Kapitel 15

 

Michael platzte fast vor Anspannung. Lusco und Callahan hatten herausgefunden, dass Jamies Angreifer ein Albino war. Dasselbe schien auf den Entführer der Kinder zuzutreffen. Wie viele Albinos spazierten wohl durch Oregon? Und wie viele von ihnen fuhren mit blutigen Händen durch den Osten des Staates? Er würde gleich im Internet nachsehen, wie hoch der Anteil von Albinos an der Gesamtbevölkerung war. Aber ganz gleich, wie die Zahlen aussahen: Die Gruppe der möglichen Verdächtigen war damit gravierend eingeengt.

Er erzählte Hove und Sheriff Spencer, was er erfahren hatte.

»Keine Pigmente? Haben die nicht auch rote Augen?« Spencer war perplex.

»Vermutlich trägt er Kontaktlinsen.« Michael biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszulachen. Der Sheriff machte ein Gesicht, als sähe er einen Zombie durchs Luna County irren.

»Die Tätowierungen sind vermutlich auffälliger als seine Hautfarbe«, sagte Hove. »Die Haar- und Augenfarbe kann er verändern. Aber er muss bei der Hitze langärmelige Sachen tragen, wenn er nicht will, dass sich jeder an einen Typen mit bunten Armen erinnert.«

»Kein Glück mit Chris’ Truck?«, fragte Jamie dazwischen. Bislang hatte sie den Männern schweigend zugehört. Aber Michael war aufgefallen, dass sie erstarrt war, als von den Tätowierungen die Rede gewesen war. Sicher hatte sie die Tattoos nur allzu deutlich vor Augen.

Spencer schüttelte den Kopf. »Ich habe eine Beschreibung und das Kennzeichen rausgegeben. Aber viele Verkehrspolizisten sind auf unseren Highways hier draußen nicht unterwegs. Allerdings ist der Verkehr auch weniger dicht. Wir finden ihn sicher.«

Zwei Ermittler der Staatspolizei gingen ständig zwischen der Bäckerei und ihrem Wagen hin und her. Auf Spencers Bitte hatte Hove ihm zur Beweissicherung ein paar Leute zur Verfügung gestellt.

Spencers klägliche Ausrüstung für solche Zwecke passte in den Angelkasten hinten im Kofferraum. Sie bestand aus einem Puder für Fingerabdrücke, Spurensicherungsfolie, Beweistüten, einer Speziallampe und uralten Latexhandschuhen.

Aber bei dieser Ermittlung war größte Sorgfalt angebracht. Sie konnten sich keine Fehler leisten.

»Chris taucht sicher bald wieder auf«, sagte Michael. Er zog Jamie an sich und rieb ihr den Rücken. Er wusste, dass sie auch an Brian dachte. Unschuldige Kinder weckten ihren Beschützerinstinkt. Und der Neffe, den sie noch nicht kannte, lag ihr besonders am Herzen. Er schwebte vielleicht in großer Gefahr, doch im Augenblick konnte sie ihm nicht helfen.

»Können wir jetzt nach Hause fahren?«, murmelte sie an Michaels Brust. »Hier werden wir doch nicht gebraucht, oder? Chris ist weg. Womöglich ist er unterwegs nach Portland. Ich mache mir Sorgen um ihn.«

Michael schaute Spencer und Hove an. Die beiden Cops tauschten einen Blick aus.

»Ich glaube, es ist nicht nötig, dass Sie bleiben«, antwortete Hove. »Wenn wir Fragen haben, rufe ich Sie an.«

Spencers Handy klingelte und er trat ein Stück beiseite.

»Was ist mit der Familie des Bäckers?« Jamie wandte sich ab und wischte sich über die Augen. Selbst in der brüllenden Hitze fühlte Michaels Brust sich ohne sie plötzlich kalt an. Tränen sah er keine, aber Jamies Augen waren gerötet. »Haben Sie inzwischen Verwandte ausfindig machen können?«

»Bis jetzt haben wir noch keine Angehörigen gefunden.« Hove rieb sich die verschwitzte Stirn.

»Was sagen Sie da?«, blaffte Spencer. Alle fuhren zu ihm herum. Zu Hove gedreht hörte er seinem Anrufer zu. »Wo haben Sie ihn gefunden?«

Spencer presste die Kiefer aufeinander, seine Brust wurde breiter. Michael sah, wie er die Hand um das Telefon krallte. Sämtliche Cops im Umkreis hoben die Köpfe, als würden sie Witterung aufnehmen.

Auf Michaels Armen richteten sich die Härchen auf und Jamie hielt sich an ihm fest. Er trat hinter sie, legte ihr die Hände auf die Schultern und spürte, wie sie zitterte. Ihr Atem beschleunigte sich.

Chris?

Spencer steckte das Telefon ein. »Ein Junge wurde ermordet. Seine Mom hat ihn vor ein paar Minuten in der Garage gefunden. Sieht aus, als wäre er erschossen worden.«

»Ein Junge?«, hauchte Jamie. Michaels Griff um ihre Schultern wurde fester.

»Ein Teenager. Ethan Buell.«

Jamie atmete aus. Nicht Brian. Ihre Angst schlug in Mitgefühl um. Die arme Mutter.

»Ethan hatte einen Job in der Tankstelle. Dort hat er auch gestern Abend gearbeitet, als Sie beide hier ankamen.« Spencers Blick bohrte sich in Michaels.

»Wir haben nicht dort getankt«, sagte Michael. Worauf wollte Spencer hinaus? Unterstellte er ihnen etwa …

»Ethan war ein guter Junge. Freundlich und aufgeschlossen. Ein bisschen redselig vielleicht.«

In Michaels Hirn griffen zwei Zahnräder ineinander. »Glauben Sie, er hat den Verdächtigen gesehen? Ihm vielleicht zu viele Fragen gestellt?«

»Keine Ahnung. Ich weiß nur eins: Hier im Ort ist seit fast einem Jahrzehnt kein Mord passiert. Und jetzt habe ich innerhalb von vierundzwanzig Stunden zwei Tote. Erkennen Sie da irgendeinen Zusammenhang? Ich schon! Vielleicht will ich doch nicht, dass Sie beide die Stadt verlassen. Ich glaube, Sie sollten noch ein Weilchen bei uns bleiben.« Spencer schaute Hove an, der gerade auf dem Handy eine Nummer wählte. »Am Tatort wurde die mutmaßliche Mordwaffe gefunden – ein Ruger-Revolver. Das verdammte Ding ist dreißig Zentimeter lang.« Er brach ab und fixierte Jamie und Michael. »Schauen Sie mich nicht so an. Ich stehe nicht auf Revolver«, murmelte Michael.

»Aber einer von meinen Leuten meint, er würde aussehen wie der, den Chris Jacobs bei seinen Schießübungen benutzt hat.«

»Das ist doch Quatsch!« Jamie riss sich von Michael los und trat ein paar Schritte vor. »Man sieht einer Waffe nicht an, wem sie gehört. Hier draußen in der Pampa hat doch jeder ein bis fünf Waffen im Haus. Bevor Sie Chris irgendwas unterstellen, sollten Sie handfeste Beweise haben.«

»Ich unterstelle niemandem etwas.« Überrascht von Jamies Heftigkeit trat Spencer einen Schritt zurück.

»Das hat sich gerade aber ganz anders angehört.«

Michael sagte nichts. Spencer hatte sich mächtig in die Nesseln gesetzt.

»Wenn der Junge an einer Tankstelle gearbeitet hat, gibt es vielleicht ein Überwachungsvideo. Können Sie damit nicht feststellen, mit wem er geredet hat? Oder vielleicht sogar Autonummern erkennen?«

Spencer räusperte sich. »Wie Sie eben bemerkt haben, Ma’am, sind wir hier mitten in der Pampa, und ich bezweifle, dass Jim Graham in seiner Tankstelle ein Überwachungssystem installiert hat. Aber ich werde es rausfinden.«

Jamie trat einen Schritt zurück.

»Danke«, sagte sie etwas ruhiger. »Ich wollte nicht heftig werden. Aber wenn es um meinen Bruder geht, geht der Beschützerinstinkt mit mir durch. Außerdem bin ich müde und …«

»Wir hatten eine kurze Nacht«, fügte Michael hinzu.

»Mein Gott, ja«, seufzte Jamie.

Sheriff Spencer tippte an seinen Hut. »Schon in Ordnung. Aber jetzt muss ich zu den Buells. Sergeant? Haben Sie vielleicht noch ein Team für mich? Oder soll ich auf die Leute von hier warten, bis sie in der Bäckerei fertig sind?«

Hove ging auf das kleine Geschäft zu. »Ich schaue mal nach, wie es vorangeht, und lasse es Sie dann wissen«, sagte er über die Schulter hinweg.

Spencer tippte noch einmal an seinen Hut und marschierte zu seinem Wagen. Jamie lehnte sich an Michael. Sie war völlig geschafft und er auch. Es war verdammt heiß, trocken und staubig hier. Am liebsten wollte er direkt in ein kühles Bett kriechen und Jamie im Arm halten.

»Hungrig, Prinzessin?«

Jamie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht fassen, dass es noch einen Mord gegeben hat. Als der Sheriff Junge gesagt hat, dachte ich …«

»Ich auch. Einen Moment lang habe ich geglaubt, er redet von Brian. Aber dann hat es sich angehört, als hätten sie Chris gefunden. Gesund und munter.«

»Chris lebt. Das spüre ich«, sagte Jamie. »Der Kerl hat ihn noch nicht gefunden. Glaubst du, der arme Junge von der Tankstelle hat den Tätowierten gesehen? Und ihm gesagt, wo Chris wohnt?«

»Schon möglich. Jedenfalls hat er es vor uns zu Chris geschafft. Er könnte uns von Portland aus gefolgt sein, aber wir haben ihn erst mal nur bis Demming geführt. Als er hier war, muss er sich durchgefragt haben.«

»Wir müssen Chris unbedingt vor ihm finden. Aber wo fangen wir an zu suchen?«

»Das wüsste ich auch gern.«

»Ich möchte jetzt ins Hotel. Noch lieber würde ich nach Portland fahren und nachsehen, ob Chris dort aufgetaucht ist. Nur leider …«

»Hey, Brody.« Hove kam aus der Bäckerei. Er hatte lilafarbene Nitrilhandschuhe an und hielt einen kleinen Stapel Blätter in der Hand. »Können Sie beide sich die mal kurz ansehen?«

Hove streckte ihnen ein paar Kinderzeichnungen hin. Ohne sie anzufassen, betrachteten Michael und Jamie die Buntstiftmalereien, die Hove ihnen nacheinander zeigte. Häufig waren Tiere das Motiv. Ihre Ohren und Schwänze deuteten darauf hin, dass es sich um Hunde handeln sollte. Ein Bild zeigte Chris’ Haus – gut zu erkennen an der hellbraunen Farbe und an den hohen Tannen. Auf einem weiteren Kunstwerk hielten sich ein Mann, eine Frau und ein Kind an den Händen. Die Frau hatte Flügel.

»Oh«, hauchte Jamie. »Das ist seine Mutter. Anscheinend hat Chris Brian erzählt, sie sei ein Engel. Wie schön.« Ihre Stimme zitterte.

Hove drehte das Familienbild um. Auf der Rückseite befand sich eine Bleistiftzeichnung – eine schnelle Skizze, von einem Erwachsenen gefertigt. Sie zeigte das Gesicht einer Frau mit dunklem Haar und dunklen Augen.

Jamie schnappte nach Luft. »Elena.«

Michaels Brust zog sich zusammen. Chris hatte dem Jungen ein Bild von seiner Mutter gezeichnet. Die Strichführung war klar und sicher, so, als hätte er immer wieder dasselbe Motiv zu Papier gebracht. Aus den Zügen des Portraits sprach Sanftheit, die Augen der Frau strahlten Ruhe aus. Entweder hatte Chris Talent oder er hatte das Bild durch unzählige Wiederholungen im Lauf der Zeit perfektioniert. Michael nahm an, dass beides zutraf.

»Drehen Sie bitte alle um«, bat Jamie. Michael wusste, dass sie auf eine Zeichnung von Brian oder Chris hoffte. Aber die Rückseiten der anderen Kinderzeichnungen waren leer. Jamie war die Enttäuschung darüber deutlich anzusehen.

»Wenn Sie die Bilder nicht mehr brauchen, will ich sie haben. Alle.«

Hove nickte. »Ich sorge dafür, dass Sie sie kriegen.«

 

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Chris wählte jede Stunde Jamies Nummern. Ihr Handy klingelte nicht mal. Immer gelangte er sofort auf die Mailbox. Das hieß, sie hatte das Telefon abgeschaltet, der Akku war leer oder sie befand sich in einem Funkloch. Keines der Szenarien, die durch seinen Kopf tanzten, war erfreulich. Ein paarmal ertappte er sich dabei, wie er den alten Truck viel schneller als zulässig Richtung Portland jagte. Er drosselte das Tempo.

Das Letzte, was er jetzt noch brauchte, war ein Strafzettel. Er setzte alles daran, nie auf einem Radar zu erscheinen. Ganz gleich auf welchem.

Aber wie hat der Geistermann mich gefunden?

Er konnte nur beten, dass mit seiner Schwester alles in Ordnung war.

»Dad, ich muss aufs Klo«, sagte Brian.

Chris schaute auf die Uhr. Es war schon nach Mittag. Höchste Zeit, etwas zu essen. »Okay. Ich fahre so bald wie möglich runter.«

»Gehen wir zu McDonald’s?« Brians Augen fingen an zu strahlen. »Bitte!«

»Mal sehen.« Kinder hassten diese Antwort – Eltern liebten sie. »Kommt drauf an, was wir finden.« Chris versuchte, im Truck die Beine zu strecken. Er hatte genug vom Fahren und wünschte sich einen Ort, an dem er ein wenig ausruhen konnte. Zur Not tat es auch ein Fastfood-Restaurant. Er nahm die nächste Ausfahrt, an der Rastmöglichkeiten angekündigt wurden.

»McDonald’s!« Die übliche begeisterte Reaktion aller Kinder auf den Anblick des goldenen Ms.

»Hm.« Chris betrachtete sehnsüchtig den kleinen Backsteinbau neben dem Fastfood-Riesen. Das Diner wirkte altmodisch und gemütlich. So, als würde hier noch die Großmutter in der Küche stehen. »Wie wär’s mit dem Laden daneben? Vielleicht haben die gegrillten Käse.« Danach war Brian ganz verrückt.

Und Bier.

»Meinst du?« Brian schürzte nachdenklich die Lippen.

»Komm, wir gucken uns die Speisekarte an.« Falls kein gegrillter Käse draufstand, würde Chris fragen, ob die Küche einen machen konnte. Für einen kleinen Jungen war das doch sicher möglich.

Chris stellte den Wagen ab. Mit einem sehnsüchtigen Blick Richtung McDonald’s drückte Brian die Tür des Diners auf. Aus dem fast leeren Gastraum strömte ihnen kühle Luft entgegen. Perfekt. Die Kellnerin begrüßte sie mit einer Kaffeekanne in der einen und zwei Kaffeetassen in der anderen Hand.

»Nehmen Sie schon mal Platz. Ich bin gleich da.«

Chris schob Brian zu einer Sitzecke in der Nähe der Theke und ließ sich auf die dick gepolsterte Bank fallen. Die anderen fünf Gäste im Restaurant nahmen kaum Notiz von ihnen und das einzige Geräusch kam von einem Fernseher. Die Speisekarten lagen auf den Tischen. Brian fand sofort die Kindergerichte.

»Gegrillten Käse mit Pommes«, sagte er. Dann zog er die Stifte und ein Malbuch aus seinem Rucksack und widmete sich seiner neuesten Leidenschaft: Iron Man.

Danke, lieber Gott.

Chris überflog die Speisekarte und entschied sich für einen Cheeseburger mit Speck. Dann lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Vatersein war ein Vierundzwanzigstunden-Job. Er machte ihn gerne, hätte sich aber manchmal etwas Unterstützung gewünscht. Sich um Brian kümmern zu müssen, hatte ihm nach Elenas Tod geholfen. Manchmal hatte er daran gedacht, nach Portland zurückzukehren und Jamie um Hilfe zu bitten. Aber dann wäre Brian viel zu leicht zu finden gewesen.

Keine gute Idee.

Weit weg von anderen Menschen waren sie am sichersten. Weit weg von der Gesellschaft, von den Massen, von Reportern und kranken Typen.

»Was darf ich Ihnen bringen?«

Chris schreckte auf und blinzelte. Die Kellnerin war verdammt süß und sicher noch keine zwanzig. Mit schief gelegtem Kopf wiederholte sie ihre Frage. Ihr verschmitztes Lächeln sagte, dass sie es gewohnt war, von Männern angestarrt zu werden.

Chris zeigte auf Brian. »Gegrillten Käse mit Pommes, dazu Milch. Für mich den Cheeseburger mit Speck und ein Coors Light.«

»Kommt sofort.« Sie ging mit flotten Schritten zur Theke, schenkte das Bier und für Brian ein Glas Milch ein und war nach kaum einer Minute mit einem sonnigen Lächeln und den Getränken zurück. Chris nahm einen Schluck Bier und genoss das eisige Prickeln in der Kehle. Brian war völlig in seine Malerei vertieft. Sein Sohn redete nicht ununterbrochen, im Gegensatz zu vielen anderen Kindern – und auch zu Chris damals, bevor … Chris hatte zu den Kindern gehört, die immer alles kommentierten, was um sie herum vorging. Aber nach seiner Rückkehr hatte er nur noch das Nötigste gesprochen. Er hatte seine Umgebung im Blick behalten und das Reden anderen überlassen.

»Klo?« Brian starrte seinen Vater fragend an. Vermutlich hatte er schon ein paarmal gefragt.

Chris zeigte auf das Toilettenschild in der Nähe der Theke und stand auf.

»Ich kann das alleine«, protestierte Brian, während er seinem Vater hinterherstiefelte.

»Ich bringe dich bloß hin.« Chris öffnete die Tür der Herrentoilette und warf einen Blick in die Kabinen. Niemand da. »Ich warte am Tisch auf dich. Und wasch dir ordentlich die Hände.«

Brian nickte. Chris schob sich wieder auf die Bank. Natürlich konnte sein Sohn allein zur Toilette – nachdem er sie sich genau angesehen hatte und solange er die Tür im Auge behielt. Das war nicht übertrieben. Das war umsichtig. Mit Schaudern dachte er daran, wie er in seiner Kindheit unbeaufsichtigt durch die Nachbarschaft gestreift war. Als er einmal zu spät zum Abendessen gekommen war, war sein Vater stinksauer gewesen. Inzwischen wusste Chris, dass er sich nicht um ihn gesorgt hatte, sondern genervt gewesen war, weil seine Mutter sich Sorgen gemacht hatte.

Dass ein Pädophiler sich seinen Sohn schnappen könnte, war seinem Vater damals nicht in den Kopf gekommen.

Chris’ Augen hingen an der Toilettentür.

Die Kellnerin stellte ein kleines Körbchen mit Crackern auf den Tisch. »Falls er es nicht erwarten kann«, sagte sie mit einem kecken Lächeln. Chris dankte ihr, ohne den Blick von der Tür abzuwenden.

Als die Tür aufging, atmete er durch. Er riss ein Päckchen Cracker auf und legte es auf Brians Malbuch.

»Lecker!« Brian fiel über die krümeligsten Kekse aller Zeiten her. Chris kaufte die Dinger nie. Dafür putzte er nicht gerne genug.

Ein Wort aus dem Fernseher ließ ihn aufhorchen.

… ermordet …

Die Reporterin stand mit ernster Miene in einer Straße, die Chris nur zu gut kannte. Auf dem Nachrichtenbalken unten am Bildschirm stand Mord in Demming. Mehr als das eine Wort hatte Chris nicht verstehen können.

Er stand auf und ging zur Theke.

»Ihr Essen ist fertig.« Die Kellnerin schob sich mit zwei Tellern an ihm vorbei.

Den Blick an den Fernseher geheftet, deutete er auf den Tisch. Er hatte keinen Hunger mehr. Jetzt hörte er auch, was die Reporterin sagte. »… handelt es sich um Juan Rios, den Besitzer der Bäckerei. Er wurde bei einem nächtlichen Einbruch getötet …«

Juan. Chris’ Knie drohten wegzuknicken. Er musste sich an der Theke festhalten.

»Die Polizei möchte sich zur Todesursache noch nicht äußern. Aber alles deutet auf ein Gewaltverbrechen hin.«

Juan.

Was, wenn Chris nicht sein Haus beobachtet und den Geistermann gesehen hätte? Würde die Frau dann jetzt auch über seinen und Brians Tod berichten?

Wie hat der Geistermann von meinem Haus zu Juan gefunden?

Für Chris gab es keinen Zweifel daran, wer Juan auf dem Gewissen hatte. Er überlegte. In seinem Haus hatte ganz sicher nichts herumgelegen, was irgendwie mit Juan in Verbindung gebracht werden konnte. Aber jeder in der Stadt wusste, dass er den Bäcker oft besucht hatte und dass Brian gerne mit dem Hund des Alten spielte. Der Geistermann musste mit jemandem gesprochen haben, der seine Gewohnheiten kannte.

Chris warf einen Blick auf Brian, der sich über den gegrillten Käse hermachte. Von den Fernsehnachrichten hatte der Junge nichts mitbekommen.

»… bislang keine Verdächtigen …«

Natürlich nicht. Er ist ein Geist.

Die Kamera schwenkte zu Juans Bäckerei, dann zu einer Gruppe von Cops und zu den Schaulustigen draußen auf dem Gehsteig. Chris erkannte Sheriff Spencer. Der Cop war okay. Aus Chris’ Angelegenheiten hatte er sich weitgehend herausgehalten und die Nachricht von Elenas Tod taktvoll und mitfühlend überbracht. Die Kamera zoomte näher heran und Chris sah plötzlich eine Frau mit langem schwarzem Haar.

Elena.

Energisch schüttelte er den Gedanken ab. Elena war tot. Aber es passierte ihm öfter, dass er glaubte, sie irgendwo zu sehen. In Ostoregon lebten viele Frauen, die von amerikanischen Ureinwohnern abstammten oder lateinamerikanischer Herkunft waren, und viele hatten genauso langes Haar wie damals Elena. Von hinten ähnelten sie seiner verstorbenen Frau und bescherten ihm immer wieder Momente, in denen sein Herz fast stehen blieb. Die Schwarzhaarige drehte sich zu dem hochgewachsenen Mann an ihrer Seite. Jetzt sah Chris sie im Profil.

Jamie.

Wie bitte? Seine Schwester, um die er sich die größten Sorgen machte, stand in seiner Stadt vor Juans Haus. Meine Güte. Chris stieß den Atem aus. Ach du heilige Scheiße. Erst Juan und nun war plötzlich Jamie im Fernsehen. In seine Trauer und sein Entsetzen mischte sich Erleichterung. Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

Seine Augen saugten sich an seiner Schwester fest. Da stand sie – gesund und munter. Sein Körper reagierte auf die nachlassende Anspannung mit pochenden Kopfschmerzen. Chris rieb sich die Schläfen und sah sich den Mann neben seiner Schwester noch einmal genauer an. Als sie etwas sagte, drehte der Typ den Kopf zu ihr.

Chris blieb beinahe die Luft weg. Er spürte, wie die Adern in seinem Kopf pulsierten.

Michael Brody. Als der Mann Jamie den Arm um die Schultern legte, kam Chris’ Welt vollends ins Trudeln. Er musste sich an der Theke festhalten. Das konnte doch nicht wahr sein.

Warum zum Teufel war Michael Brody bei seiner Schwester?