Kapitel 16
Jamie ließ sich auf das Bett in der Frühstückspension plumpsen. Hier oben im Zimmer war es sicher zehn Grad wärmer als unten im Haus. Schon auf der Treppe hatte sie den Temperaturanstieg gespürt. Die Pension war heimelig und gemütlich, aber in gewissen Momenten wünschte man sich ein modernes Hotel mit einer leistungsstarken Klimaanlage, einer Kaffeemaschine und einem flotten Zimmerservice mit Käsekuchen.
»Ich bin platt«, sagte sie. »Und hier drin ist es verdammt warm.«
»Suchst du jetzt schon nach einer Ausrede, um nicht mit mir schlafen zu müssen?« Michael drückte ein paar Knöpfe an der altertümlichen Klimaanlage. »Ich dachte, das kommt erst im fortgeschrittenen Stadium einer Beziehung. Oder sind es dann die klassischen Kopfschmerzen?«
Jamie musste lachen. Sie konnte nicht anders. So viel Offenheit war entwaffnend. »Seit ich erfahren habe, dass zwei Menschen ermordet wurden, habe ich ehrlich gesagt andere Dinge im Kopf. Ich weiß schon gar nicht mehr, welche Gefühle ich haben soll. Chris und Brian sind weg. Zwei Menschen sind tot – womöglich umgebracht von demselben Typen, der gestern auf mich losgegangen ist. Soll ich nun Angst haben, besorgt sein oder wütend?«
»Du willst wissen, was du empfinden sollst? Wahrscheinlich ist jedes dieser Gefühle eine passende Reaktion auf das, was du erlebt hast. Du musst dir weder eins davon aussuchen noch einen Zeitplan aufstellen, wann welches an der Reihe ist.«
Jamie lachte Tränen. Er hatte recht. Und er hatte genau durchschaut, wie sie in Stresssituationen reagierte. »Du bist gut für mich. Weißt du das?«
»Klar doch. Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, wusste ich sofort, dass ich eine Frau vor mir habe, die dringend mehr lachen muss und ein bisschen Abwechslung braucht. Also habe ich mir vorgenommen, dich ein bisschen lockerer zu machen. Nicht alles im Leben muss geplant sein.«
»Ich mag nun mal Ordnung. Ich weiß gerne, was als Nächstes passiert und stehe nicht auf Überraschungen. Überraschungspartys fand ich schon als Kind zum Davonlaufen.«
Michael hob verblüfft den Kopf. »Es gibt jemanden, der keine Überraschungsfeten mag?«
»Ja. Mich.« Sie meinte es ernst. »Damals wollte ich mich immer am liebsten verstecken und das hat sich nicht geändert. Ich stehe nicht gern im Mittelpunkt. Speziell, wenn ich nicht damit gerechnet habe.«
»Aber du verdienst es, im Mittelpunkt zu stehen. Immer und überall.«
Michael warf sich mit einem vollendeten Bauchplatscher neben ihr aufs Bett. Dann zog er sie in seine Arme und hielt sie einfach nur fest. Sie sog seinen Geruch ein und merkte, wie sie das beruhigte. Die Hauptnote war wie immer Sonnenschein. Mit einem Hauch Schweiß und salzigem Männerduft, der ihre Hormone wach küsste. Er vergrub die Nase an ihrer Wange.
»Aber bitte keine Überraschungspartys, okay?«
»In Ordnung. Ich sage dir immer Bescheid, bevor ich dich überrasche.«
»Na ja, kleine Überraschungen sind okay. Schokolade zum Beispiel. Die darfst du mir jederzeit ohne Vorankündigung schenken.«
»Gut zu wissen.« Er drückte das Gesicht an ihres und küsste sich an ihrem Kieferknochen entlang bis zum Ohr.
Er hat kein Wort von dem gehört, was ich gesagt habe.
»Dass wir mitten in der Pampa sind, macht gar nichts. Hauptsache, wir sind zusammen.« Seine Lippen wanderten zu ihrem Mund.
Himmel noch eins, Michael konnte küssen. Seine Lippen waren gleichzeitig fest und zart, sein Vorgehen bestimmt und doch behutsam. Er war genauso impulsiv wie intelligent und in vielerlei Hinsicht der personifizierte Widerspruch. Jamie wusste, dass sie dabei war, ihm mit Haut und Haaren zu verfallen. Er war so anders als die soliden, bodenständigen Männer, mit denen sie sich bisher verabredet hatte. Michael machte ihr Leben aufregender und abwechslungsreicher. Aber wie lange konnte das gut gehen?
Egal. Genieß den Augenblick.
»Apropos Schokolade. Hast du Hunger?«, fragten seine Lippen an ihrem Nacken. Er hatte die Stelle an ihrem Haaransatz gefunden, von der aus ihr wohlige Schauer über den Rücken jagten.
»Wie ein Wolf.«
Er hob den Kopf. »Ich auch. Ich bin schon ganz gaga.«
Jamie wollte seinen Mund wieder auf ihrem Nacken haben. »Sollen wir vorher essen?«
Er nickte widerstrebend. »Das ist zwar lästig, aber sicher besser. Wenn wir jetzt hier liegen bleiben, könnte sich das hinziehen. Und womöglich klappen die in diesem Kaff bei Sonnenuntergang die Bürgersteige hoch. Dann könnten wir uns nur noch im Minimarkt etwas holen.«
Jamies Magen knurrte entrüstet.
Michael lachte. »Mein Magen protestiert auch schon. Genau wie gewisse andere Körperteile.« Er entknotete ihre ineinander verflochtenen Glieder. »Verdammt, eigentlich will ich gar nicht weg.«
»Die Enchiladas gestern waren himmlisch.« Jamie blinzelte unschuldig.
»Du bist hinterhältig und gemein.« Michael stand auf und beugte sich, die Hände links und rechts neben ihr Gesicht gestützt, über sie. »Ruh dich ein bisschen aus. Ich hole dir was zu essen und anschließend kannst du dich dann um mich kümmern. Einverstanden?«
Jamie schaute in die grünen Augen dicht über ihren und spürte, wie ihr Herz sich weitete. Dieser Mann schlich sich immer tiefer in ihr Herz. »Holst du dir für dich nicht auch was?«, frotzelte sie.
»Jetzt, wo du es sagst …«
Sie hob den Kopf und küsste ihn. »Du bist unglaublich, weißt du das?«
»Jepp. Ich bin der Beste.« Er gab ihr einen heißen Kuss und Jamie verschmolz unter seinen Lippen mit dem weichen Bett.
Langsam hob er den Kopf und schaute ihr in die Augen. »Ich bin gleich wieder da.« Wie ungern er sie jetzt allein ließ, war ihm deutlich anzusehen. »Nicht weglaufen.«
Jamie sah zu, wie die Tür sich hinter ihm schloss. Dann sank sie wieder in die Kissen, starrte an die Decke und seufzte. Michael half ihr, mit einem der dunkelsten Momente ihres Lebens klarzukommen. Herrje, sie hatte sich schwer verliebt. Und das, obwohl sie mit dieser Sorte Mann bisher nie etwas zu tun gehabt hatte. Aber egal: Es fühlte sich himmlisch an.
Auf dem Rückweg zur Pension hatte Michael Mühe, sich nicht zu besabbern. Die Essensdüfte aus den Behältern in seinen Händen waren betörend. Sein Magen hatte auf Dauerknurren gestellt. Michael hatte einfach dasselbe bestellt wie am Vortag. Nur zu gern erinnerte er sich an den geschmolzenen Käse, das würzige Fleisch … und an die Nacht mit Jamie.
Jamie Jacobs war offenbar die eine, die man nur einmal im Leben findet. Er hatte nicht geglaubt, dass es das tatsächlich gab. Jahrelang hatte er nur Augen für Lacey Campbell gehabt. Aber aus seiner jetzigen Sicht erschien ihm das wie eine Teenagerliebe. Er war völlig von Sinnen um sie herumgetrabt. Sie hatte ihn geliebt – aber wie einen Bruder. Und inzwischen waren seine Empfindungen für sie tatsächlich brüderlich.
Danach war Sam gekommen. Sie wohnte nur eine oder zwei Autostunden von Demming entfernt. Ein paar Wochen lang war es mit ihnen ganz gut gelaufen. Aber Sam war geschäftlich sehr eingespannt und hatte wenig Zeit. Außerdem hätte sie ihr Leben in der Provinz nie aufgegeben. Und Michael hätte nie in ein Kaff ziehen können, dessen einziges Kino nur einen Saal hatte, nur am Wochenende geöffnet war und die neusten Filme erst sechs Monate nach ihrem Erscheinen zeigte. Vermutlich war Sam für ihn eine Art Rettungsanker gewesen, als Lacey sich in Jack Harper verliebt hatte.
Und jetzt gab es Jamie.
Klug, sexy und gerade dabei, aus ihrem Schneckenhaus zu kriechen. In diesem Schneckenhaus stocherte er herum, weil er ahnte, dass die Frau darin nur darauf wartete, es endlich zu sprengen. Er mochte die zugeknöpfte Jamie, die strenge Schuldirektorin. Aber falls sie eines Tages mit Bibliothekarinnen-Dutt, Lesebrille und hochgeschlossener Bluse vor ihm stünde, würde es ihn all seine Beherrschung kosten, ihr nicht die Kleider vom Leib zu reißen und sie in die Jamie in der heißen schwarzen Unterwäsche zu verwandeln. In der vergangenen Nacht hatten sie sich beide lustvoll dem Strudel der Hormone überlassen. Michael vermutete, dass Jamie sich so etwas nur ganz selten gestattete. Aber, verdammt, er war froh, dass sie es getan hatte. Sie hatte sich ihm völlig geöffnet und ihm die weiche und verletzliche Seite gezeigt, die unter der harten Direktorinnen-Schale schlummerte. Und die heißen wilden Seiten, von denen jeder Kerl nur träumen konnte.
Eine Frau wie Jamie Jacobs ließ man nicht wieder gehen.
Chuck winkte ihm zu und Michael winkte zurück. Dann rannte er die ächzenden alten Holzstufen hinauf. Zum Plaudern hatte er jetzt keine Zeit. Er hatte nur eins im Kopf. Oder besser gesagt: erst essen, dann das eine. Er balancierte die Essensbehälter in einer Hand und grub mit der anderen in seinen Shorts nach dem Schlüssel.
Als er ihn ins Schloss steckte, schwang die Tür schon auf.
Seine Sinne schalteten auf Alarmstufe rot. Michael schob sich ins Zimmer. Niemand da. Er stellte das Essen ab und schaute sich um. »Jamie?«
Die Tür zum Badezimmer stand offen. Er schaute in die Dusche. Keine Jamie.
»Jamie?«
Jetzt brach ihm der Schweiß aus den Poren. Sie ist nur kurz an die frische Luft gegangen.
Michael schob die Spitzengardinen beiseite und warf einen Blick in den von einer Hecke umgebenen Garten. Das Tor in der Hecke stand zur Seitengasse hin offen, die Tische und Stühle auf der Terrasse waren leer. Nirgendwo eine Frau mit langem, dunklem Haar. Alles still.
Zu still.
Er rannte hinunter in die Lobby.
»Haben Sie Jamie gesehen?«, fragte er Chuck. Der alte Mann brachte gerade ein Bücherregal in Ordnung. Michaels Atem flog wie nach einem Sprint. Er zwang sich, gleichmäßig Luft zu holen. O Mann, jetzt bloß nicht den Kopf verlieren.
Chuck drehte sich schwerfällig um. »Nein, ich habe sie nicht runterkommen sehen. Aber vor einer Weile hat jemand angerufen. Ich habe das Gespräch zum Zimmer durchgestellt. Danach hat es bei mir nicht mehr geklingelt. Es muss wohl jemand abgenommen haben.«
»Ein Anruf? Wer war das? Wie lange ist das her?«, bellte Michael.
Chuck zog ein nachdenkliches Gesicht. »Zwanzig Minuten vielleicht. Oder ein bisschen länger. Ich kann Ihnen nur sagen, dass es eine männliche Stimme war und dass sie nach Jamie Jacobs gefragt hat.«
»Eine junge Stimme oder eine alte?« Michaels Herz machte unkontrollierbare Sprünge.
Chuck zuckte die Schultern. »Weder noch?«
»Wo ist Ihr Telefon? Die Nummer des Anrufers ist sicher gespeichert.« Michael ging Richtung Büro.
Chuck lachte auf. »So ein neumodisches Telefon habe ich nicht.«
Michael erstarrte. »Keine Anruferkennung? Im Ernst?«
»Im Ernst. Und auch keine Warteschleife. Die fand ich schon immer ziemlich unhöflich.«
Michael atmete aus. »Und sie war nicht hier unten?«
»Ich musste zwischendurch immer mal wieder raus. Vielleicht war sie hier, aber ich habe sie nicht gesehen.«
»Als ich gegangen bin, waren Sie im Büro.«
Chuck nickte. »Ich habe Schreibkram erledigt, aber die Ohren offen gehalten, falls jemand kommt. Schritte höre ich nicht mehr so gut. Deshalb steht ja die Klingel an der Rezeption.«
Michael schluckte und sah sich um. Die Lobby war das ehemalige Wohn- und Esszimmer des Hauses. Die Rezeption befand sich in der Ecke schräg gegenüber der Eingangstür.
Hinter einer Schwingtür lagen Chucks Büro und eine kleine Küche. Wenn Chuck dort drin war, konnte eine Herde Mustangs durch die Lobby galoppieren, ohne dass er etwas davon mitbekam.
»Macht es Ihnen was aus, wenn ich einen Blick in die Küche werfe?« Michael war schon durch die Schwingtür, bevor Chuck etwas sagen konnte. Ein schneller Blick ins Büro und in die blitzsaubere Küche – auch dort war Jamie nicht. Chucks Telefon sah tatsächlich aus wie aus den 1970ern.
Michael verließ die Pension durch den Haupteingang und sah sich draußen auf der Veranda nach Jamie um. Nichts. Er ging wieder hinein und stieß dabei beinahe mit Chuck zusammen.
»Was ist passiert, mein Junge? Sie sehen aus, als würden Sie gleich jemandem an die Gurgel gehen.«
Was für eine Untertreibung. »Ich kann sie nicht finden.«
»Weit weg kann sie nicht sein. Wo soll sie hier schon hin?«, fragte Chuck sachlich.
Michael schüttelte den Kopf. »Sie hat auf mich gewartet. Sie wäre nicht einfach weggegangen.« Er schaute auf die Uhr. »Ich muss Sheriff Spencer anrufen. Da stimmt was nicht.« Er ließ Chuck in der Lobby zurück und polterte die Stufen hinauf. »Würden Sie bitte die Gäste hier unten fragen, ob jemand sie gesehen hat?«, rief er Chuck von der Treppe aus zu.
Die Zimmertür stand noch offen. Hoffnungsvoll warf er einen Blick in den Raum … Leer. Er rannte den Flur entlang und klopfte hektisch an die drei anderen Türen. Eine davon öffnete sich und eine Frau mittleren Alters schaute heraus. Mit ihrer dicken Brille erinnerte sie Michael an eine Eule.
»Chuck?«, fragte sie.
»Chuck ist unten.« Michael deutete auf seine Tür. »Wir haben das Zimmer neben Ihnen und ich suche meine Freundin. Haben Sie sie gesehen?«
Das Eulengesicht verfinsterte sich schlagartig, die Nase schoss nach oben. »Nein. Aber letzte Nacht habe ich sie gehört. Sie übrigens auch. Ich hätte Chuck gerufen, aber ich hätte es unhöflich gefunden, ihn auch noch aufzuwecken.« Die Eule schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
»Ähm … tut mir leid«, sagte Michael zu der geschlossenen Tür. Dann pochte er noch einmal an die beiden anderen. Keine Antwort.
»Scheiße.« Er rannte die Treppe hinunter. Das Herz hämmerte in seiner Brust und das kam nicht vom Treppensteigen.
Chuck stand in der Lobby. »Ich habe alle gefragt. Keiner hat sie gesehen.«
»Wie zum Teufel kann sie einfach hier rausmarschieren, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt?« Michael riss das Handy aus der Tasche und wählte Sheriff Spencers Nummer.
»Na ja, die Gäste haben ferngesehen. Und darauf, was die anderen machen, achtet hier keiner.«
Quatsch. Jamie und er wurden seit ihrer Ankunft auf Schritt und Tritt beobachtet. Irgendwer musste sie doch gesehen haben.
»Spencer«, meldete sich der Sheriff.
»Sheriff, hier Brody. Jamie ist verschwunden.«
»Was?«
»Wir waren bei Chuck. Ich habe uns was zu essen geholt, und als ich zurückkam, war sie weg. Chuck sagt, vor einer Weile hätte ein Mann im Zimmer angerufen. Verdammt, ich glaube, er hat sie.« Michaels Gehirn wehrte sich mit aller Macht gegen diesen Gedanken. Bisher hatte er ihn noch von sich geschoben, aber jetzt, wo er ihn laut ausgesprochen hatte, setzte er sich fest.
»Der Tätowierte? Sind Sie sicher? Vielleicht ist sie kurz was einkaufen gegangen. Sie muss irgendwo sein. Zeigt das Telefon an, wer angerufen hat?«
»Wollen Sie raten, wie alt Chucks Telefonanlage ist?« Michael rannte mit dem Handy am Ohr aus der Tür und die Straße entlang zu dem kleinen Supermarkt. »Ich schaue im Laden nach. Aber ich sage Ihnen, sie würde nicht einfach so weggehen.«
»Ich bin immer noch bei den Buells. Verflucht, der Junge wurde regelrecht hingerichtet. Ein einzelner Schuss in den Hinterkopf. Und ich muss jetzt der weinenden Mutter erklären, warum ihr Sohn umgebracht wurde. Soll ich ihr sagen, er hätte nicht mit Fremden sprechen sollen? Eine meiner Mitarbeiterinnen versucht es mit Umarmungen und Taschentüchern. Aber die Frau weiß sich langsam nicht mehr zu helfen, weil die Mutter völlig außer sich ist. Die Staatspolizei sichert noch die Beweise in der Garage. Die Sachlage ist eindeutig, aber ich habe das Gefühl, der Kerl hat sämtliche Spuren beseitigt.«
»Meine Güte.« Michael wollte sich den Teenager auf dem Garagenboden und die verzweifelte Mutter gar nicht vorstellen. Außerdem hatte er Jamie im Kopf und damit kaum Platz für irgendetwas anderes. Er riss die Tür des Supermarkts auf und suchte in den wenigen Gängen nach Jamies dunklem Schopf.
Nichts.
»Kann ich Ihnen helfen?« Eine Verkäuferin lehnte mit einem Nagellackpinsel in der Hand an der Theke. Die Finger der anderen Hand waren zum Bemalen gespreizt. Als Michael in den Laden gestürzt war, waren ihre Augenbrauen in die Höhe geschnellt. Am Vortag hatte Michael sie hier nicht gesehen.
»War in den letzten zwanzig Minuten eine Frau mit langem, schwarzem Haar hier drin?«
Die Verkäuferin schüttelte den Kopf. »Der letzte Kunde war vor einer Stunde da.« Die Hand mit dem Pinsel hing immer noch in der Luft. »Brauchen Sie was?«
»Nein.«
»Okay.« Sie konzentrierte sich wieder auf ihre Nägel.
Michael verließ den Laden. »Im Supermarkt ist sie nicht«, sagte er ins Telefon. Er warf einen Blick die Straße entlang und wechselte die Seite, um besser in die andere Richtung sehen zu können.
Die tief stehende Sonne und die länger werdenden Schatten erschwerten ihm die Sicht.
Wo ist sie?
Spencer redete mit jemandem im Hintergrund.
»Spencer!«
»Ja?« Die gestresste Stimme des Sheriffs tönte jetzt wieder klar aus dem Telefon.
»Sie war nicht im Supermarkt und auf der Straße sehe ich sie auch nicht.«
»Haben Sie versucht, sie anzurufen?«
Verdammt! Warum habe ich nicht daran gedacht? Michael joggte zur Pension zurück. »Das mache ich gleich.«
»Okay«, sagte Spencer. »Sobald ich hier jemanden entbehren kann, schicke ich ihn vorbei.«
Michael wollte niemanden von den Mordermittlungen abziehen lassen und eine Handvoll Landpolizisten konnte ihm jetzt auch nicht helfen. »Geben Sie es einfach weiter. Hoves Leute sollen die Augen offenhalten.«
»Wird gemacht.«
Michael drückte das Gespräch weg und wählte Jamies Nummer. Nach dem fünften Klingeln meldete sich die Mailbox. Enttäuscht, dass er nur die Computerstimme und nicht ihre echte hörte, legte er auf. Er flog die Stufen zur Pension hinauf, durch die Tür und durch die Lobby. Dann hastete er nach oben. Die Zimmertür stand immer noch offen. Drinnen stieß er schon zum zweiten Mal an diesem Tag beinahe mit Chuck zusammen.
»Vor einer Minute hat hier ein Handy geklingelt«, erklärte Chuck.
Jamies Telefon?
Michael drückte noch einmal die Anruftaste. Aus dem Nachtkästchen ertönte eine zarte Melodie. Er riss die Schublade auf und starrte auf das vertraute Smartphone.
Sie hatte ihr Telefon nicht mitgenommen. Und daneben lag ihr Geldbeutel.
Michael wählte Mason Callahans Nummer.