Kapitel 10

 

Gerald hatte eine kleine Reisetasche gepackt, vollgetankt und den Wagen eine Meile von Jamies Haus entfernt an einer Tankstelle geparkt. Die Wartezeit auf weitere Informationen vertrieb er sich mit dem neuesten Roman von Lee Child. Nach dem Einbruch am Morgen wollte er auf keinen Fall näher an Jamies Haus heran. Zum Glück kannte sein Boss genügend Leute. Und für ein Update von einem der Cops, die das Jacobs-Haus rund um die Uhr bewachten, genügte ein simpler Anruf.

Irgendetwas würde passieren, das spürte Gerald genau. Und tatsächlich, gerade als Childs Romanheld Jack Reacher mit bloßen Händen auf vier unterbelichtete Fleischklöpse losging, klingelte sein Handy.

Laut seinem Informanten war Michael Brodys schwarzer Schluckspecht vor Jamies Haus vorgefahren. Mit ihr auf dem Beifahrersitz. Die beiden waren hineingegangen und nach zehn Minuten wieder herausgekommen – Jamie mit einem kleinen Koffer in der Hand. Jetzt war der SUV in seine Richtung unterwegs.

Nachdem er die Seite sorgfältig markiert hatte, schlug Gerald das Buch widerwillig zu. Waren die beiden unterwegs zum Flugplatz? Auf diesen Fall war er vorbereitet. Brodys SUV donnerte an der Tankstelle vorbei, Gerald fuhr ihm hinterher. Aber anstatt zum Flugplatz abzubiegen, fuhr Brody auf dem Highway weiter nach Osten. Er folgte der Schlucht, die der Columbia River durch die Kaskaden gefressen hatte. Gerald hatte kein Auge für das breite, blaue Gewässer zu seiner Linken. Sein Blick hing an dem schwarzen Range Rover. Der Fluss markierte die Nordgrenze des Staates, trennte Oregon von Washington. Rechts der Straße stiegen haushohe Felsen empor. Hier und da rauschte ein Wasserfall in die Tiefe.

Für die Bürger Oregons war die Schlucht ein Naturwunder. Gerald registrierte sie kaum.

Stunden später öffneten sich die felsigen Hänge zu einer weiten Ebene. Die Landschaft wurde trockener, sah braun aus und verbrannt. Gerald bezeichnete diese Gegend insgeheim als Hinterwäldler-Territorium. Östlich der Kaskaden lag das Reich der Ranger und Cowboys. Wie weit nach Osten würden Jamie und Brody fahren? Bis Boise? Montana? Viel weiter sicher nicht. Sonst wären sie geflogen.

Etwa fünfzig Meilen vor der Grenze zu Idaho verließ der SUV den Highway. Ein paar staubige Landstraßen und neunzig Minuten später befanden sie sich in einem winzigen Provinznest. Gerald hielt an einer Tankstelle mit einer einzigen Zapfsäule. Michaels Wagen behielt er im Auge. Er stand vor dem Büro des Sheriffs und Michael und Jamie waren hineingegangen.

Verdammt, ist das heiß. Gerald streckte den verspannten Rücken, während der Tankwart sich mit seinem Wagen beschäftigte. Hoffentlich war die Fahrt jetzt zu Ende. Warum waren die beiden zum Sheriff gegangen? Wussten sie nicht, wohin sie fahren mussten?

Sein Gefühl sagte ihm, dass Chris Jacobs sich in diesem gottvergessenen Kaff versteckte.

Er sah den Tankwart auf die Tätowierungen an seinen Handgelenken starren, die unter seinem Shirt hervorlugten. Gerald zerrte an den Ärmeln, zog sie tiefer, um die Tattoos zu verdecken. Der Kerl hielt ihn vermutlich für verrückt, weil er bei dieser Hitze Jeans und ein Langarmshirt trug. Es war ein eng anliegendes Funktionshemd, das seine gut definierten Arm- und Brustmuskeln zur Geltung brachte und den Schweiß vom Körper wegtransportierte. Für heiße Tage gar nicht so übel.

Er presste das Handy kurz ans Ohr und tat, als würde er telefonieren.

»Mist. Und was jetzt?«, sagte er so laut, dass der Tankwart ihn hörte.

»Probleme?«, fragte der junge Tankwart. Er sah aus wie ein typischer Bursche vom Land. Braungebrannt, schmutzige Cargo-Shorts, ein T-Shirt, das irgendwann einmal weiß gewesen war. Fehlten nur noch ein Grashalm im Mund und die Kautabakdose in der Gesäßtasche.

Bilder der Teenager aus seiner Kindheit flackerten kurz vor Gerald auf. Der Junge hätte zu den beliebteren Mitschülern gehört. Durchschnittlich aussehend, selbstbewusst. Typen wie er hatten Gerald gehänselt – den Freak. Gerald stellte sich gerader hin und reckte die Brust vor. Einer der Gründe, sich in Topform zu halten, war das Selbstbewusstsein, das er daraus schöpfte. Dasselbe galt für seine Tätowierungen. Manchmal wollte er sich die Kleider vom Leib reißen und der ganzen Welt seine Farben zeigen. Aber das war nicht der Sinn der Tattoos. Er hatte sie für sich machen lassen. Sie erlaubten ihm, seinen Körper mit Stolz zu betrachten, steigerten sein Selbstwertgefühl. In sehr privaten Augenblicken hatten seine Opfer seine vielfarbige Haut gesehen. Der Anblick hatte sie eingeschüchtert, ihnen gezeigt, wie viel Macht er über sie hatte.

Gerald schüttelte sein Telefon. »Ich lande andauernd auf der Mailbox. Das ist mir jetzt schon fünfmal passiert.«

Der Junge nickte. »So was nervt.«

»Ja, verdammt. Ich bin den ganzen Weg von Boise hierher gefahren, um jemandem einen Truck abzukaufen, und jetzt kann ich ihn nicht mal erreichen. Er wollte, dass ich ihn von hier aus anrufe, damit er mir den Weg erklären kann. Ich habe ihm gesagt, ich hätte ein Navi. Aber er hat bloß gelacht. Meinte, seine Adresse sei da nicht drin. Gibt es das hier draußen öfter?«

Schiefe weiße Zähne grinsten ihn an. »Ohne Ende. Ein Navi bringt Sie nach Demming. Aber kein Programmierer verschwendet seine Zeit mit irgendwelchen Feldwegen, an denen alle zwanzig Meilen mal ein Haus steht.«

Gerald stierte die Straße entlang. »Dann setze ich mich am besten irgendwo hin und warte, dass der Kerl sich bei mir meldet. Ich hoffe bloß, er glaubt nicht, ich hätte es mir anders überlegt.«

»Wem wollen Sie den Wagen denn abkaufen?«

Ja! Gerald setzte einen überraschten Blick auf. »Sie meinen, Sie kennen ihn vielleicht? Kennt hier tatsächlich noch jeder jeden?«

Der Junge zuckte mit den Schultern und schaute auf den Zähler der Zapfsäule. »Ich kenne die meisten Leute.«

»Er heißt Chris Jacobs. Schon mal gehört?«

Eine Augenbraue hob sich leicht. »Ja. Klar. Ich wusste gar nicht, dass er seinen Truck verkauft. Das Ding ist ein Schrotthaufen. Und um so was zu kaufen, sind Sie so weit gefahren?«

Gerald versuchte, besorgt dreinzublicken, während in seinem Inneren ein Feuerwerk abbrannte. »Sie glauben, ich verschwende meine Zeit? Eigentlich suche ich bloß eine alte Karre, mit der mein Neffe zur Schule fahren kann.«

»Oh. Ja, das schafft die Mühle grade noch.«

»Wissen Sie, wo ich ihn finde?«

Die Pumpe hatte abgeschaltet und der Junge ließ die Zapfpistole noch ein paarmal klicken, um den Tank ganz vollzumachen. Dann knallte er sie in die Halterung. »Klar. Aber versuchen Sie lieber weiterhin, ihn anzurufen. Chris Jacobs mag keine Überraschungsbesucher. Er hat beinahe meinen Kumpel Justin erschossen, als der hinter einem Kojoten her war und dabei über Jacobs’ Grundstück musste. Ich zeichne Ihnen den Weg auf. Wenn er nicht daheim ist, können Sie in der Bäckerei nach ihm fragen. Juan, der alte Bäcker, ist der Einzige, mit dem Chris manchmal redet. Er könnte wissen, wo Chris sich rumtreibt oder ob er überhaupt in der Gegend ist.«

Gerald versuchte, sich seine Freude nicht anmerken zu lassen, als der Junge die Wegbeschreibung mit einem Bleistiftstummel auf die Benzinquittung kritzelte. Nur in einer sehr kleinen Stadt kannte immer noch jeder jeden und gab bereitwillig Auskunft, wo jemand wohnte.

Jetzt konnte er die Sache zu Ende bringen. Die Vorstellung, Chris Jacobs ins Jenseits zu befördern, machte ihn kribbelig vor Ungeduld. Er malte sich aus, wie seine Hände sich um Chris’ Hals legten, wie Chris nach Luft rang. Wie seine Augen verrieten, dass er wusste, wer sein Killer war. Oder wie Chris sein eigenes Blut an die Wand spritzen sah, während Geralds Messer sich in seinen Hals bohrte. Er und Chris hatten eine gemeinsame Vergangenheit. Es war Zeit für den Showdown.

 

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Chris studierte im schummrigen Licht den Monitor. Vier Kameras zeigten verschiedene Ansichten seines Hauses. Drei waren außen montiert, eine innen. Eigentlich hatte er sie mit Bewegungsmeldern ausstatten wollen, aber wo er wohnte, rannten zu viele Tiere herum. Auf den Schwarz-Weiß-Bildern tat sich nichts. Bislang hatte sich niemand dem Haus genähert.

Brian gab im Schlaf einen Laut von sich. Ein gutes Geräusch, ein zufriedenes. Für den Jungen war die Nacht in dem Zimmer über der Bäckerei ein Abenteuer. Brian war ganz versessen auf die süßen Sachen, die Juan buk. Auch deshalb schlief er gerne über dem Laden. Chris liebte den Duft und den Geschmack der Brote, aber das süße Zeug konnte ihm gestohlen bleiben.

So was aß er schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Schweißperlen rannen über seinen Rücken. Er spürte einen Anflug von Übelkeit und wischte sich mit der zitternden Hand über den Mund. Keine Kuchen. Kein Zuckerguss. Nicht für ihn. Er schloss die Augen und atmete tief durch.

Chris dachte an die Zeit im Krankenhaus. Wie lange er dort gelegen hatte, wusste er noch immer nicht genau. Laut seinen Eltern mehrere Monate. Für ihn lag diese Zeit in dichtem Nebel. Ärzte, Krankenschwestern, Polizisten aller Dienstgrade, Detectives: Mit niemandem hatte er gesprochen, hatte bei allen Fragen beiseitegeschaut. Nicht einmal seine Eltern hatte er ertragen. Er wusste, dass er schlimm aussah, mit den Brandnarben im Gesicht, mit den kahlen Stellen, an denen ihm das Haar ausgerissen worden war. Später erfuhr er, dass seine Wangenknochen und die Nase gebrochen waren. Vermutlich mehrfach.

Aber es gab ein paar Dinge, an die er sich gut erinnerte. Jamie. Er dachte an sein erstes Wiedersehen mit ihr. Wie ihre grünen Augen verwundert an den Bandagen gehangen hatten.

Und er erinnerte sich an die Twinkies – kleine Kuchen mit Cremefüllung –, eins der vielen Geschenke. Das Krankenhauszimmer war voller Blumensträuße, Ballons und Geschenkkörbe gewesen. Viele Sachen stammten von Leuten, die er gar nicht kannte. Von Fremden, die von seinem Martyrium in der Zeitung gelesen hatten. Von Menschen, die zwei Jahre lang dafür gebetet hatten, dass alle Kinder gesund nach Hause kamen. Er war die Antwort auf diese Gebete.

In einem seiner klareren Momente hatte er ein ganz besonderes Geschenk entdeckt. Es war ein roter Spielzeugeimer voller einzeln in Zellophan verpackter Twinkies. Der Eimer war in eine Transparentfolie eingeschlagen und mit einer roten Schleife verziert. Ein paar Ballons hatten ihn halb verdeckt. Aber ihm hatte dieses Geschenk ins Auge gestochen wie ein Leuchtsignal. Er hatte es reglos angestarrt. Wieder und wieder war er eingedöst, aber immer, wenn er aufgewacht war, hatte der Eimer noch dagestanden. Manchmal an einem anderen Platz, weil weitere Geschenke dazugekommen waren, für die Platz geschafft werden musste. Als während einer seiner wachen Phasen endlich einmal eine Schwester im Zimmer war, hatte er auf den roten Eimer gezeigt. Die Frau hatte erschrocken die Augen aufgerissen. Noch nie hatte er Blickkontakt mit jemandem vom Pflegepersonal gesucht. Aber jetzt sah er sie an. Er zeigte noch einmal und fixierte sie dabei.

»Du willst dir die Geschenke ansehen?«, hatte sie aufgeregt gefragt. Sie griff nach einem Stofftier. Chris schüttelte den Kopf und deutete auf die Twinkies. Zögernd setzte sie das Stofftier zurück an seinen Platz und versuchte, seinem Blick zu folgen. »Du willst den roten Eimer?«

Er nickte.

»Du darfst ihn dir ansehen. Aber ich glaube, essen solltest du davon im Augenblick nichts. Ich frage nachher den Arzt, ob du eins haben darfst.« Sie nahm den Eimer und schaute hinein.

Chris schüttelte energisch den Kopf. Auf gar keinen Fall würde er einen Twinkie essen. Die Schwester zögerte bei seiner Bewegung, glaubte, sie hätte wieder das falsche Geschenk in der Hand. Mit einer Geste bat er sie, es zu ihm zu bringen. Sie stellte den Eimer neben ihn aufs Bett und er griff nach dem Umschlag. Falsch. Er versuchte, nach dem kleinen Umschlag zu greifen. Seine Hände nahmen die Befehle aus seinem Gehirn nicht an.

Die Schwester zog die Karte für ihn heraus. »Sieht aus, als wäre sie schon mal aufgemacht und gelesen worden.« Beim Überfliegen der Nachricht bildete sich eine kleine Falte zwischen ihren Augen. »Sie ist nicht unterschrieben. Aber das ist bei einigen so.« Sie lächelte ihn an. »Die Leute wollen dir eben eine Freude machen. Du warst so lange vermisst, und jetzt sind sie froh, dass du wieder daheim bist.«

Chris machte eine ungeschickte Beeil-dich!-Geste. Sein Magen fing an zu rumoren.

Sie las ihm die Nachricht laut vor. »Gute Besserung, Chris. Deine Familie kann sich sehr glücklich schätzen, dich wiederzuhaben. Mögest du immer Twinkies im Mund haben.«

Chris hatte sich quer über sein Bett übergeben.

Jetzt verschwamm Juans Dachzimmer vor seinen Augen. Galle stieg ihm in die Kehle und er stürzte zum Mülleimer. Er würgte und würgte.

Mögest du immer Twinkies im Mund haben. Mit der Stimme der Krankenschwester im Kopf würgte er noch einmal. Er sank auf die Knie, beugte sich über den Eimer und wartete, bis sein Magen sich beruhigte. Schweiß tropfte von seiner Stirn. Nach einer Weile sank er mit dem Mülleimer im Arm gegen die Wand und glitt zu Boden.

Scheiße.

So heftig war es schon seit mindestens sechs Monaten nicht mehr gewesen. Die Entdeckung der Kinderskelette hatte alles wieder aufgewühlt. Angewidert von dem galligen Geschmack spuckte er noch einmal in den Eimer. An Aufstehen war noch nicht zu denken. Mit geschlossenen Augen lehnte er den Kopf an die Wand. Er brauchte noch ein paar Minuten. Um nicht sein eigenes Erbrochenes riechen zu müssen, atmete er durch den Mund. Die Technik funktionierte halbwegs.

Twinkies. Zum Kotzen.

Sein leerer Magen krampfte sich zusammen.

Der Geistermann hatte einen Twinkies-Fetisch. Gesundes Essen war in seinem Höllenloch eine Seltenheit, aber Twinkies gab es immer. Anfangs hatten die Kinder sich über die ständige Verfügbarkeit dieses süßen Snacks gefreut. Aber dem Geistermann zuzuschauen, wie er eins aß … wie er die cremige Mitte mit der Zunge aushöhlte … dabei blieb jedem Kind der kleine Kuchen im Hals stecken. Später verlangte der Geistermann von den Jungen, die Twinkies im Mund zu halten, wenn …

Chris’ Magen fand noch weitere Flüssigkeiten, die er in den Eimer schleudern konnte.

Mögest du immer Twinkies im Mund haben.

Dieser verdammte Wahnsinnige. Dieser perverse Kinderschänder. Salzige Tränen rannen über Chris’ Gesicht.

An jenem Tag im Krankenhaus war ihm klar geworden, dass er nie jemandem ein Wort über den Geistermann sagen durfte. Der Geistermann hatte ihn gefunden. Und ihm gezeigt, dass er selbst in einem Krankenhauszimmer mit einem Wachmann vor der Tür, der die Medien-Aasgeier vertrieb, noch Macht über ihn hatte. Die Karte war eine Warnung. Der Geistermann bedrohte seine Familie.

Deine Familie kann sich sehr glücklich schätzen, dich wiederzuhaben.

Wenn Chris jemandem etwas erzählte, setzte er damit ihr Leben aufs Spiel. Zu ihrem Schutz musste er schweigen. Er schwor sich, nie über die Zeit in seinem Kerker zu reden. Ganz gleich, welchen Preis er dafür bezahlen musste.

Brian seufzte im Schlaf. Inzwischen gab es noch einen weiteren Schwur. Nie im Leben würde ein Perverser seinen Sohn so berühren, wie der Geistermann ihn berührt und von ihm Besitz ergriffen hatte. Nie würde das Leben seines Sohnes aus den Fugen geraten. Bislang war es Chris gelungen, sein Versprechen zu halten. Brian war nie allein, es mangelte ihm an nichts. Chris war sein bester Freund, sein Lehrer, sein Spielkamerad und Vertrauter. An seine Mutter erinnerte Brian sich nicht. Manchmal fragte er nach ihr. Aber noch genügte ihm die Antwort, seine Mutter sei jetzt ein Engel. Die schwierigeren Fragen würden später kommen.

Chris atmete tief aus. Langsam beruhigte sich sein Magen. Vorsichtig stemmte er sich vom Boden hoch und trug den Mülleimer ins Badezimmer. Er spülte den Inhalt in der Toilette hinunter und schwenkte den Eimer dreimal aus. Dann drückte er noch einmal auf die Spülung. Leise ging er durch den kleinen Raum und warf einen Blick auf seinen Laptop. Alles ruhig zu Hause. Vielleicht war er übervorsichtig, hatte einen übersteigerten Beschützerinstinkt.

Er wird Brian niemals anfassen.

Nein, Chris’ Instinkte waren völlig in Ordnung. Solange der Geistermann noch lebte, musste er seinen Sohn gut bewachen.

Chris ging zum Fenster und stellte den Eimer hinaus aufs Dach. Der Gestank, den er immer noch verströmte, drang auch in den Raum, aber er konnte das Fenster nicht schließen. Dafür war es viel zu warm. Der Geruch würde sich verziehen. Er schaute auf die stille Straße hinunter und dachte daran, wie Brian mit Juans Hund gespielt hatte. Jeder Junge sollte einen Hund haben. Vielleicht konnte er Brian einen besorgen, wenn sich die Lage beruhigt hatte. Einen, der ein gutes Zuhause brauchte. Einen aus dem Tierheim. Das würde ihnen beiden guttun.

Die schmale Mondsichel hing tief am dunklen Nachthimmel. Chris starrte sie an. Er mochte die Ruhe in dieser Stadt, den weiten Himmel und das weite Land. Er wollte nicht hier weg. Brian kannte nur dieses eine Zuhause und er wollte dem Jungen ein stabiles Umfeld bieten. Aber wenn er sich bedroht fühlte, wenn er eine Gefahr witterte, würde er mitten in der Nacht mit ihm ins Auto steigen. Er hatte ein Dutzend Fluchtpläne parat. Der Gedanke, dass sie beide spurlos verschwinden konnten, war beruhigend, aber Chris hoffte noch immer, dass er diese Pläne nie in die Tat umsetzen musste. Er fühlte sich wohl hier. Hier konnte er atmen und hatte vielleicht eine Chance auf Heilung.

Als er sich streckte, knackte seine rechte Schulter. Auch das hatte er dem Geistermann zu verdanken. Er massierte das Gelenk und wollte den Laptop zuklappen. Genug für heute. Er schlief schon fast im Stehen ein. Doch als er die Hand auf den Deckel legte, erstarrte er. Vor seinem Haus stand ein Mann. Den Rücken an die Außenwand gepresst, spähte er durch ein Fenster. Das Mondlicht ließ die Pistole in seiner Hand aufschimmern. Chris starrte auf das Haar des Mannes, erkannte die Haltung, die Form des Gesichts.

Es war Zeit, Demming zu verlassen.

 

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Es war vier Uhr morgens, aber es war niemand da.

Gerald hatte die kleine Bleibe schnell gefunden. Das simple Holzhaus stand in einer Gruppe von Nadelbäumen auf einem kleinen Felsplateau. Den Wagen hatte er eine halbe Meile entfernt hinter einem Gebüsch unter einer Baumgruppe stehen lassen. Andere Fahrzeuge waren ihm auf dem Weg hier heraus nicht begegnet.

In Demming wurden abends buchstäblich die Bürgersteige hochgeklappt. In der Innenstadt waren nach acht sämtliche Lichter erloschen. Die Tankstelle hatte schon um sieben dichtgemacht. Von Weitem hatte er beobachtet, wie Michael und Jamie zum Essen in das Diner gegangen waren. Danach waren sie in einer kleinen Frühstückspension verschwunden und nicht mehr herausgekommen. Offenbar wollten sie sich erst am nächsten Tag mit Jamies Bruder treffen.

Im fahlen Mondlicht, das durch die Fenster fiel, durchsuchte Gerald sämtliche Schubladen. Den Inhalt warf er achtlos zu Boden. Wenn Chris jetzt noch nicht zu Hause war, würde er in dieser Nacht sicher nicht mehr kommen. Gerald fuhr mit der Hand unter jeder Schublade entlang. Langsam fragte er sich, ob er im richtigen Haus war. Er fand keinerlei Hinweise darauf, dass Chris Jacobs hier wohnte.

Innerlich brodelte er. Er hatte einen Plan gehabt, Erwartungen. Das alles konnte er jetzt vergessen. Jede Faser in ihm wollte den Mann vernichten, der sich jahrelang vor ihm versteckt hatte. Aber es sah aus, als wäre er ihm wieder entwischt. Geralds Hände und seine Seele gierten nach Blut.

Er schlich in die kleine Küche und leerte auch dort alle Schubladen aus. Keine Post, keine Rechnungen, nichts, was Jacobs’ Namen trug. Nicht einmal Fotos. An der Wand hingen nur Bilder, die ein Kind gemalt hatte. Den Kleidern und dem Spielzeug nach handelte es sich um einen kleinen Jungen. Noch keine zehn Jahre alt. Gerald machte sich an die Schränke. Töpfe, Pfannen, Schüsseln. Nichts davon verriet, wer hier wohnte.

Er öffnete den Kühlschrank. Manchmal versteckten die Leute wichtige Unterlagen oder Geld in falschen Flaschen. Aber was er fand, war unverdächtig. Den Milchkarton schaute er sich genauer an. Die Milch war noch eine Woche lang haltbar. Also war erst kürzlich jemand hier gewesen.

Hatte Jacobs einen Sohn? Gerald hatte im Haus keine Frauenkleider gefunden. Es gab keine weibliche Note und im Badezimmer standen nur Toilettenartikel für Männer. Wo war die Mutter des Kindes? War Chris geschieden? Erneut fragte sich Gerald, ob er das falsche Haus durchsuchte.

Er riss die Kissen von der Couch, öffnete die Reißverschlüsse und entfernte die Bezüge. Nichts.

Verdammt!

Es gab kein Festnetztelefon, keinen Computer – nur einen Schreibtisch, der aussah, als würde dort normalerweise ein Laptop stehen.

Welchen Sinn hatten sonst der Drucker und ein Regal voller Fachbücher über Programmiersprachen? Gerald ging ins Schlafzimmer zurück und sah sich noch einmal eingehend um. Was war ihm entgangen?

Er betrachtete die kahlen Wände. Wer immer hier lebte, hatte sich hier nie häuslich eingerichtet.

Oder er lebte so, dass er von einer Minute zur anderen spurlos verschwinden konnte. Der Gedanke ließ Gerald erstarren.

Keine Papiere, keine Bilder.

Plötzlich war er sich ganz sicher: Er befand sich im richtigen Haus.

Es war das Haus eines Schattenwesens, das seinen Sohn beschützen wollte.

 

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Fünfzehn Minuten, nachdem er den Geistermann auf dem Laptop gesehen hatte, saß Chris mit klopfendem Herzen im Truck. Brian hing dösend im Kindersitz. Er konnte die Augen nicht offenhalten und hatte nicht gefragt, warum er mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wurde. Chris war jederzeit zum Aufbruch bereit. Allem, was er sich je angeschafft hatte, hatte er ein unsichtbares Etikett mit der Aufschrift mitnehmen oder zurücklassen verpasst. Stets hatte er sich überlegt, ob er sich bei einer überstürzten Abreise von einem Gegenstand trennen sollte oder ob er so leicht und wichtig war, dass er ihn einpacken konnte.

Er verabschiedete sich nicht von Juan. Der alte Mann hatte einen leichten Schlaf und hatte sicher gehört, wie sie das Haus verließen. Schon vor Jahren hatte er Juan gesagt, dass eines Tages vielleicht jemand nach ihnen suchen würde. Mehr hatte er ihm nicht verraten. Der alte Mann konnte sehr gut zwischen den Zeilen lesen und wusste, dass Chris ohne ein Wort verschwinden würde, wenn Brian in Gefahr war.

Dank guter Planung und etlicher Proben für den Ernstfall war Chris inzwischen ein Meister im Packen und Verschwinden. Jetzt zahlte sich das aus. Er und Brian hatten lange Fahrten in den Süden bis nach Mexiko unternommen und er wusste genau, wo er hinwollte. An der mexikanischen Westküste gab es eine kleine, verschlafene Stadt. Dort gingen die Uhren noch langsam, die Leute waren freundlich und nicht zu neugierig. Anders als hier. Hier versuchten die Tratschtanten immer wieder, ihre Nase in sein Leben zu stecken. Angeblich sorgten sie sich um Brian. Mit dem Umzug nach Mexiko hatte Chris bislang nur gezögert, weil er die Staaten ungern verlassen wollte. Er hatte fast alles verloren. Seine Eltern und Brians Mutter. Hier zu leben, war eine der letzten Verbindungen mit seiner Vergangenheit.

Elena hatte ihm die kleine mexikanische Stadt gezeigt. Ihre Großeltern hatten dort gelebt und sie hatte sie als Kind oft besucht.

Elena. Seine Hände krallten sich ums Lenkrad.

Ihr Tod hatte eine tiefe Wunde in sein Herz gerissen. Sie war so unschuldig gewesen. Er hatte sich in ihre einfache Art und ihren Gleichmut seinen Narben gegenüber verliebt. Nur sie konnte seine Albträume vertreiben. Nur sie schenkte ihm Frieden. Hin und wieder gelang das auch Brian. Er war ein lebendiges kleines Stück von Elena.

Chris hatte einen ziemlich konkreten Verdacht, was in der Unfallnacht passiert war. Elena hatte den Kontakt zu ihrer Familie schon seit längerer Zeit abgebrochen. Ihre Brüder schmuggelten Drogen; Gewalt war ein fester Bestandteil ihres Lebens. Damit hatte sie nichts mehr zu tun haben wollen und war gegangen. Ein paar Wochen vor dem Unfall hatte ihr ältester Bruder sie gefunden und gefordert, sie solle zurückkommen. Sie hatte sich geweigert. Als ihr Bruder erfahren hatte, dass sie mit einem Mann zusammenlebte und ein uneheliches Kind hatte, war er ausgerastet. Der strenggläubige Katholik hatte den Druck auf Elena erhöht.

In der Unfallnacht hatte sie sich mit ihrem Bruder getroffen. Zum ersten Mal seit drei Jahren. Chris glaubte nicht, dass Elenas Bruder ihr etwas angetan hatte. Aber sie war wegen des Treffens sehr aufgewühlt gewesen. Sie hatte Chris hinterher angerufen – in Tränen aufgelöst und völlig außer sich. Der Bruder hatte ihr befohlen, nach Mexiko zurückzukehren und sie eine Hure genannt. Chris hatte Elena überredet, das Telefon wegzulegen und sich aufs Fahren zu konzentrieren.

War sie zu schnell unterwegs gewesen? Möglich. Chris nahm an, dass der Bruder den Unfall mit angesehen hatte. Vermutlich war er ihr nachgefahren, als sie davongerannt war. Dann hatte plötzlich der Sheriff vor Chris’ Tür gestanden und ihm gesagt, Elena sei bei einem Unfall ums Leben gekommen. An der Unfallstelle waren Dinge verändert worden. Chris vermutete, dass ihr Bruder nach ihr gesehen hatte. Laut Polizeibericht war Elena sofort tot gewesen. Nichts hätte sie mehr retten können.

Der Bruder war verschwunden und Chris hoffte, dass ihn der Anblick seiner toten Schwester verfolgte bis an sein Lebensende.

Von ihrer Familie hatte er nie gehört. Ihn persönlich störte das nicht. Es tat ihm nur leid, dass sie auch Brian ablehnten. Nicht, dass er seinen Sohn gerne in Gesellschaft von Kriminellen gesehen hätte oder zusammen mit dem Mann, der Elena in den Tod getrieben hatte. Aber jedes Kind brauchte Menschen, denen es wichtig war.

Chris hatte Jamie und sonst niemanden.

Jamie hielt den Kontakt zu ihm aufrecht. Aber er sehnte sich nach einem größeren Netzwerk von Menschen, denen er vertrauen konnte. Seine Eltern lebten nicht mehr. Ein betrunkener Autofahrer hatte sie von einer Sekunde zur anderen ausgelöscht.

Wie ironisch, dass diejenigen, die ihm am meisten bedeutet hatten, alle bei Autounfällen gestorben waren. Jamie hielt er zu ihrem eigenen Besten auf Distanz. Und jetzt zeigte sich, dass das richtig war. Ganz gleich, wo er sich aufhielt – früher oder später würde es Probleme geben. Dann musste er weiterziehen.

Im Rückspiegel warf er einen Blick auf Brian. Sein Mund war leicht geöffnet, sein Haar vom Schlafen zerzaust. Jamie zu verheimlichen, dass es Brian gab, tat weh. Aber wenn sie von Brians Existenz erfahren hätte, hätte sie nicht zugelassen, dass sie sich weiterhin versteckten. Und das konnte gefährlich werden.

Beim Anblick seines Sohnes zog Chris’ Herz sich zusammen. Es fühlte sich gut an.

Brian war das Wichtigste in seinem Leben. Er würde alles tun, was in seiner Macht stand, damit der Junge sicher war. Sicher vor Ungeheuern wie dem, das ihm so viele Narben zugefügt hatte. Brian bewegte sich in seinem Sitz und Chris vergewisserte sich, dass der Sicherheitsgurt noch richtig saß. Wie umsichtig Eltern heutzutage waren. In Chris’ Kindheit waren Kinder noch ohne Gurt auf den Rücksitzen von PKWs oder auf der Ladefläche von Kombis herumgeturnt. Einer seiner Freunde hatte beim Autofahren am liebsten hinten auf der Hutablage gelegen.

Heutzutage würde die Polizei den Wagen sofort anhalten und den Eltern ein saftiges Bußgeld verpassen.

Seine Eltern hatten ihn nach seiner Rückkehr aus dem Wald abgeschirmt. Ihm war das recht gewesen, denn er hatte keinen Kontakt mit anderen Menschen haben wollen. Jahrelang war er am liebsten in seinem Zimmer geblieben. Die Schule hatte sich zum Albtraum entwickelt und irgendwann hatte seine Mutter in Hausunterricht eingewilligt. Dabei hatte er sich fast alles selbst beigebracht. Jeden Monat hatte er einen Lernplan erstellt und ihn seiner Mutter vorgelegt. Sie war immer bereit gewesen, ihm zu helfen. Aber im Grunde war ihm alles in den Schoß gefallen.

Sein Gehirn war wie ein Schwamm. Geschichtsbücher las er zum Vergnügen, Mathe machte er aus Neugier. Mit Computern beschäftigte er sich, weil sie ihn faszinierten. Seine Vorbilder hießen Steve Jobs und Bill Gates. Für seinen Geschmack standen sie zwar zu sehr in der Öffentlichkeit, aber ihre Denkweise war ihm vertraut.

Als Jamie in der sechsten Klasse Probleme mit dem Bruchrechnen bekam, hatte er ihr ein einfaches Computerprogramm mit Beispielen und Übungen geschrieben. Das Strahlen in ihren Augen, als sie die Rechnungen endlich verstand, hatte ihn beflügelt. Er hatte weitere Programme geschrieben. Immer mehr. In ersten einfachen Portalen hatten Computerfreaks Gleichgesinnten ihre Arbeiten vorgestellt und Rat gesucht. In solchen Portalen hatte sein Sozialleben stattgefunden. Die anderen Freaks hatten weder seine äußeren noch die inneren Narben sehen können.

Als das Internet schließlich voll eingeschlagen hatte, hatte er seinen Vorsprung genutzt. Die Websites, die er für kleine Geschäftsleute ins Netz stellte, hatten ihm weitere Kunden gebracht. Mit achtzehn hatte er schon mehr verdient als sein Vater. Das Leben plätscherte ganz erträglich dahin. Die Narben waren durch viele Operationen unauffälliger geworden. Zumindest hatte er das gedacht, bis ihn draußen die Kinder schamlos angestarrt und Erwachsene verstohlen angesehen hatten, um gleich darauf verlegen den Blick abzuwenden.

Nach den anderen Kindern, die zusammen mit ihm verschwunden waren, hatte er sich nur ein Mal erkundigt. In seinem zweiten Monat im Krankenhaus war er zwischen zwei Operationen zu sich gekommen und hatte seine Mutter gefragt, ob er David Doubler sehen könnte, der ein paar Monate nach der Entführung freigelassen worden war. An das schockierte, mitleidige Gesicht seiner Mutter erinnerte er sich noch gut.

»David ist immer noch verschwunden. Du bist der Einzige, der zurückgekommen ist.«

Fast hätte er sich verplappert und gesagt, dass er ein Kind nach dem anderen gehen sehen hatte. Aber er hatte sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge gebissen. Wenn er zugab, dass er sich an die Freilassung der anderen erinnerte, musste er auch sagen, wo er gewesen war und wer sie gefangen gehalten hatte.

Er hielt den Mund.

Später hatte er im Internet nach allen gesucht und nichts gefunden außer Familien, die immer noch warteten und um ihre verschwundenen Kinder bangten oder trauerten.

In wie vielen langen Nächten im Bunker hatte der Glaube daran, dass die anderen Kinder freigelassen worden waren, verhindert, dass er verrückt wurde? Er hatte sich für die anderen Kinder gefreut und sie gleichzeitig gehasst.

Das Gesicht seines Sohnes wollte er nie auf einem Vermisstenplakat sehen.

Jetzt wusste er auch, wo die anderen gewesen waren. Zwei Jahrzehnte lang hatten sie im Erdboden gelegen, während ihre Eltern auf ihre Rückkehr gehofft hatten. Wenigstens hatten die Angehörigen jetzt Gewissheit. Das Warten hatte ein Ende. Sie konnten versuchen, wieder ein normales Leben zu führen. Mit offenen Fragen zu leben, war am schlimmsten. Lange hatte er den Familien sagen wollen, dass er glaubte, die Kinder seien tot. Aber er hatte keine Beweise gehabt. Er wusste nicht, was der Geistermann mit ihnen gemacht hatte. Und er musste so tun, als würde er sich an nichts erinnern.

Beim Gedanken an Daniels Familie zog sich sein Herz zusammen. Ihr Sohn und Bruder war nicht zurückgekehrt und seine Überreste lagen nicht bei denen der anderen Kinder. Niemand wusste das besser als Chris.

Was machte die Ungewissheit mit seinen Eltern?

Durch die Knochenfunde waren ihre Wunden wieder aufgerissen worden. Zwar hatten sie im Lauf der Zeit sicher gelernt, ohne ihren Sohn zu leben. Aber während die Fragen der anderen Familien wenigstens zum Teil beantwortet waren, wussten Daniels Angehörige noch immer nichts.

Sollte er ihnen sagen, was tatsächlich mit Daniel passiert war? Wie sie dem Geistermann gemeinsam entkommen waren? Schon fast zwei Jahrzehnte lang hatte er dem Senator und dessen Frau davon erzählen wollen. Aber er hatte schweigen müssen. Sonst wäre mit Sicherheit Blut geflossen. Das Blut von Unschuldigen und von Schuldigen. Die Schuldigen kümmerten ihn nicht. Aber er würde alles tun, um die Unschuldigen zu schützen. Und dafür musste er schweigen.

Diese Last erdrückte ihn nahezu.

Nun folgte er einer Straße, die ihn in eine ungewisse Zukunft führte. Zu dieser nächtlichen Stunde waren ihm bislang kaum Autos entgegengekommen. Auf der linken Seite krochen gerade die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont.

Je mehr Meilen er zurücklegte, desto sicherer würden sein Sohn und er sein. Er lockerte seinen Griff um das Steuer. Seine Finger verkrampften sich bereits, weil er es so fest gehalten hatte. Er zwang sich, tief durchzuatmen und versuchte, sich zu entspannen.

Weiterfahren, einfach weiterfahren.

Doch ihn quälte immer dieselbe Frage.

Wie hat der Geistermann uns in Demming gefunden?

Plötzlich schoss ihm ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf.

Jamie. Ich habe ihr gar nicht meine neue Telefonnummer gegeben.

Er hatte gerade eine neue Nummer eingerichtet, unter der sie ihn erreichen konnte, da hatten die Nachrichten über die Kinderskelette das Internet geflutet. Er wechselte die Nummer alle paar Monate. Nachdem Jamie ihn über die Knochenfunde informiert hatte, hatte er die Nummer sofort geändert.

Verdammt! Hatte sie versucht, ihn anzurufen? Ängstigte sie sich jetzt vielleicht halb zu Tode, weil sie ihn nicht erreichte? Er fuhr rechts ran und drückte die Kurzwahltaste mit ihrer Nummer.

Mist! Der Anrufbeantworter. Aufs Band zu sprechen, war zu gefährlich.

Er versuchte, sie auf dem Handy zu erreichen. Auch hier nur die Mailbox.

Ihr eine Nachricht zu hinterlassen, die jeder hören konnte, wagte er nicht. Die unterdrückte Nummer würde ihr hoffentlich zeigen, dass er versucht hatte, sie zu erreichen. Dass er nicht auf die Mailbox sprechen würde, wusste sie.

Was, wenn sie nicht ans Telefon kann? Wenn der Geistermann schon bei ihr war? Hat er mich so gefunden?

Chris lehnte den pochenden Schädel ans Lenkrad. Schweißtropfen rannen ihm über die Schläfen. War das möglich? Hatte der Geistermann ihn durch Jamie gefunden? Er war so vorsichtig gewesen. Aber falls jemand nach ihm suchte, war es logisch, bei Jamie anzufangen.

Er hatte immer darauf geachtet, dass sie nichts wusste, und gehofft, sie dadurch schützen zu können, falls jemand bei ihr auftauchte. Aber was, wenn derjenige sich mit ihren Antworten nicht zufriedengab? Was, wenn er ihr nicht glaubte und versuchte, mit Gewalt etwas aus ihr herauszubekommen?

Er war wie erstarrt. Wie sollte er das Land verlassen, ohne zu wissen, ob es ihr gut ging?

Er musste nach Portland.

Galle stieg in seine Kehle, seine Schläfen begannen, schmerzhaft zu pochen.

Er musste sich davon überzeugen, dass ihr nichts passiert war, nur ganz kurz in Portland vorbeischauen. Danach würde er nach Mexiko fahren.

Er wendete mitten auf dem nächtlichen Highway.

 

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Chris Jacobs würde nicht zu seinem Haus zurückkehren. Dessen war Gerald sich inzwischen sicher. Jacobs hatte offenbar instinktiv die Flucht ergriffen. Vielleicht hatte Jamie ihm etwas gesagt, was ihm Angst gemacht hatte. Aber sie war immer noch in der kleinen Stadt und Jacobs war nicht bei ihr. Gerald nahm an, dass sie sich irgendwann im Lauf dieses Tages auf den Weg zu ihrem Bruder machen würde.

Am Abend hatte er von ein paar Leuten im Supermarkt erfahren, dass Jamie den Sheriff nach dem Weg zu Chris’ Haus gefragt hatte, aber noch nicht dort gewesen war. Stattdessen war sie mit Brody in der Pension verschwunden.

Gerald schnaubte. Wie die zwei wohl die Nacht verbracht haben?

Der Kassierer im Supermarkt meinte, Chris würde nur mit dem Bäcker der Stadt reden, einem Mexikaner. Die uralte Bäckerei lag in einer Nebenstraße. In solchen Gebäuden lag die Wohnung direkt neben dem Laden. Angeblich war Jacobs Stammkunde. Das deckte sich mit den Informationen des Jungen von der Tankstelle.

War Chris immer noch ein Schleckermaul? Gerald bezweifelte es.

Er entschied, dass die Bäckerei heute geschlossen bleiben sollte. Er hatte ein Schild geschrieben, auf dem stand, Juan würde sich nicht wohlfühlen. Das sollte ausreichen, um die Bürger der Kleinstadt fernzuhalten. Er musste ein Vieraugengespräch mit dem Bäcker führen. Und das konnte ein paar Stunden dauern.

Lautlos verschaffte er sich Zutritt zu der Bäckerei. Über das altmodische Schloss konnte er nur grinsen. Er hatte es in fünfzehn Sekunden geknackt. Die Bäckerei lag im Dunkeln. Die Fenster zur Straße waren recht klein. Gut so. Er atmete tief ein. Gott, es roch himmlisch hier drin. Kleine Glastheken warteten auf frisches Backwerk. Die Bäckerei war alt, aber makellos sauber.

Gerald ging an den Theken vorbei in ein Hinterzimmer voller alter Maschinen und Geräte aus Edelstahl. In den Regalen an den Wänden standen Kanister. Aber Gerald hatte nur Augen für die Tür auf der rechten Seite. Mit angehaltenem Atem lauschte er volle fünf Sekunden lang daran. Tiefe Stille. Langsam drückte er die Klinke herunter, schob die Tür in den dunklen, angrenzenden Raum und schloss die Faust um seine Waffe.

Er hörte die Bewegung, kurz bevor die Metallstange ihm ins Gesicht knallte. Hinter seinen Augen explodierten Lichter und Gerald hatte das Gefühl, ihm sei der Kopf vom Hals geschlagen worden. Der Schmerz ließ ihn auf die Knie fallen. Dabei verlor er die Waffe. Er hörte sie auf dem Boden aufschlagen und wegrutschen. Als er versuchte, sich auf sie zu werfen, traf die Stange ihn am Hinterkopf. Blind tastete er nach der Pistole. Seine Hände suchten fieberhaft. Nichts.

Verdammt. Wo zum Teufel ist das Ding?

Der Angreifer brüllte ihn auf Spanisch an und schlug ihm noch einmal gegen den Hinterkopf. Geduckt warf Gerald sich in Richtung der Stimme und traf mit der Schulter auf etwas Festes. Mit einem spanischen Fluch ging der Kerl zu Boden und schlug hart auf dem Beton auf. Gerald hörte, wie dem Mann die Luft aus der Lunge wich, und drosch mit bloßen Fäusten auf ihn ein. Adrenalin schoss ihm ins Blut und sorgte für ein Feuerwerk in seinem Hirn. Er schaffte es, die Metallstange zu packen, riss sie weg und warf sie hinter sich.

Sein Gegner war alt. Die Stimme klang brüchig und die Bewegungen waren die eines schwachen Greises. Ihn auf dem Boden zu überwältigen, war eine Kleinigkeit. Gerald rollte den alten Mann auf den Bauch, kniete sich auf dessen Rücken und riss seinen Kopf an den Haaren hoch.

»Bist du der Bäcker, du nutzloses Stück Scheiße?«, zischte er ihm ins Ohr.

Als der Mann zappelte, riss Gerald noch fester an seinem Haar. Er bog ihm den Hals schmerzhaft zurück.

»Willst du, dass ich dir das Genick breche? Willst du das? Das kann ich nämlich. Es geht so schnell, dass du es fast nicht mitbekommst.« Gerald unterstrich seine Drohung durch weitere Rucke und der Alte schnappte nach Luft. »Verdammt, mir dröhnt der Schädel, du vertrockneter Mistkerl!«

Er sah sich in dem schummrigen Raum um, entdeckte ein Kabel, streckte sich danach und riss es aus der Steckdose. Ein Telefon krachte zu Boden. Er drehte dem alten Mann die Arme auf den Rücken und wickelte ihm das Kabel um die Handgelenke. Dann packte er mit beiden Händen seinen Kopf und knallte ihn gegen den Boden. Danach regte der Bäcker sich nicht mehr.

Gerald glitt vom Rücken des Mannes und blieb erst einmal liegen. Er schnappte nach Luft und wartete darauf, dass sich sein Herz beruhigte.

Herrgott! Beinahe hätte er sich von einem Tattergreis außer Gefecht setzen lassen.

Er war nachlässig gewesen, hatte sich zu sicher gefühlt. Er konnte von Glück sagen, dass er nicht mit einer Metallstange im Schädel auf dem Boden lag. Gerald entdeckte die Stange, kam schwankend auf die Füße und hob sie auf. Sie lag rau und schwer in seinen Händen. Ein schlichter Bewehrungsstab von irgendeiner Baustelle.

Primitiv.

Er rieb sich den Kopf. Aber wirkungsvoll.

Sein Fuß berührte seine Waffe. Er schnappte sie sich, steckte sie zurück ins Schulterhalfter und betrachtete den reglosen Körper auf dem Boden.

Tot? Er hatte den Kopf des Alten ziemlich hart auf den Beton geknallt.

Gerald ging in die Hocke und legte zwei Finger an den Hals des Mannes. Dort flatterte ein schwacher Puls.

Gut. Nicht tot. Er brauchte dringend ein paar Auskünfte.

Gerald stand auf und atmete aus. Vor seinen Augen tanzten noch immer Sterne. Vielleicht half ein Glas Wasser. Mithilfe des Lichts seines Handys fand er einen Hahn und ein Glas und trank gierig. Dann füllte er das Glas erneut und kippte es dem alten Mann über den Kopf.

Keine Reaktion.

Als er noch einmal nach dem Puls tastete, konnte er seine Finger gerade noch vor den zuschnappenden Zähnen des Greises retten.

»Verdammt, was soll das?« Wütend trat er dem Bäcker in die Rippen und wurde mit einem gequälten Grunzen belohnt. Dann zog er den Alten hoch und warf ihn auf einen Stuhl. Mit einer dünnen Schnur aus der Bäckerei band er den Mann am Stuhl fest. Dann knipste er die Glühbirne über dem Spülbecken an. Gerald stellte einen zweiten Stuhl vor den Bäcker, setzte sich darauf und starrte ihm ins Gesicht. Der Mann zuckte entsetzt zurück und drehte den Kopf weg.

»Diablo blanco«, flüsterte er.

»Ah, ich sehe, du hast von mir gehört.« Gerald grinste. Offenbar war Juan enger mit Chris befreundet gewesen, als die Leute in der Stadt ahnten. Gerald bezweifelte, dass Chris viel über die alten Zeiten gesprochen hatte. Auch Gerald behielt die Erinnerungen für sich. Nur spätnachts, wenn er alleine war, kramte er sie hervor. Damals war es eine Sucht gewesen, ein betörender Machtrausch. Nichts hatte ihn je wieder in solche Höhen katapultiert wie die Jungen, über die er die volle Kontrolle hatte.

Und jetzt war die Möglichkeit, Chris noch einmal zu besitzen, verführerisch nahe.

»Du errätst sicher, weshalb ich hier bin.«

Juan starrte stumm zu Boden. Aus einer Platzwunde über seinem Auge und aus seiner Nase tropfte Blut.

»Wo ist mein Freund Chris?«

Juan sah aus, als würde ihm gleich übel werden. Gerald stand auf, packte ihn am Kinn und zwang ihn, ihn anzusehen. »Schau mich an! Sehe ich aus wie jemand, der lange fackelt? Wo ist er?«

Das Entsetzen stand dem Alten ins Gesicht geschrieben. Aber er starrte Gerald direkt in die Augen.

Schweigen.

Gerald grinste. »Schön. Du willst es nicht anders.«