Kapitel 19

 

»Ich habe ihn neben dem Baumstamm liegen lassen. Es ging nicht anders. Ich habe ihn noch mit irgendwelchem Zeug aus dem Wald zugedeckt, dann bin ich losgelaufen. Ich weiß nicht, wie viele Tage ich unterwegs war, bis ich die ersten Menschen gesehen habe. Drei? Vielleicht vier? Das ist alles ziemlich verschwommen.

Als ich später zu Hause ausgezogen war, habe ich nach ihm gesucht. Drei Mal bin ich in den Wald gefahren, habe das Gebiet durchstreift und im Zelt übernachtet, bis ich den Baumstamm gefunden habe. Angefangen habe ich immer bei der Farm, bis zu der ich mich nach der Flucht geschleppt hatte. Es waren nur noch Knochen von ihm übrig und längst nicht alle. Die anderen haben wohl Tiere weggetragen.

Was noch da war, habe ich begraben, die Stelle markiert und mir die Koordinaten aufgeschrieben. Chris war mein zweiter Bruder.«

»Hast du nach dem Bunker gesucht?«, fragte Michael.

»Himmel, nein. Dorthin wollte ich nie mehr zurück. Bis nach unserer Flucht hatte ich ja geglaubt, die anderen Kinder seien freigelassen worden. Das hat der Geistermann behauptet.«

Michael schüttelte den Kopf. »Das war gelogen.«

»In den Nachrichten wurde nie gesagt, wie die Kinder gestorben sind.«

Michael dachte kurz nach. »Ja, stimmt. Ich weiß, dass die Schädel keine Einschusslöcher aufwiesen. Aber ob man die Todesursache überhaupt feststellen konnte, kann ich dir nicht sagen.«

»Wir haben nie Schüsse gehört. Jahrelang hat es mich fast um den Verstand gebracht, dass ich nicht wusste, was mit den anderen passiert ist. Als man mir gesagt hat, sie seien nicht zurückgekommen, war mir klar, dass er sie umgebracht hat. Ich hatte Albträume, in denen ich sah, wie er … alles Mögliche mit ihnen macht. Die Ungewissheit ist schrecklich. Das Gehirn denkt sich Unmengen von grauenhaften Einzelheiten aus.«

Was du nicht sagst. Michael wusste nur zu genau, wovon sein Bruder redete.

»Augenblick. Ich glaube, ich kenne jemanden, der uns weiterhelfen kann.« Michael drückte eine Kurzwahltaste an seinem Handy.

»Michael? Wo bist du?«, sagte Lacey Campbells Stimme an seinem Ohr.

»Immer noch in Ostoregon. Hast du mitbekommen, was hier passiert ist?«

»Ja. Ich habe mit Detektive Lusco gesprochen. Ist wenigstens bei dir alles klar?«

Michael rieb sich die Augen. »Nein. Ich war mit Chris Jacobs’ Schwester Jamie hier. Aber jetzt ist sie weg und sämtliche Cops von Oregon suchen nach dem Tätowierten.

Wir glauben, dass er sie gekidnappt hat. Er muss sie irgendwie dazu gebracht haben, das Hotelzimmer zu verlassen, und ich werde fast wahnsinnig, weil ich nichts tun kann.«

»Verflucht! Wie viel muss er denn noch anrichten?«

»Eine Frage, Lacey: Wisst ihr schon, wie die Kinder gestorben sind?«

Lacey ließ eine Sekunde verstreichen. »Warum interessiert dich das?«, fragte sie schließlich.

»Ich muss es wissen. Ich muss wissen, was er mit ihnen gemacht hat. Sind sie erschossen worden? Erstochen? Könnt ihr das überhaupt noch feststellen?«

Er hörte sie laut ausatmen. »Die Skelette weisen keinerlei Spuren von Schüssen oder Stichen auf. Manchmal bleiben die Knochen zwar heil, aber das ist eher selten. Normalerweise findet man etwas. Aber Dr. Peres hat weder bei den Kindern noch bei den beiden übrigen Erwachsenen aus der Grube irgendwelche Kerben oder Stichstellen an den Knochen feststellen können.«

»Wie hat er es dann gemacht?«

»Bei den zwei Leichen aus der Grube, deren Schädel keine Einschusslöcher aufwiesen, waren die Zungenbeine gebrochen.«

»Der Knochen in der Kehle?«

»Ja. Wenn jemand gewürgt wird, kann er brechen.«

»Aber von den Kindern hatte keines diese Verletzung?«

»Bei Kindern ist der Knochen noch nicht zusammengewachsen. Er besteht aus drei Teilen, die sich erst im Lauf der Jahre komplett verbinden. Normalerweise ist das mit etwa dreißig Jahren der Fall. Deshalb lässt sich anhand des Zungenbeins schwer sagen, ob ein Kind erwürgt worden ist.«

»Woher wisst ihr, ob der Knochen gebrochen ist oder erst noch zusammenwachsen muss? Die Opfer aus der Grube waren doch alle in den Zwanzigern, oder? Vielleicht wurden sie gar nicht erwürgt. Vielleicht waren ihre Zungenbeine nur noch nicht zusammengewachsen«, überlegte Michael laut.

»Bei Brüchen haben wir unregelmäßige Kanten. Bei noch nicht zusammengewachsenen Knochen glatte. Die gebrochenen Zungenbeine der Erwachsenen waren ziemlich ausgefranst.«

»Verstehe. Aber auch bei den Kindern könnt ihr Strangulation als Todesursache nicht ausschließen.«

»Ja, richtig«, antwortete Lacey. »Und mein Gefühl sagt mir, dass genau das passiert ist.«

»Mir meines auch. Und Chris sagt, sie hätten keine Schüsse gehört.«

»Chris?«, frage Lacey scharf. »Du hast ihn gefunden?«

»O Gott, Lace. Das habe ich dir ja noch gar nicht gesagt. Er hat mich gefunden.« Michael gab ihr eine Kurzversion der neuesten Ereignisse.

»Und er ist Daniel? Bist du dir sicher?« Lacey stellte die Frage in einem sanften Ton.

»So sicher war ich noch selten im Leben.« Michael schaute sich an, wie sein Bruder mit Brian das Krabbeltier betrachtete. Brian zeigte aufgeregt auf das Insekt.

»O Michael. Das ist wunderbar.«

»Wunderbar ist untertrieben. Aber jetzt müssen wir Jamie finden. Ich weiß nicht, wo ich suchen soll.

O Mann, Lacey, das ist gleichzeitig der glücklichste und der schlimmste Tag meines Lebens. Ich will abwechselnd jubeln und auf Dinge einschlagen.«

»Sie finden sie. Es wird alles gut.«

»Bitte Lacey. Keine leeren Worte. Was ich brauche, sind klare Anhaltspunkte.«

Lacey blieb still und Michael fühlte sich mies.

»Entschuldige bitte, Lace. Ich bin mit meinem Latein komplett am Ende. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Das ist mir noch nie passiert. Normalerweise fällt mir immer etwas ein.«

»Sie ist etwas Besonderes«, sagte Lacey. Aber Michael wusste, dass das eine Frage war.

»Ja, Lacey. Sie ist es – die eine. Die Richtige. Ich weiß es, ich spüre es in jeder Faser. Ich habe sie grade erst gefunden und darf sie jetzt nicht verlieren!« Michaels Hände zitterten. Jedes Wort, das er sagte, war wahr. Das wurde ihm in dieser Sekunde bewusst. Er hatte sein ganzes Leben lang nach einer Frau gesucht, die perfekt zu ihm passte.

Jamie war diese Frau – und jetzt hatte der Killer sie sich geschnappt.

Bekomme ich sie zurück? Er schloss die Augen. Lebt sie überhaupt noch?

Hinter Chris’ Truck hielten zwei Streifenwagen. Einer vom Luna County, einer von der Staatspolizei.

Endlich.

Michael beendete das Gespräch mit Lacey. Chris kam zu ihm und Brian suchte Deckung hinter seinem Vater.

Michael schüttelte innerlich den Kopf.

Ein Junge hätte eigentlich losrennen und sich die coolen Polizeiautos ansehen müssen, anstatt sich zu verstecken.