dr. Campbell, dem Gerichtsmediziner. Ich will zu seiner Tochter, Dr. Lacey Campbell.«
Der Cop wischte sich über die verschwitzte Stirn und warf einen Blick auf sein Klemmbrett. Das anzügliche Grinsen, das über sein Gesicht huschte, ließ Michael die Fäuste ballen.
»Ach Frau Doktor Campbell? Ja, die ist noch hier.«
Dumpfbacke.
»Können Sie ihr Bescheid geben …«
»Was wollen Sie von ihr? Sie ist mitten in den Bergungsgrabungen in einem Mordfall. Um einen dahergelaufenen Stalker kann sie sich jetzt sicher nicht kümmern.«
»Herr im Himmel.« Michael machte einen Schritt nach vorn und senkte die Stimme. »Nehmen Sie Ihr Funkgerät und sagen Sie irgendeinem Verantwortlichen, er soll Dr. Campbell ausrichten, Brody sei da. Sie wartet auf mich.« Er ließ den Blick über die Flotte von Streifenwagen schweifen. Selbst den Zivilfahrzeugen sah man auf hundert Meter an, dass sie der Polizei gehörten. »Ist Callahan schon hier?«
Beim Namen des Detectives verengten sich die Augen des Cops. Seine Hand zuckte zu seinem Funkgerät. »Noch nicht.« Er wandte Michael demonstrativ den Rücken zu, dann funkte er einen Kollegen an. Na endlich. Michael rieb sich den verschwitzten Nacken und wünschte sich eine Flasche eiskaltes Wasser. Oder Bier. Würde Lacey sich losreißen und mit ihm reden? Wenn sie in einen Fall vertieft war, vergaß sie alles andere. Ihr Handy hatte sie abgeschaltet. Er hatte ein Dutzend Mal versucht, sie anzurufen.
Der Cop hatte den Kopf ein wenig gedreht und beobachtete Michael aus dem Augenwinkel, während er leise in sein Funkgerät sprach. Michael ignorierte ihn. Sein Blick glitt über den Fundort, der vor ihm in der Gluthitze lag. Die Luft war heiß, trocken und staubig. Bei jedem Atemzug legte sich ein feiner Staubfilm über seine Lungenbläschen.
Uniformierte Cops standen in ihren marineblauen Klamotten auf den sonnenverbrannten Feldern. Verdammt, die müssen vor Hitze fast umkommen. Kleine weiße Zelte verbargen die Grabungsstellen vor neugierigen Blicken und vor den Kameras der Nachrichtensender, die mit Hubschraubern angerückt waren. Zu viele Zelte. Jedes Zelt ein Leichenfund. Eine große Gestalt in einem Schutzanzug marschierte von einem Zelt zum anderen.
O Mist.
Victoria Peres. Aus jeder Entfernung sofort zu erkennen. Die resolute forensische Anthropologin würde ihn vermutlich nicht mal aufs Gelände lassen, wenn Lacey ihn an der Hand hielt. Michael stieß heißen Atem aus und spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken lief. Er setzte seine Sonnenbrille auf und wandte sich ab. Anstatt seine Zeit mit dem vergeblichen Versuch zu verschwenden, in Fort Knox einzudringen, konnte er auch ein paar Anrufe tätigen. Er musste herausfinden, was hier im Erdreich vergraben war. Dabei war er nicht wegen der Story hier. Er hatte persönliche Gründe.
»Hey!«
Michael drehte sich wieder zu dem Cop um. Der Mann hatte das Funkgerät weggesteckt und die Arme über der Brust verschränkt. Seine Bizepse wölbten sich unter den kurzen Ärmeln der Sommeruniform. Auf seinem Namensschild stand Ruxton.
»Sie sind der verdammte Schmierfink, der wegen unserem Überstundenzuschlag Stunk gemacht hat.« Ruxton grinste hämisch. »Die Sesselpupser von der Stadt haben sich gar nicht mehr eingekriegt, weil wir uns angeblich dumm und dämlich verdienen.«
Nicht schon wieder. Michael schloss kurz die Augen.
Aber Ruxton war noch nicht fertig. »Wenn die Stadt endlich mal ein paar Kröten ausspucken und mehr Polizisten einstellen würde, müssten wir nicht so viele Überstunden schieben.«
»Ich habe nicht …«
»Euch Zeitungsfritzen interessiert doch nur, wenn uns jemand verklagt, weil er sich auf der Flucht den Kopf angeschlagen hat. Oder wenn sich jemand beim Widerstand gegen die Festnahme eine Rippe anknackst. Ihr habt ja keine Ahnung …«
Mit zwei schnellen Schritten war Michael bei ihm, in seinen Augen spiegelte sich seine Wut. »Ich bin aber auch der Zeitungsfritze, der vergangenen Winter mitgeholfen hat, den verdammten kranken Polizistenmörder zur Strecke zu bringen.«
Der Cop klappte den Mund zu.
»Einige meiner besten Freunde sind bei der Polizei und ich habe größten Respekt vor Ihrer Arbeit. Beurteilen Sie mich nicht nach dem, was Sie in der Zeitung lesen, und ich tue Ihnen denselben Gefallen.«
Die beiden Männer starrten einander an.
»Michael?«
Michael wandte sich zu der weiblichen Stimme um. Seine Laune besserte sich schlagartig, der Cop war vergessen. Lacey sah umwerfend aus, aber auch müde. Die zierliche forensische Odontologin hatte sich gerade aus einem ultradünnen Schutzoverall geschält und hielt das raschelnde Ding zwischen Daumen und Zeigefinger von sich weg. Sie rümpfte die Nase.
»In solchen Plastiktüten versagt bei dieser Hitze jedes Deodorant.«
Ihre warmen braunen Augen schauten Michael fragend an. Dann fiel ihr Blick auf den grimmigen Cop. Sie erfasste die Situation sofort und setzte ihr allersüßestes Lächeln auf. Ruxton wirkte gleich deutlich entspannter. Langsam glitt sein Blick von ihren Wanderstiefeln an ihren wohlgeformten Beinen empor zu den Shorts und dem eng anliegenden ärmellosen Top. Laceys gewelltes blondes Haar hing zu einem Pferdeschwanz gebunden hinten aus einer Seahawks-Kappe.
Michaels wichtigste Verbündete war eine Frau, die ihm nicht mal bis zur Schulter reichte. Atemberaubend, blond, heiß, warmherzig, sexy und klug. Alles, was man sich nur wünschen konnte. Der Traum jeden Mannes.
Der Cop hatte keine Chance. Sie würde ihn um den Finger wickeln wie den brandneuen Goldring an ihrer linken Hand. Den Ring mit dem dicken Diamanten.
Nicht Michaels Diamant.
Fahr zur Hölle, Jack Harper.
Lacey bedachte Ruxton mit einem perfekten Zahnpastalächeln. »Er darf doch sicher mit rein? Dr. Peres wartet schon auf ihn.«
Michael verschluckte sich beinahe. Victoria Peres? Nie im Leben.
Ruxton starrte Michael an, als wäre er soeben einer Wunderlampe entstiegen. Michael feixte. Gegen Lacey war kein Mann immun.
»Er muss aber unterschreiben. Hier.« Ruxton hielt Michael mit verkniffener Miene das Klemmbrett unter die Nase. Der Ring war auch ihm nicht entgangen.
Lacey zwinkerte dem Polizisten zu und schob Michael auf den windschiefen Schuppen zu. Nach ein paar Metern ging sie langsamer. Michael hielt sie am Arm fest, damit sie stehen blieb. Dann hob er ihr Kinn mit dem Finger. Er sah, was dem Cop nicht aufgefallen war: die dunklen Schatten unter ihren Augen, die geröteten, geschwollenen Lider.
»Ist es schlimm?« Sein Mund wurde zu einem schmalen Strich. Um diese Frau so aus dem Gleichgewicht zu bringen, musste es ziemlich hart kommen.
Sie schloss eine Sekunde lang die Augen. Die aufgesetzte Koketterie war verflogen. »Es sind Kinder, Michael. Allesamt Kinder.« Sie holte tief Luft. »Erst war nur von einem Skelett die Rede, aber der Leichensuchhund findet immer mehr.«
Michaels Magen zog sich zusammen. Eine schlimme Vorahnung stieg in ihm auf. Nein, nicht jetzt. »Wie lange liegen sie schon da?«
Lacey schüttelte den Kopf. »Das weiß ich noch nicht. Lange genug. Sie waren so viele Jahre hier verscharrt, dass nur noch braune Knochen übrig sind.« Ihre Schokoladenaugen füllten sich mit Tränen. Sie wischte sich mit dem staubigen Handgelenk die Nase ab. »Bislang haben wir sieben gefunden. Sie sind so klein …« Ihre Stimme versagte.
Seine Hände lagen auf ihren Schultern, drückten zu. »Auch Jungen?«, fragte er rau. Er spürte ein Ziehen bis tief ins Mark. Mehrere Kinder. Irgendetwas sagte ihm, dass dies der Ort war. Der Ort.
»Ja. Bei zweien sind wir sicher, aber bei den ganz kleinen ist das schwer zu sagen. Im Augenblick orientieren wir uns an dem, was von den Haaren und Schuhen übrig ist …« Sie packte ihn an den Armen. Ihre Augen weiteten sich. »O Gott, Michael. Es tut mir so leid. Ich habe gar nicht daran gedacht … Du glaubst doch nicht …«
»Mir geht er nie aus dem Kopf, Lacey. Immer wenn ich höre, dass irgendwo die Überreste von Kindern gefunden werden, ist der Gedanke da.«
Sie trat einen Schritt vor, schmiegte die Wange an seine Brust und schlang die Arme fest um seine Taille. Michael legte seinen Kopf auf ihren und wünschte ihre Mütze zum Teufel. Zu gern hätte er die Nase in ihrem Haar vergraben und sich in ihrem weiblichen Duft verloren, um zu vergessen. Lacey konnte ihm das geben. Aber es stand ihm nicht mehr zu, es sich zu nehmen.
Daniel. Sein Gehirn schrie den Namen seines Bruders, Bilder des Jungen schossen in seinem Schädel hin und her. Bilder, die in den letzten zwanzig Jahren nach und nach verblasst waren. Er drückte die Augen zu, wollte die Erinnerungen zwingen, klarer zu werden, zum Leben zu erwachen.
»Wir haben Daniels Zahnkartei doch sicher in der Gerichtsmedizin?« Lacey löste sich schniefend von ihm, um ihm in die Augen schauen zu können.
Er konnte nur nicken.
»Ich schaue sie mir gleich an, Michael.« Sie zog ihr Telefon aus der Tasche und schaltete es an. »Sara soll sie scannen und mir zuschicken. Dann kann ich sie mit dem vergleichen, was wir schon haben.« Mitten im Wählen hielt sie inne. »Ich weiß nicht, wie viele Leichen es sind … Aber ich habe das Gefühl, dass dort draußen noch mehr Kinder liegen.«
»Es sind acht«, flüsterte er.