Kapitel 20
Jamie lag in einem Kofferraum und wurde in dem brütend heißen Kasten langsam gar gekocht. Zum Glück war es spät am Abend und die sengende Sonne knallte nicht direkt auf die Karosserie. Die Hitze stieg vor allem von der aufgeheizten Teerfläche unter dem Wagen auf und drang durch das Bodenblech.
Ein Klebeband verschloss ihren Mund. Ihre Hände waren auf dem Rücken gefesselt, die Füße zusammengeschnürt. Wütend trat sie gegen die Bordwand des Fahrzeugs und dahin, wo sie das Rücklicht vermutete. Direkt über ihrem Kopf gab es einen beleuchteten Hebel, mit dem sich der Kofferraum im Notfall von innen öffnen ließ. Eine Sicherheitsvorkehrung, falls Kinder sich aus Versehen einsperrten.
Dieser Hebel war purer Hohn.
Jamie versetzte dem Rücklicht weitere Tritte. Sie hatte einmal von jemandem gehört, der es aus der Fassung getreten und andere Fahrer mit Fußwinken auf sich aufmerksam gemacht hatte. War das eine wahre Geschichte oder ein modernes Märchen? Egal. Im Augenblick konnte sie, verdammt noch mal, nichts anderes tun. Der Wagen klang schnell. Seit sie vor einigen Minuten zu sich gekommen war, hatte es weder Kurven gegeben noch Bremsmanöver. Vermutlich rasten sie einen Highway entlang. Neunzig Prozent aller Straßen im Osten Oregons waren lange, gerade Fernstraßen.
Verbissen trat sie erneut zu. Ihre Beine hatten sie schon einmal gerettet. Sie hatte mit ihren Tritten den Tätowierten verjagt. Vielleicht halfen sie ihr jetzt wieder. Der Schweiß, der ihr in die Augen lief, brannte gemein.
Verdammt.
Was dachte Michael jetzt? Ihre Augen tränten. Wie hatte er reagiert, als sie bei seiner Rückkehr nicht im Hotelzimmer gewesen war? Panisch? Sauer? Er musste doch ahnen, dass sie nicht freiwillig weggegangen war.
Aus freien Stücken würde sie nie mehr von Michael Brodys Seite weichen. Er brachte sie zum Lachen und ließ sie die Welt mit anderen Augen sehen. Er zeigte ihr, dass Regeln nicht alles waren. Dass man sich nicht immer an alle halten musste, wie sie es jahrelang getan hatte. Michael hatte ihr die Augen geöffnet. Und das Herz. Sie hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt.
Würde sie noch eine Chance bekommen, mit ihm zusammen zu sein?
Oder würde man ihre Knochen in ein paar Jahren in einer Grube finden?
Es tut mir so leid, dass ich dir Sorgen mache, Michael.
Sicher suchte er fieberhaft nach ihr. Er wusste genau, warum sie nicht im Zimmer auf ihn wartete. Und dass ihre Überlebenschancen äußerst gering waren.
Der Tätowierte hinterließ keine Zeugen.
Sie rieb sich an dem rauen Teppich das Haar aus dem Gesicht. Es klebte an ihrer Haut, als wäre sie ins Wasser gefallen. Wenn sie bloß genügend Luft bekommen könnte. Nur durch die Nase zu atmen, ohne in Panik zu geraten, war nicht leicht. Gleich als sie zu sich gekommen war, hatte sie Angst gehabt zu ersticken. Ihr Körper hatte nach Sauerstoff geschrien, vor ihren Augen hatten Sternchen getanzt. Aber sie hatte gegen die Panik angekämpft und sich gezwungen, ruhig zu bleiben. Zum Glück litt sie nicht unter Klaustrophobie. Im Augenblick hatte sie genügend andere Probleme.
Sie hörte auf zu treten und konzentrierte sich wieder auf ihre Atmung. An ihrer Hüfte hatte sich durch die Reibung bei ihren hektischen Bewegungen bereits eine wunde Stelle gebildet. Die schmerzte jetzt, ihre Hände waren taub und sie lag in einer Schweißpfütze. Die Temperatur im Kofferraum war beinahe unerträglich. Und durch das Herumgezappel wurde alles nur noch schlimmer.
Aber sie war noch am Leben.
Anders als die anderen Opfer des Tätowierten. Der arme alte Bäcker. Und was war mit Chris? Mit Brian? Ging es ihnen gut?
Vermutlich hat er mich geholt, weil er Chris nicht finden kann.
Sie betete, dass es so war.
Als das Telefon in ihrem Zimmer geklingelt hatte, hatte sie geglaubt, es sei Chuck. Stattdessen hatte ein anderer Mann in den Apparat geflüstert.
»Jamie? Geht es dir gut?«
Jamie hatte sich mit dem Handy am Ohr auf dem Bett aufgesetzt. Chris?
»Chris? Bist du das?«
»Pst. Ich kann jetzt schlecht reden.« Das Flüstern klang sehr weit entfernt.
»Ist alles in Ordnung? Was ist mit Brian? Du musst zur Polizei, Chris. Jemand ist hinter dir her …«
»Pst. Ich weiß. Hör zu: Du musst dich ein paar Tage lang um den Jungen kümmern. Kann ich ihn bei dir lassen?«
Jamies Herz machte einen Sprung. Brian! »Ja, natürlich. Aber Du solltest wirklich …«
»Komm in zwei Minuten hinter die Pension. An das Tor in der Hecke. Bei dir ist er sicher.« Er legte auf.
Jamie sprang vom Bett, schlüpfte in ihre Flip-Flops und hastete aus der Tür.
Die Frage, woher Chris wusste, dass sie in der kleinen Pension wohnte, hatte sie sich nicht gestellt.
Jetzt in dem dunklen Kofferraum schüttelte Jamie über sich selbst den Kopf. Wie hatte sie so naiv sein können? Sie war so versessen darauf gewesen, den Jungen zu sehen, dass sie sich verhalten hatte wie die Heldin in einem schlechten Kinofilm. Konnte man wirklich so blöd sein? Genauso gut hätte sie allein in einem dunklen Keller nach dem Killer suchen können. Das machten die Filmheldinnen auch immer so.
Sie hatte das Zimmer verlassen, ohne Michael oder sonst jemandem Bescheid zu sagen.
Unten am Tor hatte sie niemanden gesehen. In Chucks Garten gab es eine einladende Sitzecke mit Tischen und Sonnenschirmen. Zu gerne hätte Jamie mehr Zeit in dem lauschigen Winkel verbracht. Aber um gemütlich draußen zu sitzen, war es einfach zu heiß. In der Hecke gab es ein schmales Holztor. Vom Zimmer aus hatte Jamie gesehen, dass es zu der Seitengasse führte, in der vermutlich die Mülltonnen der Anwohner standen.
Sie war aus der Hintertür der Pension und quer durch den Garten zum Tor gerannt. Sie hatte es aufgestoßen, war hinaus in die Gasse gegangen und hatte in beide Richtungen geschaut. Links von ihr hatte ein PKW mit laufendem Motor die Gasse blockiert. Einen Fahrer hatte sie nicht gesehen. Sie war zwei Schritte auf das Fahrzeug zugegangen.
Mehr wusste sie nicht. Vermutlich hatte jemand dicht an der Hecke rechts hinter dem Tor gestanden. Als sie das Tor aufgestoßen hatte, war die Person verdeckt gewesen. So wie ihr Schädel im Augenblick pochte und wie der Schmerz von einer Stelle hinter ihrem rechten Ohr durch ihren Kopf pulsierte, hatte sie eine recht gute Vorstellung davon, was passiert sein musste.
Und ihr war klar, dass nicht Chris ihr eins über den Schädel gezogen hatte.
Sie lag im Kofferraum des Tätowierten. Ganz sicher.
Blieb die Frage, warum er sie sich geholt hatte.
Sie hatte keine Ahnung, wo Chris sich aufhielt. Wie sollte sie dem Tätowierten da weiterhelfen?
Unwillkürlich musste sie an die Worte des Sheriffs denken: Der Bäcker war gefoltert worden.
Jamie drückte stöhnend das schweißnasse Gesicht an den Teppich. Nein. Das kann er mit mir nicht machen.
Detective Callahan hatte ihr einige der Polaroids beschrieben. Diese Kinder …
Chris’ Albträume … Was hat er ihm angetan?
War sie die Nächste? Würde er versuchen, Informationen aus ihr herauszupressen, die sie gar nicht hatte? Chris hatte immer gesagt, es sei am besten, wenn sie nichts wüsste.
Jetzt fragte sie sich, ob das wirklich so war.
Sie versuchte, tief und regelmäßig durch die Nase zu atmen. Umsonst. Die Luft fühlte sich schwerer an als noch vor zwei Minuten. Jamie prustete kräftig durch die Nase, um die Nasenlöcher freizubekommen. Sie fühlten sich feucht und verstopft an. Ihr Herzschlag übertönte die Fahrgeräusche. Ganz ruhig. Sie atmete langsam ein, bekam aber nicht genügend Luft. Lichtblitze tanzten hinter ihren Augen.
Ach verdammt.
Zu wenig Sauerstoff. Schweiß tropfte ihr von Brust und Rücken, sie hörte die Fahrgeräusche nicht mehr.
Gerald fuhr stupide den Highway entlang. Er hatte seinen Boss anrufen wollen, ihn aber nicht erreicht. Das war vor über einer Stunde gewesen. Viermal hatte er es schon versucht.
Dass er nicht zu seinem Boss durchkam, passierte zum ersten Mal und war der Grund für einen schweren Anfall von Sodbrennen. Geralds Brust und die Mitte seines Rückens standen in Flammen.
Was geht hier vor?
Seine Hände krampften sich ums Lenkrad. Er hatte das ungute Gefühl, dass er bis zum Hals in der Scheiße steckte.
Hat der Boss mich abserviert?
Er versuchte noch einmal, ihn zu erreichen. Vergeblich. Gerald warf das Handy auf den Beifahrersitz.
Vielleicht machten die Vorfälle in Ostoregon den Boss nervös. Wusste er schon von dem Bäcker und dem Teenager? Glaubte er, er könnte von nun an auf Gerald verzichten?
Bin ich jetzt ganz auf mich allein gestellt?
Gerald hatte immer gewusst, dass das eines Tages passieren konnte. Aber der Boss brauchte ihn. Wenn der Mann glaubte, er könnte ihn einfach loswerden, würde er eine große Überraschung erleben. Gerald hatte Aufzeichnungen – Videos aber auch Aufnahmen von fast allen Telefongesprächen, bei denen sie über Chris Jacobs und Daniel Brody gesprochen hatten. Diese Mitschnitte würden dem Kerl das Genick brechen und alles vernichten, was ihm wichtig war. Gerald würde nicht alleine untergehen.
Erneut wählte er die Nummer. Und landete auf der Mailbox.
Sein Magen brannte.
Die Mitfahrerin in seinem Kofferraum wummerte mit den Füßen. Zum Glück war es dunkel und der Highway fast leer. Er musste bald anhalten und nach ihr sehen. Aber solange sie noch um sich trat, war sie nicht tot.
Die Idee, sich Jamie zu holen, war ihm spontan gekommen, als er sie im Fernsehen gesehen hatte. Er wusste nicht, wo Chris war. Also würde er sich erst mal die Schwester schnappen. Schlimmstenfalls hatte er dann eine Traumfrau in seiner Gewalt, mit der er machen konnte, was er wollte. Und im besten Fall führte sie ihn zu ihrem Bruder.
Als er Michael Brody von der Pension zum Diner gehen sehen hatte, hatte er eine Chance gewittert. Er war um den Block gefahren, hatte das Tor zur Gasse entdeckt und sich die Telefonnummer der Pension herausgesucht. Eigentlich hatte er sich als ihr Bruder ausgeben und sie um Geld bitten wollen. Selbst wenn sie ihm das Geld verweigerte, wollte sie ihn doch sicher sehen. Aber mit ihrer Frage nach Brian hatte sie ihm den perfekten Köder geliefert.
Mit dem Stiel einer Axt hatte er ihr mächtig eins übergezogen.
Im ersten Moment hatte er Angst gehabt, dass er vielleicht zu fest zugeschlagen hatte. Sie war sofort zusammengebrochen, ein schlaffes Häufchen Frau. Aber ihr Puls war regelmäßig und stark geblieben. Also hatte er ihr die Hände auf den Rücken gefesselt und sie in den Kofferraum gepackt.
Dass ein Opfer nach einem zu kräftigen Schlag nicht mehr aufgewacht war, war ihm schon einmal passiert. Zeitverschwendung und viel vergebliche Mühe. Ärgerlich. Er hatte die Leiche zu den anderen in der Grube im Wald geworfen – das perfekte Versteck für die Toten.
Ein paar Meilen hinter Demming hatte er angehalten, Jamie den Mund zugeklebt und ihre Füße gefesselt. Bewusstlos war sie immer noch gewesen, hatte aber regelmäßig geatmet.
Als jetzt ihre erstickten Schreie aus dem Kofferraum drangen, drehte er das Radio lauter.
Das dumpfe Vibrieren von ihren Tritten war selbst auf dem Fahrersitz noch zu spüren. Seit er ihr die Füße zusammengebunden hatte, war eine halbe Stunde vergangen. Im Kofferraum musste es ziemlich heiß sein und eine Leiche durch die Gegend zu kutschieren, brachte ihn nicht weiter. Er musste herausfinden, wie heiß es dort tatsächlich war. Die voll aufgedrehte Klimaanlage half Jamie dort hinten wenig.
Die Mittelkonsole …
Ha! Gerald freute sich über seinen Geistesblitz. In der Mitte des Rücksitzes gab es eine Klappe zum Kofferraum. Wenn er sie öffnete, würde die kühle Luft bis zu Jamie strömen. Ein Schild zeigte die Entfernung bis zur nächsten Raststätte an: noch fünf Meilen. Er würde in einer ruhigen Ecke nach seiner Mitreisenden schauen.
Aber plötzlich hörte das Wummern auf.
Gerald trat das Gaspedal durch. Nur noch ein paar Minuten bis zur Raststätte. Dann konnte er …
Im Rückspiegel blitzten rote und blaue Lichter auf.
Verdammte Scheiße.
Geralds Gehirn schaltete in den Turbomodus. Sie haben mich gefunden. Sie haben gesehen, wie ich sie mir geschnappt habe. Sie wissen, dass ich die Kinder umgebracht habe. Und den Mexikaner. Den Teenager.
Eine Panikmeldung nach der anderen schoss ihm durch den Kopf. Vor ihm lag der leere Highway. Einen Moment lang überlegte er, ob er versuchen sollte, die Cops abzuhängen. Sinnlos. Die hatten echte Kraftpakete unter der Haube.
Gerald schaute in den Rückspiegel. Nur ein einziger Streifenwagen jagte hinter ihm her und er war gerade viel zu schnell gefahren. Er bremste und setzte den Blinker.
Fahr rechts ran. Sei höflich.
Jetzt wünschte er sich eine Waffe. Jacobs’ Ruger hatte er bei dem toten Teenager liegen lassen. Ausgerechnet heute hatte er seine beiden Pistolen nicht dabei. Aber wenn es sein musste, konnte er den Polizisten auch so erledigen.
Der Kies des Randstreifens knirschte unter seinen Reifen. Einen Moment lang sah es so aus, als würde der Streifenwagen an ihm vorbeirauschen. Aber der marineblaue Wagen hielt dicht hinter ihm an. Hinter der Windschutzscheibe erkannte Gerald eine ziemlich alberne Kopfbedeckung. Staatspolizei. So breitkrempige Hüte trugen nur die.
Im Kofferraum blieb alles still.
Was, wenn sie ein Rücklicht rausgetreten hat? Hängt etwa ein Fuß hinten aus dem Wagen? Gerald trat der Schweiß auf die Stirn. Er ließ das Fenster herunter und suchte im Handschuhfach nach dem Mietvertrag. Dann schaute er erneut in den Rückspiegel. Der Polizist saß noch auf dem Fahrersitz. Vermutlich überprüfte er das Kennzeichen und gab seinen Standort durch. Das war okay. Er würde nur erfahren, dass Gerald in einem Mietwagen saß. Und seinen Führerschein durfte der Bulle gerne überprüfen. Der war in Ordnung. Er hatte nicht einmal ein Knöllchen wegen Geschwindigkeitsübertretung bekommen.
Bis jetzt. Hoffentlich ist das das einzige Problem.
Plötzlich stand der Cop an seinem Fenster. »Guten Abend, Sir. Ihre Papiere bitte.«
Gerald gab sie ihm. »Ich glaube, ich war grade ein bisschen zu schnell unterwegs. Das ist ein Mietwagen. Hier sind die Unterlagen.« Angestrengt horchte er nach Geräuschen aus dem Kofferraum. Alles blieb still.
Ist Jamie ohnmächtig? Oder tot? Er musste dringend nach ihr sehen. Er schluckte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.
Der Polizist warf einen Blick auf seinen Führerschein. »Nein, Mister Bennett. Ich habe Sie angehalten, weil Sie telefoniert haben. Sie sind vor ein paar Meilen mit dem Handy am Ohr an mir vorbeigefahren.«
Erleichterung, Ungläubigkeit, Erheiterung und Ärger: Gerald wusste nicht, welches Gefühl stärker war. »Wirklich? Dabei bin ich nicht mal durchgekommen.«
Die Lippen des Polizisten zuckten. »Tut mir leid, Sir. Aber vor dem Gesetz ist es egal, ob Sie durchgekommen sind oder ob Ihr Gesprächspartner den Anruf weggedrückt hat. Ich habe das Telefon an Ihrem Ohr gesehen. Ich bin gleich wieder da.« Er stutzte und musterte Gerald genauer. »Alles in Ordnung mit Ihnen, Sir?«
Gerald berührte die Stelle an seiner Wange, an der der Mexikaner ihn mit der Eisenstange erwischt hatte. »Sieht scheußlich aus, was? Mir ist beim Trainieren die Langhantel aus der Hand gerutscht. In Zukunft nehme ich mir wieder einen Spotter.«
Der Polizist sah in ungläubig an. »Sie trainieren ohne Spotter? Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
Gerald machte ein verlegenes Gesicht. »Ich weiß. Das ist dumm. Aber das Gewicht war nicht so groß und ich wollte niemandem lästig sein.«
Kopfschüttelnd ging der Mann mit Geralds Führerschein zum Streifenwagen.
Gerald legte die Stirn aufs Steuer. Das hätte schlimmer kommen können.
Telefonieren beim Fahren? Deshalb hielt man ihn an? Er erstickte ein Lachen. Plötzlich fühlte er sich ganz leicht.
Schwein gehabt. Wenn der wüsste, was ich in Demming angestellt habe. Und wenn er wüsste, was im Kofferraum liegt.
Der Polizist erschien wieder am Fenster und gab ihm den Führerschein und die Mietunterlagen. »Wegen des Telefonierens muss ich Ihnen ein Bußgeld verpassen. Wir drücken da kein Auge mehr zu, weil die Leute sich sonst nicht an das Gesetz halten. Schaffen Sie sich eine Freisprechanlage an. Die sind im Augenblick noch legal.«
Gerald nahm die Papiere schweigend entgegen. Sag jetzt nichts. Am liebsten hätte er dem Mann seinen Strafzettel in den Mund gestopft. Aber er musste froh sein, dass er halbwegs ungeschoren davonkam. Nimm den Zettel und sieh zu, dass du zur anderen Seite des Staates kommst. »Ich kümmere mich darum.«
Der Polizist tippte an seine Hutkrempe. »Gute Fahrt, Sir.«
Gerald schaute zu, wie der Mann zu seinem Wagen zurückging, dann setzte er den Blinker und fuhr weiter. Wie hat der Cop mein Telefon sehen können? Die Sonne ist doch schon vor einer Stunde untergegangen.
Wie auch immer – Schwein gehabt.
Er behielt den Rückspiegel im Auge. Der Streifenwagen stand immer noch an derselben Stelle, die Lichter wurden im Spiegel immer kleiner. Als Gerald sie schon fast nicht mehr sah, wendete der Wagen und fuhr dorthin zurück, woher er gekommen war.
Gerald warf einen Blick auf den Strafzettel. Hundertzweiundvierzig Dollar für Telefonieren während des Fahrens?
Stinksauer über das hohe Bußgeld hielt er zwei Meilen weiter an einer Raststätte an.
Keiner da.
Er parkte so weit wie möglich von den Toiletten entfernt und beobachtete eine Zeit lang vom Fahrersitz aus die Umgebung. Der Polizist war zwar in die Gegenrichtung davongefahren, dennoch konnte er jederzeit hier auftauchen. Und nicht unbedingt allein. Als alles ruhig blieb, stieg er aus und streckte sich. Ihm taten sämtliche Knochen weh. Er hatte einen langen Tag hinter sich.
Erst das verlassene Jacobs-Haus, dann der alte Mexikaner, der Junge von der Tankstelle, Jamie Jacobs und jetzt auch noch ein verdammter Strafzettel.
Er ging zum Wagenheck. Die Rücklichter waren beide intakt. Jamies Tritte waren folgenlos geblieben – falls sie die Lichter überhaupt getroffen hatte. Schnaubend schüttelte er den Kopf über seine Befürchtung, der Polizist könnte auf ihn aufmerksam geworden sein, weil ihre Füße hinten aus dem Wagen ragten. Als er sich über den Kofferraum beugte, spürte er die Hitze, die das Blech abstrahlte. Er horchte angespannt.
Alles still.
Mit der Axt in der Hand drückte er am Wagenschlüssel die Entriegelungstaste für den Kofferraum.
Jamie lag reglos da. Ihr Haar und ihr Shirt waren schweißgetränkt. Als er ihre Beine mit dem Axtstiel anstieß, öffnete sie die Augen. Gott sei Dank, die Schlampe atmet noch. Sie starrte ihm direkt ins Gesicht und musterte ihn, als wollte sie sich seine Züge für spätere Beschreibungen einprägen. Aber sie bewegte sich nicht.
»Heiß da drin?«, fragte er.
Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen.
Ich werte das mal als Ja.
»Ich biete dir einen Deal an.«
Die Augenbrauen hoben sich leicht.
»Hör mit dem verdammten Gestrampel auf und ich öffne die Konsole im Rücksitz. Dann hast du auch was von der kühlen Luft aus der Klimaanlage. Abgemacht?«
Jamie blinzelte und nickte kurz.
»Dachte mir doch, dass du nicht blöd bist. Gekocht oder gebraten bringst du mir nichts.«
Sie blieb still.
Er überlegte, ob er ihr etwas Wasser geben sollte. Aber dann hätte er ihr das Klebeband vom Mund ziehen müssen. Außerdem hatte er keine Lust, Kindermädchen zu spielen. Ein paar Stunden würde sie auch ohne Wasser aushalten. Die Klimaanlage würde helfen.
Er betastete die Innenseite der Rücklichter. Die Abdeckungen waren unbeschädigt und saßen fest. Ganz egal, wie kräftig sie zutrat, hier konnte sie keinen Schaden anrichten.
Gerald schlug den Kofferraum zu, öffnete die Hecktür auf der Fahrerseite und klappte die Konsole zwischen den Rücksitzen auf. Er spürte, wie heiße Luft aus dem Kofferraum ins kühlere Wageninnere strömte. Er richtete die lachhaft kleinen Lüftungsdüsen im Heck auf die Lücke zwischen den Sitzen.
Dann setzte er sich wieder ans Steuer und fuhr zurück auf den Highway. In der letzten Viertelstunde hatte er kein einziges anderes Fahrzeug gesehen. Nach einem kräftigen Schluck aus der Wasserflasche wischte er sich seufzend den Mund ab. Die Fahrt würde fast bis zum Morgen dauern.
Es war ein langer Weg zurück auf die andere Seite der Kaskaden. Sein Ziel lag südlich von Portland, in Salem. Die Stadt war sein Zuhause, dort fühlte er sich wohl. Salem lag näher am Bunker als Portland, und die meisten seiner Aufträge erledigte er ebenfalls dort.
Er hoffte, dass er bald von seinem Boss hören würde. Ihn beim Fahren anzurufen, würde er nicht noch einmal riskieren.
Zu Michaels Erleichterung stieg Spencer aus dem Streifenwagen des Luna Countys. Nichts gegen seine Deputys, aber er brauchte jemanden mit Hirn. Die Deputys aus Demming standen meist nur herum und warteten auf Anweisungen. Spencer hatte einen von ihnen mitgebracht. Hove öffnete die Tür seines Fahrzeugs, blieb aber mit dem Telefon am Ohr darin sitzen.
»Was liegt an?«, fragte Spencer auf dem Weg zur Veranda. »Jacobs. Wurde auch Zeit, dass Sie auftauchen. Ich habe ein paar Fragen wegen Juan.«
»Erst mal müssen wir Jamie finden. Der Geistermann hat sie sich geholt«, entgegnete Chris.
»Wer?« Der Sheriff runzelte die Stirn.
»Ich nenne ihn den Geistermann. Er hat mich als Kind entführt und gefangen gehalten. Das Arschloch sieht gespenstisch aus, hat eine völlig weiße Haut.«
»Mit allerhand Verzierungen«, fügte Michael hinzu.
»Der Geistermann ist der Tätowierte. Alles klar.« Spencers Gesichtsausdruck verriet, dass er am Geisteszustand der beiden Männer zweifelte. »Aber wer zum Teufel ist er wirklich?«
Michael schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
Hove trat zu ihnen. »Laut Ihrem Detective Callahan ist er ein vorbestrafter Sexualstraftäter namens Gary Hinkes. Aber der Kerl ist wie ein Phantom. Es gibt keinen Führerschein, keine Steuerunterlagen, nichts. Wegen der Sexualstraftaten saß er in den späten Achtzigern im Knast, aber seine Akte ist nicht auffindbar. Außerdem wurde er im Zusammenhang mit dem Mord an einer Frau in Portland verhaftet, kriegte aber wegen einer viel geringfügigeren Sache bloß ein paar Monate. Seit er wieder draußen ist, haben wir nichts von ihm gehört.«
»Was ist mit den Prozessakten?«, fragte Spencer.
»Verschwunden.«
»Und die aus seiner Knastzeit?«
»Er war nur zwei Monate lang im Bau und jedes Fitzelchen Papier aus dieser Zeit ist verschwunden.«
Chris sah Michael an. »Wie geht so was?«
Michaels Magen zog sich zusammen. »Man kennt jemanden mit den entsprechenden Beziehungen.«
»Okay, aber die Leute, die mit ihm zu tun hatten, können nicht auch verschwunden sein … hoffe ich.« Spencer verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist der Gefängnisdirektor von damals noch dort? Erinnert der sich an ihn?«
Hove schüttelte den Kopf. »Der ist längst pensioniert. Und unser Mann hat nur zwei Monate lang gesessen. So kommen wir nicht weiter.«
»Was ist mit dem Richter, der ihn verurteilt hat? Mit seinem Anwalt? Dem Staatsanwalt? Es muss doch noch irgendjemanden geben, der etwas über Hinkes weiß. Immerhin war das ein verdammter Mordprozess.«
»Die Detectives in Portland sind an der Sache dran. Die werden schon jemanden aufstöbern, der weiß, was der Kerl heute treibt. Meinen Sie, wir finden in Ihrem Zimmer Spuren?« Hoves Frage war an Michael gerichtet.
»Sicher nicht.« Trotzdem winkte Michael die Cops in die Pension. Sein Geduldsfaden war zum Zerreißen gespannt. Herumzustehen und auf die Polizei zu warten, gehörte normalerweise nicht zu seinem Repertoire. Er brauchte Action. Er musste etwas tun.
Nur fehlten ihm im Moment die Anhaltspunkte, die ihm erlaubt hätten durchzustarten.
Chuck begrüßte die Männer und sah zu, wie sie die Treppe hinaufeilten. Spencers Deputy blieb unten und stellte ihm ein paar Fragen. Hove und Spencer sahen sich kurz im Zimmer und im Badezimmer um. Hove schaute von oben in den Garten.
»Wohin führt das Tor?«, fragte er Michael.
»In die Gasse hinter dem Haus.«
»Haben Sie dort nachgesehen?«
»Nein.« Michaels Mund wurde trocken. Verdammt. Mit ein paar Schritten war er an der Tür.
»Augenblick. Wir kommen mit.«
Die drei Männer marschierten durch die Pension. Michael wäre am liebsten vorausgerannt. Warum habe ich die Gasse nicht überprüft?
Spencer zeigte auf die Hintertür zum Garten. »Ist die den ganzen Tag unverschlossen?« Die Frage galt Chuck. Chuck nickte.
An einem weniger heißen Tag wäre der Garten sehr einladend gewesen. Die Sonne ging bereits unter, aber es war noch hell. Michael fixierte das Holztor in der fast drei Meter hohen Hecke. Zur Gasse hin stand es eine Handbreit offen.
»Ganz schön hoch, das Ding«, murmelte Hove mit einem Blick auf die grüne Barriere.
Spencer stieß das Tor auf und die drei Männer traten hinaus in die Gasse. Niemand da.
Michael ließ die Schultern hängen. Was habe ich denn erwartet?
Ein Cop ging nach links, einer nach rechts. Michael stapfte hinter Spencer her. Das schmale Sträßchen war überraschend sauber. Etliche angrenzende Grundstücke waren von Mauern oder Hecken umgeben. Aber nicht alle. Ein paar Mülleimer standen herum. Nach einem Blick durch einige Gartentore marschierte Spencer zur Pension zurück. Hove kam ihm bereits entgegen.
»Ziemlich sauber für eine Seitengasse«, sagte Spencer. »In einer größeren Stadt würde das anders aussehen.«
Chris trat durch das Tor zu ihnen. Er nickte Michael zu und schaute nach links und rechts.
»Wo ist Brian?«, fragte Michael.
»Bei den Vogelfutterspendern.« Chris deutete hinter sich.
»Dort hinten liegt ein bisschen Müll.« Hove zeigte die Gasse entlang. »Aber sonst nichts Auffälliges.«
»Abfall?« Michael runzelte die Stirn. »An unserem Ende der Gasse hätte man vom Pflaster essen können.« Fast automatisch ging er in die Richtung, die Hove inspiziert hatte. An der Hecke entdeckte er ein paar Zellophanverpackungen. Er ging näher heran und musste grinsen, obwohl ihm nicht dazu zumute war.
Irgendwo wird jetzt ein Kind furchtbar enttäuscht sein.
Die Verpackungen waren ungeöffnet. Auf der Straße lag mindestens ein Dutzend Twinkies. Er schnaubte. Als Kind hätte ihn eine solche Verschwendung fassungslos gemacht. Schade um …
Michael fuhr herum. Hinter ihm erbrach Chris sich heftig in die Hecke.
Mason stürmte ins Büro. Der Stau hatte sich endlich aufgelöst. Der Auslöser war ein Unfall gewesen, an dem ein Sattelschlepper und ein Kleinstwagen beteiligt waren. Kein schöner Anblick. An der Unfallstelle hatte es von Cops und Notärzten nur so gewimmelt. Deshalb hatte Mason nicht angehalten. Er hatte nur genauso gegafft wie alle anderen Fahrer und damit zu dem Stau beigetragen. Ein simpler Auffahrunfall am Straßenrand hätte ihn nicht aus der Ruhe gebracht. Aber so etwas hatte er noch nie gesehen.
Das verdammte Auto in Zwergengröße war unter den Lastwagen geraten.
Der Anhänger des Trucks stand im rechten Winkel zum Führerhaus, das winzige Auto klemmte unter dem Anhänger und war nur noch halb so hoch wie normal.
Mason wollte sich lieber nicht vorstellen, was mit dem Fahrer passiert war.
Er hängte seinen Hut an den Haken und nickte Ray zu, der sich an seinem Schreibtisch durch einen Stapel Unterlagen arbeitete. Ray trug seine Sommeruniform – eines seiner etwa zweihundert Poloshirts. Heute hatte er sich für helles Lavendel entschieden. Mason sparte es sich, ihn wegen der Mädchenfarbe aufzuziehen. Ray konnte die Farbe tragen. Er sah immer aus, als wäre er grade einem Männermagazin entstiegen.
Dagegen kam Mason sich oft vor wie ein Model aus einer Apothekenzeitschrift.
»Das hat ja ewig gedauert«, begrüßte ihn Ray.
»Einen Unfall wie den hast du noch nie gesehen.«
»Quatsch. Dafür sind wir schon zu lange im Geschäft.«
»Ich hätte ein Foto machen sollen. Verrückte Sache. Eins von diesen ganz kleinen Autos steckt jetzt unter einem Sattelschlepper.«
»Ach?« Rays Augenbrauen schossen in die Höhe. »Das ist neu.«
»Sage ich doch. Und was gibts bei dir?«
»Ich habe im gerichtsmedizinischen Institut angerufen. Dr. Campbell konnte anhand der Zahnbilder noch ein Opfer aus der Grube identifizieren. Eine Frau.«
»Eine Prostituierte?«
»Nein. Dieses Opfer war wohl ziemlich tugendhaft.«
Ein seltsamer Unterton in Rays Stimme ließ Mason aufhorchen. »Und?«
Ray warf einen Blick in seine Notizen und räusperte sich. »Katy Darby. Wurde vor fünfzehn Jahren vermisst gemeldet. War damals siebenundzwanzig. Aufgewachsen und wohnhaft in Salem.«
Masons Magen zog sich zusammen. Rays Stimme klang einfach zu sonderbar.
»Katy Darby hat sich für Politik interessiert. Sie war in einem halben Dutzend politischer Gruppen aktiv und eine von Senator Brodys hauptamtlichen Wahlkampfhelferinnen.«
»Sie hat für den Senator gearbeitet? Wie lange?«
»Das versuche ich grade rauszufinden. Wahlkampfhelfer kommen und gehen. Ich muss Brodys Wahlkampfmanager anrufen und nach den Personalunterlagen fragen. Aber in den Arbeitsstatistiken taucht sie in den Neunzigern dreimal auf Brodys Gehaltsliste auf. Und sie hat noch für zwei weitere Kongressabgeordnete aus Oregon gearbeitet.«
»Demokraten oder Republikaner?«
Ray warf ihm einen angewiderten Blick zu.
»Das war ein Scherz! Bleib locker, Mann.«
Ray rieb sich die Nase. »Ich hatte einen langen Tag. Die anderen Kongressabgeordneten habe ich schon angerufen und nach Katy gefragt. Einer von ihnen ist noch im Amt. Der andere leitet jetzt eine Ford-Niederlassung in Medford.«
»Lass mich raten: Der war Republikaner.«
Ray verdrehte die Augen. »Jedenfalls ist sie einfach verschwunden. Hat sich in Luft aufgelöst wie die anderen. Aber wegen ihr gab es mehr Wirbel, man hat nach ihr gesucht. Ihr damaliger Freund wurde einige Male befragt. Aber er konnte beweisen, dass er zum Zeitpunkt ihres Verschwindens nicht in Oregon war. Ihre Mutter meint, sie hätte nie geglaubt, dass er etwas damit zu tun hat. Katy ist abends wie immer von der Arbeit weg aber am nächsten Morgen nicht wieder erschienen. Ihr Wagen stand noch auf dem Parkplatz. Das ist aber erst am Nachmittag des Folgetages jemandem aufgefallen. Bis dahin hatten alle geglaubt, sie sei krank und hätte einfach vergessen anzurufen.«
»Hat sie zu diesem Zeitpunkt für Senator Brody gearbeitet?«
»Ja. Das war in der heißen Wahlkampfphase. Nicht dass Brody je einen ernstzunehmenden Gegner hatte. Er war immer ziemlich populär und seine Wahlkämpfe können nicht sehr spannend gewesen sein.«
Mason hatte keinerlei Interesse an einem politischen Amt. Er wollte nicht öffentlich um seinen Job betteln. Zum Politiker musste man geboren sein. Senator Brody machte seine Sache gut. Er war beliebt und wirkte integer. Mason hatte kein persönliches Problem mit ihm oder seiner Politik. Er traute nur Politikern im Allgemeinen nicht. Sie machten ihm zu viele strategische Kompromisse.
Ihm lag so etwas fern. In seinem Job gab es Schwarz und Weiß, Gut und Böse.
Und er fand, dass er ihn ganz gut machte.
»Du hast die Handynummer des Senators, oder?«, fragte Mason.
Ray lehnte sich mit ausdrucksloser Miene zurück. »Ja. Genau wie du.«
»Hast du ihn schon angerufen?«
»Um diese Zeit? Es ist elf Uhr nachts.«
»Wahrscheinlich erreicht man ihn jetzt am besten.« Mason biss sich auf die Innenseite der Wange, um nicht loszulachen. Ray sah aus, als würde ihm schon bei dem Gedanken, den Senator um diese Zeit zu stören, übel. Er legte Wert auf Umgangsformen und spätnächtliche Telefonanrufe gehörten nicht dazu. Mason bereitete es einen Heidenspaß, Ray zu Verstößen gegen seine blöden Regeln zu animieren. Letzten Monat hatte er mit ihm gewettet, dass er es nicht fertigbringen würde, die Mülltonne nach der Müllabholung noch zwei Tage lang am Straßenrand stehen zu lassen. Die zehn Dollar Wetteinsatz hatte Mason zwar verloren, aber das war es ihm wert gewesen. Er hatte sich bestens dabei amüsiert, Ray zuzusehen, wie er sich schwitzend um seinen guten Ruf bei den Nachbarn sorgte.
»Wir ermitteln in einem Mordfall.«
»Trotzdem will ich seine früheren Aussagen zu Katy Darby lesen, bevor ich ihn befrage.«
»Guter Plan. Lies los.«
»Ich war grade dabei. Aber dann bist du hier reinspaziert und hast mich gestört.«
»Was hat er denn damals gesagt?«
»Hervorragende Mitarbeiterin, traurig und besorgt, kannte sie nur von der Arbeit, bla, bla, bla.«
»Kooperativ?«
»Sehr.«
Mason lehnte sich auf seinem quietschenden Schreibtischsessel zurück. »Wir müssen noch mal mit ihm reden. Bald. Wo treibt sich Darbys Freund denn inzwischen rum?«
»In New Hampshire. Verheiratet, zwei Kinder.«
Das brachte sie nicht viel weiter.
»Der Fall wurde viermal neu aufgerollt. Das scheint dann jedes Mal so abgelaufen zu sein, dass sie den Freund und Katys Kollegen angerufen und ihnen die üblichen Fragen gestellt haben. Anschließend wanderte die Akte wieder ins Archiv. Etwas Neues kam dabei nicht raus.«
»Aber jetzt haben wir ihre Leiche. Zumindest die Überreste«, sagte Mason. »Irgendwas Ungewöhnliches aus dem gerichtsmedizinischen Institut? Kennen die die Todesursache?«
»Dr. Campbell sagt, das Zungenbein sei gebrochen. Sie gehen von Strangulation aus.«
»Was wissen wir über die Waffe, mit der der Teenager erschossen wurde?«
»Chris Jacobs meint, es könnte sich um seine handeln. Er hätte sie im Haus zurückgelassen. Wahrscheinlich ist sie bei dem Einbruch geklaut worden.«
»Ich will mit Jacobs reden.«
»Willkommen im Club.«
»Ich will ihn hier haben. Morgen. Und einer von uns spricht in den nächsten vierundzwanzig Stunden mit dem Senator. Ich glaube, Katy Darby bringt uns weiter.«
Bei Chris’ Erklärung, was es mit den Twinkies auf sich hatte, stieg Michael Galle in die Kehle. Nun gab es keinen Zweifel mehr, wer Jamie in seiner Gewalt hatte.
Ein verdammter perverser Psychofreak.
Wo sind sie?
Wie sollten sie sie finden? Hove und Spencer hatten keinerlei Hinweise zum Verbleib des Tätowierten. Des Geistermanns. Dieser Name passte besser. Der Kerl war zwanzig Jahre lang unsichtbar geblieben und hatte den Familien der Opfer unsägliche Qualen bereitet.
Michaels Handy vibrierte. Detective Callahan. Mist. Er hatte vergessen, ihn nach Chris’ überraschendem Auftauchen anzurufen. Vielleicht hatte der Detective ja gute Nachrichten.
»Callahan. Sie können uns weiterhelfen, hoffe ich?«
»Sie haben Chris Jacobs gefunden?«
Michael warf einen Blick auf seinen Bruder. Er saß auf der Veranda und hatte Brians Kopf in seinen Schoß gebettet. Der Junge döste. »Ja. Und das ist noch längst nicht alles.«
Michael erzählte dem Detective, was er von Chris erfahren hatte.
Callahan war volle fünf Sekunden lang sprachlos. »Und wo ist der echte Jacobs-Junge?«, fragte er schließlich.
»Er lebt nicht mehr. Daniel hat ihn begraben. Aber Daniel heißt jetzt Chris.«
Michael gewöhnte sich langsam an den Namen. Manchmal nannte er seinen Bruder in Gedanken schon so.
»Wir kennen inzwischen die Identität eines weiteren Opfers aus der Grube. Katy Darby hat vor ihrem Verschwinden ein paarmal als Wahlkampfhelferin für Ihren Vater gearbeitet. Sie passt nicht ins Schema. Keine Vorstrafen, keine dunklen Flecken in ihrer Vergangenheit.«
Katy Darby?
»Der Name kommt mir bekannt vor«, sagte Michael bedächtig. Erinnerungsfetzen drängten sich in seinen Kopf. »Das ist lange her. Meine Eltern waren ziemlich schockiert, als sie verschwunden ist. Sie haben Katy gemocht. Ich weiß noch, dass meine Mutter sagte, sie sei eine sehr engagierte Mitarbeiterin gewesen. Aber ich glaube, niemand hat ihr Verschwinden je in Zusammenhang mit meinem Bruder gebracht.«
»Es besteht aber einer. Der Kerl, der die Kinder umgebracht hat, hat auch sie auf dem Gewissen. Damit stammen schon zwei Opfer aus dem Umfeld Ihrer Familie.«
»Chris sagt, der Geistermann hätte ständig Drohungen gegen uns ausgesprochen. Die Familien der anderen Kinder hätten ihn gar nicht interessiert.«
»Der Geistermann? Sie meinen den Tätowierten?«, fragte Mason.
»Jepp. So haben die Kinder ihn genannt.«
»Wir nennen ihn Gary Hinkes. Wir müssen rausfinden, welchen Namen er jetzt verwendet und was er mit Ihrer Familie zu tun hat.«
»O Gott. Sie gehen doch nicht etwa von einem politischen Hintergrund aus? Sagen Sie jetzt nicht, dass all die Menschen wegen irgendeines Gesetzes sterben mussten, für das Der Senator gestimmt hat.« Michael wurde wütend.
»Keine Ahnung, warum er so auf Ihre Familie fixiert ist. Ich muss noch mal mit Ihrem Vater reden.«
»Da sind wir schon zu zweit.«
»Ich wollte ihn morgen früh anrufen. Wollen Sie es jetzt noch versuchen? Wir brauchen seine Aussage so schnell wie möglich«, sagte Mason.
»Ich rufe ihn gleich an. Wir müssen rauskriegen, wer der Geistermann ist.«
Als Michael das Gespräch beendet hatte, sah Chris ihn an. »Die meinen, dass es eine Verbindung zum Senator gibt?«
»Ich hoffe nicht, verdammt. Aber eine der Toten aus der Grube ist eine frühere Wahlkampfhelferin.«
Die Männer wandten sich zu Hove um, der den Weg zur Pension heraufjoggte. »Er wurde gesehen. Fuhr vor etwa einer Stunde auf dem Highway 22 nach Westen. Einer meiner Verkehrspolizisten hat einen Typen mit Tätowierungen auf den Handgelenken angehalten. Sie haben ausgesehen wie die in unserem Fahndungsaufruf.« Hoves Augen blitzten. »Er wurde gestoppt, weil er beim Fahren telefoniert hat. Der Führerschein war echt, aber wohl nicht seiner. Und er fährt einen Mietwagen. Wir haben das Autokennzeichen und suchen nach ihm.«
Michael rief sich die Straßenkarte von Oregon ins Gedächtnis. Der Highway 22 führte über die Kaskaden und endete in Salem. Falls der Killer nach Portland gewollt hätte, hätte er vermutlich eine andere Passstraße genommen. »Saß er allein im Wagen? War eine Frau bei ihm? Anscheinend ist er nicht auf dem Weg nach Portland. Ich wüsste gerne, warum er nach Salem fährt. Haben Sie Callahan schon Bescheid gesagt?« Michael hatte tausend Fragen.
»Ja, er war allein. Und Callahan rufe ich jetzt an.«
»Verdammt noch mal. Wo ist Jamie?«
»Wir finden sie.«
Michael sah Chris an. »Ich fahre nach Salem. Kommst du mit?«
»Du könntest mich nicht davon abhalten. Sie ist meine Schwester.«