Kapitel 12

 

»Meinst du, hier sind wir richtig?«, flüsterte Jamie. Sie griff nach Michaels Hand. Sie parkten in der Nähe eines schäbigen Holzhauses, das von hohen Tannen umgeben war. Die Büsche und Pflanzen vor dem Haus wirkten gepflegt, aber farblos. Nichts wies darauf hin, dass hier ein Kind wohnte. Jamie war froh, dass sie das Haus nicht noch am vergangenen Abend gesucht hatten. Die Holperstraßen hier draußen waren komplett unbeschildert. Michael hupte und Jamie zuckte zusammen. Sie funkelte ihn an.

»Der Sheriff hat doch gesagt, wir sollen uns nicht anschleichen. Vielleicht ist es auch noch ein bisschen früh für einen Besuch.« Er drückte beruhigend Jamies Hand. »Ich sehe niemanden, nicht mal ein Auto.« Michael suchte die Umgebung mit seinem Adlerblick ab. Jamies Hand ließ er nicht los. »Wir geben ihm noch ein paar Minuten. Achtung, ich hupe noch mal.« Die Hupe jaulte schon auf, bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte. Wenigstens hatte er sie diesmal gewarnt. Beinahe.

Jamie atmete tief durch und zwang sich, still zu sitzen. Sie wollte aus dem Truck springen, gegen die Tür hämmern und endlich ihren Neffen sehen.

»Bleib locker. Dein Bruder freut sich sicher, dass du kommst, und dein Neffe wird dich lieben. Wie sollte es anders sein? Du wirst sein Leben schöner machen. Er kann sich glücklich schätzen.«

Sie sah Michael staunend an. Als er lächelnd ihr Gesicht studierte, prickelten ihre Lippen, als hätte er sie berührt. Immer wieder zeigten solche überraschenden Bemerkungen ihr, dass sie in diesen Augenblicken auf unterschiedlichen Wellenlängen sendeten. Sie sorgte sich um ihren Bruder und Michael machte ihr Komplimente. Das war ein wenig verwirrend, aber auch ein bisschen erotisch.

»Du denkst überhaupt nicht an Chris«, stellte sie fest.

»Stimmt. Ich denke an dich. Uns. An gestern Nacht. Wow.«

Ja, die letzte Nacht war der Hammer. »Aber ich denke an Chris.«

»Bis eben vielleicht«, korrigierte er sie. »Aber jetzt denkst du an letzte Nacht. Das sehe ich an dem leichten Rotton auf deinen Wangen und an deinen leuchtenden Augen. Mir kannst du nichts vormachen. Im Augenblick hast du Sex im Kopf.«

Sie lachte. Sie konnte einfach nicht anders. Er sagte so viele unerwartete und erfrischende Dinge. Jemanden wie ihn hatte sie noch nie kennengelernt. Sein Geist war flink und beweglich, seine Gedanken waren ihren oft meilenweit voraus und kreisten auf ganz anderen Umlaufbahnen. Aber es war alles gut. Manchmal nahm er das Tempo etwas zurück und genoss den Augenblick. Wie jetzt zum Beispiel. Er sah sie durchdringend an und gab ihr mit seiner Aufmerksamkeit das Gefühl, schön zu sein.

Plumpe Anmachsprüche waren nicht sein Ding. Er sagte immer, was er fühlte oder dachte. Anfangs hatte sie diese Direktheit irritiert. Aber jetzt wusste sie, dass das keine Masche war. Er war ein Mann, der zu schätzen wusste, was er vor sich sah.

Sie gewöhnte sich sogar schon daran, von ihm Prinzessin genannt zu werden. Das hätte sich sonst niemand erlauben dürfen. Aber aus Michaels Mund klang der Spitzname wie pure Zärtlichkeit.

»Freust du dich darauf, deinen Bruder zu sehen?«

»O ja, und wie! Ich bin aufgeregt, nervös – alles gleichzeitig.«

Michael richtete den Blick aufmerksam auf das kleine Haus. »Das kann ich verstehen. Ich habe auch ein paar Fragen an ihn und will endlich die Antworten. Echte Antworten. Die Gedächtnislücken kaufe ich ihm nicht ab.«

»Aber er erinnert sich tatsächlich an nichts.«

»O doch, das tut er. Er weiß irgendwas. Deshalb haust er wie ein Einsiedler in diesem gottverlassenen Winkel der Welt. Ich nehme an, es ist wegen dem Kerl, der in dein Haus eingebrochen ist.«

Wie bitte? »Nein, ich glaube, du verstehst nicht …«

»Dein Bruder verhält sich wie ein Mann, der sich versteckt halten muss«, beharrte Michael. »Nicht wie jemand, der nur menschenscheu ist. Einige meiner Nachbarn kenne ich kaum, weil sie nie aus dem Haus gehen. So vermeiden sie Kontakte. Dazu muss man nicht in eine Gegend ziehen, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, und sein Kind zu Hause unterrichten. Wer das macht, hat Angst – oder er will jemanden beschützen.

Chris dachte, er täte dir mit seiner Heimlichtuerei einen Gefallen. Stattdessen bist du übel zugerichtet worden und es hätte noch viel schlimmer kommen können. Ich werde ihm meine Fragen stellen. Verlass dich drauf.«

Jamies Gedanken wirbelten durcheinander. Erinnert Chris sich tatsächlich an damals? Aber weshalb hat er mit niemandem darüber gesprochen? Warum versteckt er sich?

»Warum sollte er schweigen?« Ihre Stimme wurde lauter. »Wenn er weiß, wer die Kinder umgebracht hat, warum sagt er dann nichts?« Sie schüttelte den Kopf. »Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Da bin ich ganz deiner Meinung.« Michael nickte. »Darüber mache ich mir schon seit Jahren Gedanken. Aber der Einzige, der uns wirklich weiterhelfen kann, ist Chris. Und vielleicht Mister Tattoo.« Er drückte ihre Hand. »So, und jetzt lernst du deinen Neffen kennen.«

Sein grüner Blick gab ihr Mut. Michael wollte mit Chris reden. Aber er war auch ihretwegen hier. Sie erwiderte den Druck seiner Hand und stieg aus dem Wagen.

Michael klopfte an die Haustür. Sie warteten einen Moment, dann klopfte er noch einmal.

»Immerhin haben wir so viel Lärm gemacht, dass er nicht mehr überrascht sein kann.«

Er legte die hohlen Hände an ein Fenster, um einen Blick ins Haus werfen zu können.

»Michael …«

»Geh zurück in den Wagen, Jamie. Schließ die Türen ab.« Er duckte sich vom Fenster weg und drückte den Rücken an die Hauswand.

Jamie erstarrte. »Was …?«

»Los. Jemand hat das Haus verwüstet. Geh!«

»Aber …«

»In den Wagen!« Sein rasiermesserscharfer Blick ließ sie zurückweichen. Schweiß brach ihr aus allen Poren und sie musste sich am Treppengeländer festhalten.

Er ist hier. Der Tätowierte. Er ist hier.

Sie stolperte die Treppe hinunter. Zu ihrem Erstaunen hatte Michael plötzlich eine Waffe in der Hand. Wo kommt die denn plötzlich her?

»Ab mit dir!«, zischte er noch einmal.

Sie warf sich herum und rannte los, sprang in den Wagen und schloss sich ein. Dann duckte sie sich, so gut es ging, unters Armaturenbrett und versuchte dabei, Michael im Blick zu behalten.

Chris? Oh, lieber Gott. Ist Brian etwas passiert?

Tränen strömten ihr über die Wangen. Die Stimme des Tätowierten hallte durch ihren Kopf. Verdammte Schlampe! Ihre Oberschenkel begannen wegen ihrer verkrampften Haltung zu zittern, ihr ganzer Körper bebte.

Michael rüttelte am Türknauf des Häuschens und stieß die Tür auf.

Nein! Geh NICHT da rein, Michael!

Wie ein Fernseh-Cop schob er sich mit vorgehaltener Waffe ins Haus.

Jamie hielt den Atem an. Ihr klingelten die Ohren vom angestrengten Lauschen. Aber sie hörte nur ihren eigenen Herzschlag. Ihr Blick hing an der offenen Tür, flog manchmal zu den Seiten des Hauses und suchte nach verdächtigen Bewegungen.

Nach gefühlten zehn Minuten stand Michael wieder vor dem Haus. Dabei war er in Wahrheit sicher nur dreißig Sekunden drin gewesen. Deutlich weniger angespannt inspizierte er die Büsche an den Seiten des Hauses, dann winkte er sie zu sich.

»Keiner da.«

Zittrig öffnete sie die Wagentür, blieb aber erst einmal sitzen. Im Augenblick traute sie ihren Beinen nicht. Michael kam mit der Waffe im Hosenbund zu ihr und griff nach ihren Händen.

»Du bist ja eiskalt.« Er rieb ihre Finger. »Ich wollte dir keine Angst machen. Ich wollte nur nicht, dass dir etwas passiert.«

»Du hast mir einen Höllenschreck eingejagt.« Jamie stieß den Atem aus. »Verdammt, das ist schon der zweite große Schock in zwei Tagen.« Ein Schauer überlief sie. »Und hier ist niemand? Wie sieht es drinnen aus?«

Michael knirschte mit den Zähnen. »Das Haus wurde komplett auf den Kopf gestellt. Aber nach einem Kampf sieht es nicht aus. Ich glaube, dein Bruder war schon weg.«

»Vielleicht hat er selbst das Chaos angerichtet, um eine falsche Spur zu legen.«

Michael schüttelte den Kopf. »Irgendwer hat alle Kinderzeichnungen von den Wänden gerissen und sie auf den Küchenboden geworfen. Ich glaube, so etwas würde kaum ein Vater tun. Eher jemand, der stinksauer ist, weil er nicht gefunden hat, was er sucht. Und im Badezimmer sind keine Zahnbürsten. Die nehmen die meisten Leute mit, wenn sie verschwinden.«

»Wir müssen die Polizei verständigen«, sagte Jamie. Vor ihren Augen lief ein Film ab, in dem der Tätowierte auf ihren Neffen und ihren Bruder losging. »O Gott. Ich hoffe, sie sind in Sicherheit.«

»Ich habe Sheriff Spencers Nummer. Ich rufe ihn gleich an. Und Callahan sage ich Bescheid, dass wir zu spät gekommen sind.«

»Hast du irgendwelche Fotos von Brian gesehen? Gibt es Bilder von den beiden?« Jamie wollte unbedingt das Gesicht ihres Neffen sehen.

Michael dachte kurz nach. »Nein. Aber ich habe auch nicht bewusst danach gesucht.«

Sie schaute zum Haus hinüber. »Glaubst du, ich kann da rein? Ich würde nichts anfassen. Nur schauen …«

»Keine gute Idee, Prinzessin. Da drin könnten Beweise sein, die die Polizei zu dem Tätowierten führen. Wir sollten lieber nichts durcheinanderbringen.« Michael ging seine Telefonkontakte durch.

»Ich schaue mir nur die Wände an und sehe mich ein bisschen um. Ein Foto könnte uns helfen, Brian zu erkennen, falls wir ihn ohne Chris irgendwo sehen. Wir waren so nah dran. Ich kann nicht fassen, dass wir die beiden verpasst haben.«

Michael sah ihr in die Augen und berührte dann zärtlich ihre Wange. »Ich kann dich verstehen. Okay, geh rein. Aber fass nichts an. Schau, wo du hintrittst, öffne keine Schubladen oder Schränke. Ich halte mich direkt hinter dir.« Er hob das Telefon und Jamie hörte leise den Klingelton.

Auf wackligen Beinen ging sie in das kleine Haus. Michael hatte recht. Jemand hatte ganze Arbeit geleistet. Das Chaos glich auf unheimliche Weise dem in ihrem eigenen Haus. Galle stieg ihr in die Kehle. Sie schluckte sie hinunter und konzentrierte sich darauf, nicht auf die auf dem Fußboden verstreuten Gegenstände zu treten. So gedämpft, als wäre sie unter einer Käseglocke gefangen, hörte sie Michael mit Sheriff Spencer sprechen. Langsam setzte sie ihren Rundgang fort.

Es gab tatsächlich keine Fotos. Sie blieb an der Tür zu Brians Zimmer stehen. Es erzählte von einem weltraumbegeisterten Jungen. Überall standen Sachbücher und Abenteuerromane über die Weiten des Alls. Von der Decke baumelte ein Modell des Sonnensystems, an den Wänden hingen Filmplakate von Weltraum-Kinohits. Jamie lächelte über das Muppets-Poster von Schweine im Weltall. Chris und sie hatten diese Folge der Muppet Show geliebt.

»Schweine im Weltall habe ich ewig nicht gesehen«, sagte Michael hinter ihr. »Mein Bruder und ich konnten damals gar nicht genug davon kriegen.«

»Wir auch nicht.« Jamie wandte sich um und versuchte zu lächeln. »Hier ist nichts. Dabei war ich fast sicher, dass wir Fotos von Brian finden. Chris lässt sich nicht fotografieren. Aber warum knipst er nicht wenigstens seinen Sohn?«

»Keine Ahnung.« Michael machte ein düsteres Gesicht. »Wir müssen zurück nach Demming.«

Jamie fiel auf, wie beklommen er war. »Was ist passiert?« Sie hielt den Atem an. Nicht Brian. Bitte sag jetzt nicht, dass ihm etwas zugestoßen ist.

»Spencer ist in der Stadt mit einem Mordfall beschäftigt. Dem ersten seit acht Jahren. Und er sagt, das Opfer sei ein Freund deines Bruders.«

 

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Vor dem Laden standen drei Streifenwagen des Countys und einer von der Staatspolizei. Nur das Schild mit der Aufschrift BÄCKEREI verriet, worum es sich bei dem schlichten kleinen Gebäude handelte. Nachbarn und Neugierige standen tuschelnd und gestikulierend auf dem Gehsteig. Einige wischten sich Tränen aus den Augen.

Michael warf einen Blick auf die Uhr an seinem nassgeschwitzten Unterarm. Es war zehn Uhr morgens und schon über dreißig Grad heiß. Willkommen in Ostoregon. Wenigstens ist es nicht schwül. So häufig, wie man diesen Satz hörte, hätte man ihn zum Staatsmotto machen können.

Die Stadtbewohner gingen ihm und Jamie aus dem Weg. Einige ertappte er bei neugierigen Blicken, andere bei feindseligen. Anscheinend wussten alle, dass sie nach Chris suchten. Und jetzt war Chris’ bester Freund ermordet worden. »Bester Freund« war vielleicht nicht ganz passend. »Der Einzige, mit dem Chris geredet hat«, traf es besser.

Auch die Cops und Deputys schauten zu ihnen herüber, als hätten Michael und Jamie persönlich das Verbrechen in diese sonst so friedliche kleine Stadt geschleppt. Mit einem stummen Seufzer legte Michael den Arm noch fester um Jamies Schultern. Seit er ihr von dem Mord erzählt hatte, schaute sie sich ständig um. Auf dem Weg in die Stadt hatte sie nicht viele Fragen gestellt. Und Michael hatte nicht viele Antworten parat.

Keine Spur von Chris und Brian.

Keine Spur vom Täter.

Michael wusste, dass sie dasselbe dachte wie er.

Ist uns von Portland aus jemand gefolgt? Haben wir jemanden zu Chris geführt?

Sheriff Spencer kam aus der Bäckerei, nahm den Cowboyhut ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Direkt hinter ihm erschien ein uniformierter Vertreter der Staatspolizei von Oregon. Michael fragte sich, für wie viele hundert Quadratmeilen er zuständig war. In diesem Winkel des Staates war die Personaldecke ziemlich dünn. Spencer suchte Michaels Blick und bedeutete ihm mit einer Kinnbewegung, zu ihm zu kommen. Michael machte sich mit Jamie auf den Weg.

»Brody, Ms Jacobs. Das hier ist Sergeant Tim Hove von der OSP.« Hove war klapperdürr und rothaarig. Sicher setzte die sengende Sonne Ostoregons seiner hellen Haut beträchtlich zu.

»Wer ist denn das Opfer?«, fragte Michael nach dem Händeschütteln.

Die beiden Polizisten tauschten lange Blicke aus. Dann sagte Spencer: »Juan Rios. Er war achtundsechzig, ihm hat die Bäckerei gehört. Wie früher sein Vater hat er jahrzehntelang direkt hinter dem Laden gewohnt. Allein. Von Angehörigen wissen wir nichts.«

Er atmete tief durch, sah erst Jamie an, dann Michael. »Jemand ist bei ihm eingebrochen. Das Türschloss wurde aufgehebelt. Kleinigkeit. Juan war auf einen Stuhl gefesselt. Er ist vom Scheitel bis zu den Zehen mit Wunden übersät, hat mindestens sechs gebrochene Finger und Brandwunden von Zigaretten auf beiden Wangen.«

Jamie schluckte hörbar und drückte sich enger an Michael. Er spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Michael selbst sah vor Wut rot.

Wenn ich die Chance dazu bekomme, bring ich Mr Tattoo um.

»Als Todesursache nehmen wir Strangulation an. Das Kabel liegt noch um seinen Hals. Aber warten wir ab, was der Gerichtsmediziner sagt. Anscheinend hat Juan Übernachtungsgäste gehabt. Wir vermuten, dass ein oder zwei Leute vor Kurzem in einem Zimmer im oberen Stock geschlafen haben.«

»Chris?«, fragte Jamie.

Sheriff Spencer schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Niemand weiß etwas darüber. Hier gingen immer alle davon aus, dass in dem Haus nur Juan übernachtet. Auf einem Tisch liegen Buntstifte. Bei einem Gast könnte es sich also um ein Kind gehandelt haben. Das würde wiederum auf Ihren Bruder hindeuten. Chris hat mit keinem sonst in der Stadt geredet.« Der Sheriff legte die Stirn in Falten. »Dass Ihr Bruder offenbar die Stadt verlassen hat, gefällt mir nicht, Ms Jacobs.«

Jamie richtete sich auf. »Sie glauben doch nicht etwa, dass Chris den alten Mann umgebracht hat? Das ist verrückt. Wozu sollte er einbrechen, wo Sie doch meinen, er könnte im Haus des alten Mannes übernachtet haben?« Sie schüttelte Michaels Arm ab und machte einen Schritt auf den Sheriff zu. »Chris’ Haus wurde komplett auf den Kopf gestellt. Genau wie meins. Wahrscheinlich steckt derselbe Typ dahinter. Und haben Sie nicht grade von Zigaretten-Brandwunden gesprochen? Was glauben Sie? Woher hat Chris die Narben am Hals und im Gesicht? Die sind Ihnen doch aufgefallen, oder?«

Die Miene des Sheriffs verfinsterte sich, aber er nickte.

»Er wurde als Kind von einem perversen Irren gefoltert. Und ich glaube, derselbe Wahnsinnige hat jetzt den alten Bäcker auf dem Gewissen und ist wieder hinter Chris her.«

»Aber wie ist der Killer auf die Bäckerei gekommen?«, fragte Michael. »Irgendwer muss ihn darauf gebracht haben. Hat in der Stadt jemand nach Chris gefragt? Ich meine, außer uns?«

»Das muss ich noch herausfinden«, sagte Sheriff Spencer. »Die Befragungen laufen.«

»Wir unterstützen Sie natürlich, wo wir können«, sagte Sergeant Hove.

»Sie setzen sich am besten gleich mit Detective Callahan von der Abteilung für Kapitalverbrechen in Portland in Verbindung«, sagte Michael zu dem OSP-Mann. »Er sucht im Zusammenhang mit mehreren Mordfällen nach dem Mann, der Jamies Haus auf den Kopf gestellt hat. Und ich glaube, sie hat recht: Wahrscheinlich haben wir es hier mit derselben Person zu tun. Mit einem kaltblütigen Killer, der seine Opfer mit brennenden Zigaretten quält.«

Sheriff Spencer lief knallrot an. »Augenblick mal. Von einem Mord war gestern nicht die Rede. Ich dachte, Sie suchen bloß Ihren Bruder. Was zum Teufel haben Sie mir verschwiegen?«

Michael schüttelte den Kopf. »Wir hatten keine Ahnung, dass sich der Kerl hier draußen rumtreibt. Wir dachten, er ist in Portland …«

»Augenblick.« Spencer beugte sich vor und betrachtete den Bluterguss an Jamies Wange. »Und jetzt bitte die ganze Geschichte. Und zwar von vorn.«

Michael begann mit den Ereignissen von vor zwanzig Jahren. Die Polizisten rieben sich den Nacken und traten von einem Fuß auf den anderen, als er schließlich endete.

»Heiliger Bimbam«, murmelte Spencer schließlich. »Wir müssen Chris finden, bevor es der Tätowierte tut.«

»Ich hätte nichts dagegen, wenn Mr Tattoo uns als Erster über den Weg läuft. Ganz und gar nicht.« Michael versuchte, den Ärger hinunterzuschlucken, der ihm die Kehle zuschnürte.

»Glauben Sie, Sie wurden von Portland aus verfolgt? Offensichtlich war schon vor Ihnen jemand bei Chris. Das ist sicher nur passiert, weil ich Ihnen geraten habe, bis zum Morgen zu warten, damit Sie den Weg finden. Ist Ihnen da draußen irgendwer aufgefallen?«, fragte Sheriff Spencer.

Michael schüttelte den Kopf und sah Jamie an. Sie sah aus, als würde sie sich gleich übergeben. Die Angst, sie könnten den Mörder zu ihrem Bruder und ihrem Neffen geführt haben, saß ihr in den Gliedern.

»Ich habe versucht, Chris übers Internet zu finden. Über die üblichen und einige unübliche Kanäle. Aber es ist mir nicht gelungen. Dass ihn jemand aufgestöbert hat, ohne uns zu folgen, halte ich für ausgeschlossen.«

»Kennen Sie jemanden, der auch hierher unterwegs war? Haben Sie jemandem von Ihren Plänen erzählt?«, fragte Hove.

Michael schüttelte den Kopf. »Detective Callahan wusste, dass wir eine ziemlich heiße Spur verfolgen. Aber wir haben nicht über Einzelheiten gesprochen.« Michael lächelte schief. »Sobald ich etwas Handfestes habe, gebe ich Callahan Bescheid; das weiß er. Aber handfest bedeutet, dass ich Chris in die Augen geschaut und ihm die Hand geschüttelt habe, um sicher sein zu können, dass er es auch ist. Druckreif sind meine Informationen erst nach dreimaliger Überprüfung.«

»Druckreif?« Hove runzelte die Stirn.

Michael schaute dem rothaarigen Polizisten in die Augen. »Ich bin Reporter beim Oregonian. Aber ich will keine Story, sondern Antworten in einer persönlichen Angelegenheit. Ich suche meinen Bruder.«

Er spürte, wie Jamie nach seiner Hand griff und sie drückte.

Hoves Gesicht wurde eine Spur freundlicher.

Michael würde Chris finden, und Chris würde ihm sagen, was mit Daniel passiert war.

 

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Jamie wollte den ermordeten alten Mann nicht sehen. Die Beschreibung des Sheriffs reichte ihr voll und ganz. Und sie war sicher, dass sie mit ihrer Vermutung, wer der Täter war, richtig lag. Es musste der Typ sein, der sie überfallen hatte.

Die Cops könnten jetzt auch in meinem Haus stehen und untersuchen, wie ich gestorben bin.

Jamies Brust bebte. Sie versuchte, ruhig zu atmen. Sie hatte sich gegen den Tätowierten gewehrt. Sie hatte überlebt.

Aber ist es möglich, dass er noch einmal zugeschlagen hat? Hat er jetzt Chris und Brian in seiner Gewalt?

Sie schloss die Augen, ließ das Gerede der Polizisten an sich vorbeiziehen und atmete Michaels Geruch ein, seine Energie. Das beruhigte sie und machte ihr Mut. Er war eine Kraftquelle, die sie nur berühren musste, um sich aufzuladen. Ihr Handy klingelte. Sie trat ein Stück beiseite. Das Display zeigte Detective Callahans Nummer. Ihr Herz schlug schneller und ihre Finger krallten sich um das Telefon.

»Hallo Detective.«

»Ms Jacobs. Tut mir leid, wenn ich störe. Ich wollte …«

»Detective? Hat Ihnen schon jemand gesagt, was passiert ist? Dass in Demming ein Mann ermordet wurde?«

»Was?«

Jamie schloss die Augen. »Das dachte ich mir. Michael hat dem OSP-Sergeant gerade erst gesagt, dass er sich mit Ihnen in Verbindung setzen soll.«

»Was zum Teufel ist passiert?« Callahan brüllte fast.

»Die Einzelheiten erfahren Sie sicher von der Polizei. Die Kurzfassung lautet so: Wir haben Chris’ Haus gefunden, und es wurde genauso auf den Kopf gestellt wie meins. Chris und sein Sohn waren weg.« Ihr Herz pochte jetzt so heftig, als wollte es ihr aus der Brust springen. »Heute Morgen wurde hier in Demming Chris’ Freund gefunden. Ermordet. Er wurde … gefoltert. Anscheinend war Chris gestern noch bei ihm. Aber ich weiß, dass er es nicht getan haben kann. Ich glaube, es war derselbe Kerl …«

»Der Tätowierte? Sie glauben, er war dort?«

»Ja.« Jamie war froh, dass Callahan ihren Gedankengängen folgen konnte.

»Kacke. Meinen Sie, er ist Ihnen gefolgt?«

»Keine Ahnung. Ich habe niemandem gesagt, wohin wir fahren. Und Michael auch nicht. Ich habe nur eine Nachbarin gebeten, meine Katze zu füttern. Mehr nicht. Außerdem hatten wir es ziemlich eilig.«

Jamie hörte, dass Callahan mit jemandem im Hintergrund sprach. Eine männliche Stimme brummte eine Antwort. Dann wandte Callahan sich wieder an sie. »Wer ist denn von der OSP vor Ort?«

Jamie konnte sich beim besten Willen nicht an den Namen des Polizisten erinnern. Mit zusammengekniffenen Augen fixierte sie sein Namensschild. »Hove.«

»Okay. Ich rufe ihn an. Aber zuerst habe ich eine Frage an Sie: Denken Sie an den Tätowierten. Was ist Ihnen noch aufgefallen?«

Jamies Gedanken jagten. »Eigentlich nichts. Nichts, was ich nicht schon gesagt hätte.«

»Ich habe mir Ihre Aussage noch einmal angesehen«, sagte Callahan nach einer kurzen Pause. »Sie meinten, sein Haar sei gefärbt und er würde farbige Kontaktlinsen tragen.«

»Das glaube ich immer noch. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll …«

»Sie hatten das Gefühl, dass die Farben unnatürlich waren.«

»Ja. Genau.«

»Was ist mit seiner Hautfarbe?«

Jamie dachte angestrengt nach. »Seine Kleidung hat so ziemlich alles verdeckt …«

»Aber seine Hände haben Sie doch gesehen. Die Handgelenke mit den Tätowierungen.«

Die Schriftzeichen standen Jamie deutlich vor Augen. Sie versuchte, sich seine Finger vorzustellen. Blass. Pinkfarbene Fingerspitzen. Fast durchsichtige Hände. »Sehr hellhäutig, würde ich sagen. Sehr, sehr weiß und blass.«

»Unnatürlich blass?« Callahan ließ nicht locker.

Sie dachte an das Gesicht des Angreifers. »Ob sein Gesicht auch so hell war, weiß ich nicht mehr.«

»Konnten Sie seinen Hals sehen?«

Jamie erschauerte. Sie sah eine wütende Fratze vor sich, mit hasserfüllten Augen …

»Sein Hals war auch ungewöhnlich hell, glaube ich. Blasser als das Gesicht. Aber das ist ja bei den meisten Leuten so.«

»Ms Jacobs, halten Sie es für möglich, dass er ein Albino ist? Versuchte er, das zu verbergen?«

Sie riss die Augen auf. Ein Albino? Ihr Gehirn machte eine Vollbremsung. »Ja, das würde alles erklären. Das Haar, die Augen, die langen Ärmel und Hosen. Das könnte ich mir gut vorstellen.«

»Ich wollte Ihnen den Gedanken nicht unterschieben«, sagte Callahan. »Ich wollte sehen, ob sie selbst darauf kommen.«

»Wie kommen Sie auf die Frage, Detective?« Hat ihn sonst noch jemand gesehen?

»Wir haben die Polaroid-Aufnahmen aus dem Bunker. Aber wir waren so auf die Tätowierungen fixiert, dass wir auf die ungewöhnliche Hautfarbe nicht geachtet haben.«

»Ich würde sagen, er hat gelernt, nicht aufzufallen«, sagte Jamie. »Dass er ein Albino sein könnte, kam mir gar nicht in den Kopf. Aber irgendetwas an ihm war anders.«

»Ich melde mich später bei Hove. Irgendeine Spur von Ihrem Bruder?«

»Nein, noch nicht. Jemand muss ihn vor dem Tätowierten warnen. Aber vielleicht weiß er schon, dass der Typ hinter ihm her ist.«

»Ich würde sagen, er weiß es, Ms Jacobs.«

 

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»Was für ein Scheißkerl.« Mason schüttelte den Kopf. »Ich glaube, der tätowierte Freak ist ihnen nach Ostoregon gefolgt.«

»Hört sich ganz so an«, sagte Ray. »Ich denke nicht, dass jemand wusste, wohin sie unterwegs waren. Es sei denn, Brody hat über seine Pläne gesprochen.«

»Brody sagt nie jemandem irgendwas.«

»Auch wieder wahr. Was ist mit Jamie? Hat sie über ihre Pläne gesprochen?«

»Sie meint, nein. Sie hat die Nachbarin gebeten, ihre Katze zu füttern, ihr aber nicht gesagt, wohin sie will.«

»Dann wurden sie verfolgt oder der Typ hat Chris Jacobs selbst gefunden.«

»Am selben Tag?« Mason bezweifelte es. »Nicht mal wir konnten Jacobs lokalisieren. Und das, obwohl wir das beste Computersystem der Welt haben.«

Ray schnaubte.

»Egal. Wo zum Teufel ist Chris Jacobs jetzt und wo ist der Tätowierte? Einen Toten hat es bereits gegeben. Es dürfen nicht noch mehr werden. Ich muss diesen Hove anrufen.«

»Hove? Tim Hove?« Ray horchte auf.

»Keine Ahnung.«

»Den kenne ich noch vom Streifendienst. Guter Mann. Ich glaube, der fühlt sich draußen in der Pampa ganz wohl.«

Ray kannte einfach jeden.

»Ms Jacobs findet unsere Albino-Theorie ziemlich einleuchtend. Wir könnten es wirklich mit demselben Typen zu tun haben wie vor zwanzig Jahren und nicht mit mehreren Leuten mit ähnlichen Tattoos. Jetzt wüsste ich nur gerne, was genau die am Tatort in Demming vorgefunden haben.«

»Glaubst du, wir müssen hinfahren?« Ray klang wenig begeistert.

Mason sah keinen Grund, ihre Zeit auf der Straße zu verplempern. »Wir reden mit Hove und dem Luna-County-Sheriff. Vielleicht haben wir Glück, und die finden etwas, was uns weiterbringt.«