Kapitel 9

 

Michael saß da und rührte sich nicht. Es war, als wollte er die Verbindung nicht abreißen lassen, die zwischen ihnen entstanden war. Jamie ging es genauso, aber sie brauchte eine Verschnaufpause. Dieser draufgängerische, impulsive Mann zog sie in seinen Bann und öffnete sie auf eine Art, die ihr völlig neu war. Außer mit ihren Eltern und mit Chris’ Psychiater hatte sie nie mit jemandem über ihren Bruder geredet. Dabei hatte sie fast mehr über sich selbst gesagt als über ihn.

Michaels Smaragdaugen brachten sie dazu weiterzureden und machten ihr gleichzeitig das Atmen schwer. In seinem Gesicht gab es vor allem Ecken und Kanten, nichts Weiches. Sie hatte das Bedürfnis gehabt, ihn zu streicheln, der Härte mit ein bisschen Zartheit zu begegnen. Die Hitze, die bei ihrer Berührung aus seinen Augen sprühte, hätte sie beinahe versengt. Aber sie war nicht die Einzige, mit der die Gefühle durchgingen. In diesem kurzen Moment hatte sie ihm genau angesehen, was in ihm vorging. Und mit seinem Bruder hatte das nichts zu tun.

Sie stand auf dem Gehsteig vor dem Büro des Sheriffs und wartete, dass Michael endlich ausstieg. Seine Bewegungen waren sicher und geschmeidig. Seine Muskeln steckten voller geballter Energie. Er gehörte zu den Kerlen, die die Blicke von Frauen auf sich zogen, bei denen Frauen sich ausmalten, wie es wäre, ein solches Exemplar zu Hause zu haben. Gleichzeitig war er der Typ Mann, der bei Frauen die Alarmglocken schrillen ließ. Er verströmte nicht das Bindungspheromon, auf das die meisten aus waren. Seine Pheromone schrien: Kurz, aber heftig! Jamie glaubte ihnen aufs Wort.

Nur leider wollte sie nichts Kurzes. Sie suchte kein Abenteuer. Schon vor langer Zeit hatte sie beschlossen, dass ein Mann ihr vor allem Sicherheit und Stabilität bieten musste. Bei Michael konnte sie sich das nicht vorstellen.

Trotzdem drängte sie eine leise Stimme, die Achterbahnfahrt zu wagen, die sie mit ihm vermutlich erleben konnte. Und langsam wurde sie schwach. Sobald sie erfahren hätten, wo Chris war und wie es ihm ging, würde sie den Mann Michael Brody genauer unter die Lupe nehmen.

Er blieb neben ihr stehen und deutete mit dem Kinn auf den Eingang des Gebäudes. Nickend wollte sie nach dem Türknauf greifen. Aber er kam ihr zuvor und hielt die Tür für sie auf. Nach kurzem Zögern ging sie hindurch. Ihre Haut prickelte unter der Hand, die er ihr ins Kreuz legte. Das kühle Halbdunkel des Gebäudes half ihr, durchzuatmen.

»Was kann ich für Sie tun?« Ein kleines, aufgekratztes Vögelchen von einer Frau lächelte sie hinter einem breiten Schreibtisch an. Sie trug eine geblümte Bluse zu einer Hose, die für Jamie in die Kategorie Mutti-Jeans fiel. Und sie hatte zentnerweise Wimperntusche aufgelegt. Ihr Lächeln war offen und freundlich und auf ihrem Namensschild stand Sara.

»Wir möchten zu Sheriff Spencer«, sagte Michael.

Sara musterte Michael von Kopf bis Fuß, und Jamie registrierte, dass ihr gefiel, was sie sah. Dass Sara etwa fünfundzwanzig Jahre älter war als er, tat dem keinen Abbruch.

»Er ist vor einer Minute weggegangen. Wollte im Diner einen Happen essen. Vielleicht kauft er unterwegs noch kurz ein. Uns ist der Kaffee ausgegangen.« Sara schaute Michael noch einmal genau an. Die Art, wie sie dabei den Kopf schief legte, erinnerte Jamie schon wieder an einen Vogel. »Sind Sie der Reporter aus Portland?«

»Ja. Meinen Sie, wir können im Diner mit ihm reden? Ein Hotel müssen wir uns auch noch suchen.«

Jamie erstarrte. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Sofort lief in ihrem Kopf ein Film ab. Mit einigen ziemlich heißen Szenen.

Getrennte Zimmer. Klarer Fall.

Saras Kopf fuhr zu Jamie herum. So, wie die Frau sie musterte, wusste sie genau, was in ihr vorging.

»Ja, gehen Sie ruhig hin. Sicher freut er sich, wenn Sie ihm Gesellschaft leisten. Haben Sie schon was gegessen?«

Jamie konnte sich nicht an ihre letzte Mahlzeit erinnern.

»Nein«, antwortete Michael. »Isst man dort gut?«

»Hervorragend«, erklärte Sara im Brustton der Überzeugung. »Bestellen Sie Enchiladas. Und im Hotel klingeln sie einfach so lange, bis jemand kommt. Chuck ist ein bisschen schwerhörig.«

Michael dankte ihr und schob Jamie aus der Tür. Wieder lag dabei die Hand in ihrem Kreuz. Sie blinzelte in die untergehende Sonne.

»Ich bin am Verhungern«, stöhnte er. »Lassen Sie uns etwas essen und mit dem Sheriff reden. Dann suchen wir Ihren Bruder.«

Jamie nickte. Beim Gedanken an mit Käse überbackene Enchiladas fing ihr Magen an zu knurren. Das Diner war nur eine Straße weiter und an seinem Türschild gut zu erkennen. Sie beschleunigte ihren Schritt.

Michael nahm sie an der Hand. Sie lächelte ihn an, aber sein Blick hing an den drei Männern, die vor einem kleinen Lebensmittelgeschäft standen. Einer trug eine Schürze mit dem Logo des Ladens, die anderen hielten Getränkedosen in der Hand – Cola und Cola light. Jamies Mund fühlte sich sofort trocken an.

»Simon, deine Pause ist um.« Eine korpulente Frau mit hoch aufgetürmtem schwarzem Haar trat aus dem Geschäft. Als sie Jamie und Michael sah, grüßte sie mit einem breiten Lächeln. Ihr Namensschild verriet, dass sie Janet hieß.

»Sie sehen halb verdurstet aus«, sagte sie. »Es war zwar schon wärmer hier, aber die Luft ist sehr trocken. Da muss man viel trinken. Nehmen Sie sich lieber ein paar Flaschen Wasser mit.«

In dieser kleinen Stadt, in der jeder jeden kannte, fielen Michael und Jamie auf wie zwei Schweine in der Oper.

»Wir gehen grade zum Essen. Aber es schadet nichts, ein paar Flaschen im Auto zu haben«, sagte Michael. Janet ging mit ihm in den Laden. Simon und die Männer kamen ebenfalls herein. Ihre Blicke folgten Michael zum Kühlregal, als hätten sie seit Monaten keinen Fremden gesehen.

»War Sheriff Spencer schon hier?«, fragte Michael. Er stellte das Wasser auf die Theke, ohne auf die Männer zu achten. Was haben die für ein Problem?

Janet sah Simon fragend an. Er scannte die Flaschen und sagte: »Ja. Vor ein paar Minuten. Hat Kaffee gekauft.«

»Wofür brauchen Sie denn den Sheriff?«, fragte Janet. »Es ist doch hoffentlich alles in Ordnung? Sie sind grade erst angekommen, oder? Sicher haben Sie nicht jetzt schon ein Problem.«

Jamie verschluckte ein Lachen. Willkommen in der Provinz.

»Wir suchen nur jemanden«, antwortete Michael.

»Dann sind Sie hier genau richtig.« Janets Geste schloss sie selbst und die Männer ein. »Egal, wen Sie suchen, – einer von uns vieren kennt ihn sicher.«

Michael sah Jamie fragend an. Sie zuckte die Schultern. Einen Versuch war es wert.

»Wir wollen zu Chris Jacobs.«

Die vier starrten erst Michael und Jamie an, dann tauschten sie lange Blicke untereinander aus.

»Was ist los? Stimmt was nicht?« Michael verschränkte die Arme vor der Brust. Er musterte die Kleinstadtbewohner mit seinem Raubvogelblick. Jamie hätte schwören können, dass seine Nasenflügel bebten, als witterte er Beute.

Janet zog die Nase kraus. »Was wollen Sie denn von dem? Ich habe ihn noch nie mit einer Menschenseele sprechen sehen. Außer vielleicht mit dem alten Juan. Aber das war’s auch schon. Sein Kleiner sagt auch kaum was. Der geht nicht mal zur Schule. Dolores ist zu ihnen rausgefahren und hat Chris gesagt, sein Sohn müsste zur Schule gehen. Er meinte, der Junge würde vorschriftsmäßigen Hausunterricht kriegen und sie sollte sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.« Janet schnaubte. »Das Kind gehört in die Schule. Ohne Gleichaltrige wird er ein Einsiedler wie sein Vater. Schule ist doch nicht bloß pauken.«

Durch Jamies Herz ging ein Riss. Ihr Neffe. Janet sprach von ihrem Neffen. Was hatte Chris denn für Vorstellungen, wie man ein Kind großzog?

»Was ist mit der Mutter des Jungen?«, fragte Michael.

Die Frage überraschte Jamie. Michael hatte ihr doch selbst gesagt, was passiert war. Aber vielleicht wollte der Reporter in ihm es doch noch genauer wissen.

Die vier Stadtbewohner tauschten erneut lange Blicke aus.

»Autounfall«, sagte der Cola-light-Mann.

Michael und Jamie warteten schweigend auf weitere Erklärungen. Jamie beobachtete, wie Janet den Mund auf- und dann gleich wieder zumachte.

»Traurige Geschichte«, sagte Simon. Alle vier nickten.

Janet nestelte stirnrunzelnd an ihrer Schürze. »Sie ist selbst gefahren. Allein. Kam von der Straße ab und krachte gegen einen Baum. Eine knappe Meile von ihrem Haus weg. Der Sheriff meint, sie sei sofort tot gewesen. Die alte Karre hatte keinen Airbag.«

Michaels Raubvogelbrauen zogen sich zusammen. »Warum konnte sie die Spur nicht halten? Ist ein Tier auf die Straße gelaufen? Hatte sie getrunken?« Janets Story gefiel ihm nicht.

Janet zuckte die Schultern. »Wer weiß? Aber betrunken war sie nicht. Hatte keinen Alkohol im Blut.«

Jamie schnappte ihre Wasserflasche. »Gehen wir? Ich habe furchtbaren Hunger.« Auf Klatsch und Tratsch hatte sie keine Lust. Diese Leute mochten ihren Bruder ganz offensichtlich nicht. Sachliche Informationen waren von ihnen nicht zu erwarten. Vermutlich würden sie ihm gleich auch noch die Schuld an dem Unfall geben.

»War nett, Sie kennenzulernen«, sagte Michael auf dem Weg zur Tür über die Schulter hinweg.

»War uns ein Vergnügen. Der Sheriff sitzt wahrscheinlich im Diner. Normalerweise isst er um diese Zeit zu Abend«, rief Janet ihnen hinterher.

Jamie ging mit energischen Schritten den Gehsteig entlang. Michael griff nach ihrer Hand. »Nicht so schnell«, sagte er. »Was ist los?«

Jamie schüttelte den Kopf. »Diese Leute. Die maßen sich ein Urteil an, obwohl sie Chris gar nicht kennen. So geht das schon sein Leben lang. Alle sehen immer nur sein Äußeres.«

»Na ja. Anscheinend ist es recht schwierig, etwas über sein Inneres zu erfahren.«

»Und der arme Kleine. Ich kenne nicht mal den Namen meines Neffen! Er hat keine Mutter und anscheinend sorgt Chris mit seiner Erziehung dafür, dass er genauso wird wie er.«

»Wenigstens hat Ihr Neffe einen Vater, der sich Zeit für ihn nimmt.«

Jamie blieb stehen und wandte sich Michael zu. Seine Miene war undurchsichtig. »Das ist wahr. Das ist gut und wichtig – aber es reicht nicht. Ich muss Chris dazu bringen, nach Hause zu kommen. Janet hat nämlich recht. Der Junge braucht andere Kinder um sich.«

»Meinen Sie, Chris lässt sich darauf ein?« Michael klang nicht sehr optimistisch.

»Ich hoffe es.« Jamies Herz war schwer. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus hatte Chris sich nicht mehr eingewöhnen können. Die Schule war Feindesland geworden, die Kinder und viele Erwachsene dort betrachtete er als Gegner. Menschen im Allgemeinen wurden ihm verhasst, weil sie ihn anstarrten und in seiner Gegenwart über ihn redeten, als wäre er nicht richtig im Kopf.

Als Kind hatte sie sich nicht vorstellen können, was in Chris vorging. Ihr großer Bruder war wieder zu Hause … aber irgendwie auch nicht. Zwei Jahre lang hatte sie Gott in ihren Gebeten angefleht, er solle ihn ihr wiedergeben. Ihr Wunsch war in Erfüllung gegangen, aber Chris hatte tiefe innere und äußere Wunden mitgebracht und Jamie hatte keinen Zugang zu ihm gefunden.

Die äußeren Verletzungen konnte sie sehen: die Narben in seinem Gesicht und auf seinen Armen, die Überbeine an den Gelenken. Das schiefe Kinn, weil sein gebrochener Kiefer nicht richtig zusammengewachsen war.

Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie ihn im Krankenhaus besucht hatte. Er hatte ganz still dagelegen; die Augen geschlossen, das Gesicht verpflastert und verbunden. Vorsichtig hatte sie seine Finger festgehalten – den einzigen Teil seines Körpers, der aussah, als würde er nicht wehtun –, und er hatte den Druck ganz schwach erwidert. Das Krankenbett hatte Jamie beeindruckt. So viele Schläuche und Monitore.

Ihre Mutter war nicht von Chris’ Seite gewichen. Ihr Vater war zwischen seiner Arbeit und der Klinik gependelt. Beim Abendessen hatte er Jamie immer wieder versprochen, Chris würde bald nach Hause kommen.

Als sie ihn im Krankenhaus liegen sehen hatte, hatte sie gewusst, dass es bis dahin noch lange dauern würde.

Unzählige Male hatte sie in den nächsten Wochen geantwortet: »Es geht ihm schon besser. Er kommt bald nach Hause.« Das war zu ihrer Standardantwort geworden, wenn Nachbarn, Lehrer und wildfremde Menschen sie nach ihrem Bruder gefragt hatten. Viele kannten ihn nur aus dem Fernsehen. Chris’ Geschichte lief auf allen Kanälen, obwohl die Reporter nie mit ihm oder ihren Eltern gesprochen hatten.

Ihre Eltern unterhielten sich fast nur noch flüsternd. Vor dem Krankenhauszimmer, im Auto, im Schlafzimmer. Manchmal klang es, als würden sie sich streiten. Jamie hörte die Wörter Hirnschaden, Verbrennungen und Therapie. Ihre Mutter weinte wieder fast so viel wie direkt nach Chris’ Verschwinden und damit viel mehr, als eine Mutter weinen sollte, deren verlorenes Kind endlich heimgekommen war. Jamie spielte still mit ihren Barbiepuppen las Bücher, sah fern. Und sie wartete darauf, dass jemand ihr sagte, wann ihre Familie wieder wie früher sein würde.

Chris verpasste ein weiteres Schuljahr. Jetzt waren es drei. Als er wieder laufen konnte, ohne alle zehn Schritte ausruhen zu müssen, hatten ihre Eltern ihn gedrängt, wieder am Unterricht teilzunehmen. Aber er hatte gesagt, er sei noch nicht so weit. Er war fast vierzehn und hätte mit seinen Freunden auf die Highschool wechseln sollen. Doch er mied die anderen Jungs, sagte ihnen, er sei zu müde. Seinen Eltern erklärte er, es gefiele ihm nicht, wie sie seine Narben anstarrten. Irgendwann kamen sie nicht mehr. Als er wieder lesen konnte, ohne Kopfschmerzen zu bekommen, fing er an zu lernen. Bald lernte er pausenlos. Seine Eltern hatten gerade ihren ersten Computer gekauft und Chris war nicht mehr davon wegzukriegen. Nach vielen Diskussionen hatte seine Mutter eine Möglichkeit gefunden, wie er seinen Schulabschluss zu Hause machen konnte. Von da an wirkte er weniger gestresst.

Er half Jamie bei den Hausaufgaben, zog an ihren schwarzen Zöpfen und nannte sie Lakritz wie vor seinem Verschwinden. Sein eigenes hellbraunes Haar wuchs unregelmäßig und lückenhaft nach. Die Stellen mit den Narben von den Hirnoperationen blieben fast kahl. Er trug es immer so kurz, dass er aussah, als käme er direkt aus einem Straflager. Der dünne Teenager hatte nicht mehr viel mit dem gesunden, agilen Kind zu tun, das er einmal gewesen war. Noch bis zu dem Tag, an dem er von zu Hause ausgezogen ist, hatte er schwindsüchtig und blass ausgesehen.

Jamie verstand, warum ihre Eltern Chris nicht gedrängt hatten, wieder in die Schule zu gehen. Aber war das wirklich klug gewesen? Wäre er zu dem Einsiedler geworden, der er nun war, wenn man ihn gezwungen hätte, mehr unter die Leute zu gehen? Oder hätte er sich dabei nur noch weitere innere Narben zugezogen?

Sie wusste so gut wie nichts über ihren Bruder.

Alle waren wie auf Zehenspitzen um ihn herumgeschlichen. Hatten sie damit seinen Zustand nur zementiert? Jamie hatte während des Studiums viel über Kinder, ihre Entwicklung und ihr Verhalten gelernt. Aber wenn sie an ihren Bruder dachte, nutzte ihr gesamtes Wissen ihr nichts. Hatten sie das Richtige für ihn getan? Ihre Eltern und sie selbst? Warum hatte sie ihn die Grenzen ihrer Geschwisterbeziehung festlegen lassen? Hätte sie mehr fordern sollen?

»Autsch«, sagte Michael. Er blieb abrupt stehen und ließ ihre Hand los.

»Was?«

»Sie zerquetschen mir die Finger. Sie haben einen Griff wie eine Nonne, die gern mit einem Lineal auf Schulkinder eindrischt.« Er hielt sich die Hand, als wäre sie gebrochen.

Jamie sah, dass seine Finger tatsächlich ganz weiß waren.

»Eigentlich fand ich das Händchenhalten schön. Aber Sie scheinen kein Gefühl für romantische Schwingungen zu haben.«

»Romantische Schwingungen?«

»Ja. Sie und ich in dieser netten kleinen Stadt, Hand in Hand auf dem Weg zum Abendessen.«

Mit Mühe gelang es ihr, nicht die Augen zu verdrehen. »Ich habe über Chris’ Zustand nach seiner Rückkehr aus dem Wald nachgedacht und über seinen Sohn. Vermutlich ging die romantische Atmosphäre deshalb ein bisschen an mir vorbei.«

Seine grünen Augen senkten sich in ihre. »Händchenhalten mit Ihnen finde ich schön. Wir können doch auch Hand in Hand nach Ihrem Bruder suchen, oder?«

Jamies Atem stockte. Ihr Herz verwandelte sich in einen Schmetterling. Dieses Grün …

Was war dieser Michael Brody bloß für einer? Jedi-Ritter und Händchenhalter?

»Ich mag Sie, Jamie Jacobs. Sehr sogar. Und ich habe kein Problem damit, es Ihnen zu sagen.«

Sie blinzelte. Seine Direktheit war … erfrischend.

Michael hatte schnell herausgefunden, wo ihre Glücksknöpfe saßen. Vielleicht war er ein Charmeur, aber sie war bereit, ihm abzukaufen, was er ihr anbot. Hinter seiner zur Schau gestellten Lässigkeit schien ein tiefgründiger Mensch zu stecken. Menschen ins Herz zu schauen, hatte sie gelernt. Das gehörte zu ihrem Job. Blender oder Schwätzer erkannte sie schon, bevor sie den Mund aufmachten. Michael hingegen sandte echte, klare Signale; er war schonungslos ehrlich.

»Als Sie mich nach dem Einbruch angerufen haben, hätte ich am liebsten jemandem den Kopf abgerissen. Dass Sie verletzt sein könnten, war eine schreckliche Vorstellung für mich. Unerträglich.« In seinen Augen tanzten Funken.

O je. Ihr Herz fing schon wieder an zu flattern. Diesmal viel heftiger.

Er beugte sich zu ihr, rieb ihr mit seiner warmen Hand den Arm. »Hungrig?« Das hörte sich an, als ginge es nicht nur um irgendwelche Enchiladas.

»Und wie!«, antwortete sie. »Und ich spreche vom Essen«, fügte sie klärend hinzu.

Michael grinste. Er griff fest nach ihrer Hand und ging mit ihr zum Diner.

 

image

 

Michael sah sich im Diner um. Der Sheriff war an der beigefarbenen Uniform und dem Cowboyhut auf dem Tisch unschwer zu erkennen. Die Hälfte der Tische und fast alle Hocker am Tresen waren besetzt. Das Diner wirkte seltsam müde, als liefe es auf Autopilot. Michael betrachtete die altmodische Ausstattung. Hier hatte sich seit Mitte der Siebziger nichts mehr getan.

Einige Leute schauten ein bisschen länger als nötig zu ihnen herüber, wandten sich dann aber wieder ihrem Essen zu. Sheriff Spencer suchte Blickkontakt, hielt ihn zwei Sekunden lang aufrecht und winkte sie dann zu sich. Michael ließ Jamie vorangehen. Ihre eng anliegenden Shorts zogen nicht nur seine Blicke magisch an. Er sah in die fragenden Augen eines jungen Kerls, der Jamie diskret gemustert hatte.

Ja, sie gehört zu mir.

Sollten sie doch gaffen. Diese Frau würde nach dem Essen mit ihm hier rausgehen.

Innerlich zog Michael eine Grimasse. Okay … er und Jamie waren zusammen hier. Aber nicht so, wie er es gerne gehabt hätte. Noch nicht. Wenn er sich etwas in den Kopf setzte, ließ er nicht locker. Und er hatte sich Jamie in den Kopf gesetzt. Er musste eben noch ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten. Aber das gehörte zu seinen Stärken.

Sheriff Spencer gab Jamie und Michael die Hand und stellte sich vor. »Ich wusste gleich, als Sie reinkamen, dass Sie die Leute aus Portland sind. Hierher verirrt sich sonst kaum jemand von außerhalb.«

»Das haben wir schon gemerkt«, sagte Jamie.

Der Sheriff deutete auf die freien Stühle an seinem Tisch und gab der Bedienung einen Wink. »Haben Sie Hunger? Hier gibt es großartige Enchiladas. Der Besitzer ist der Mann meiner Empfangsdame und versteht was vom Kochen.«

Das erklärte Saras Restaurantempfehlung.

Der Sheriff sah ganz anders aus, als er am Telefon geklungen hatte. Seine tiefe, raue Stimme hätte gut zu einem viel älteren, korpulenteren Mann gepasst. Aber er war höchstens vierzig, hatte die drahtige Figur eines Läufers, der auch im Hochsommer seine Kilometer abspulte, und wog vermutlich nur knapp über siebzig Kilo.

Michael und Jamie bestellten sich Käse-Enchiladas und machten sich sofort über die Tortilla-Chips her, die die Kellnerin auf den Tisch stellte. Michael spürte, wie ihm der erste Bissen auf der Zunge zerging. Verdammt, die Dinger waren gut – warm, frisch und knusprig.

»Vorsicht mit der Salsasoße«, warnte ihn der Sheriff. »Die hats in sich.«

Jamie tauchte die Ecke eines Chips ein, probierte und seufzte genießerisch.

Michael gab sich alle Mühe, während des höflichen Small Talks nicht zu schlingen wie ein Wolf. Die Fahrt, das Wetter, das Essen. Und diese Salsasoße! Der Sheriff hatte recht: Sie hatte es in sich, aber sie war ein Traum.

Sheriff Spencer rieb sich die Hände. »Ich weiß, Sie sind nicht wegen des Essens hier. Reden wir über den Mann, den Sie suchen, Chris Jacobs. Ich habe Sie gebeten, sich bei mir zu melden, bevor Sie zu ihm rausfahren. Einerseits will ich Ihnen den Weg erklären. Sie müssen den Kilometerzähler im Auge behalten, damit Sie richtig abbiegen, denn es gibt keine Schilder. Sie könnten stundenlang herumkurven und würden ihn nicht finden. Was aber noch viel wichtiger ist: Nehmen Sie sich in Acht. Jacobs ist ein guter Schütze. Meistens spricht sein Gewehr lange vor ihm selbst mit seinen Besuchern.«

Michael sah, wie Jamies Hand mit einem Tortilla-Chip auf dem Weg zu ihrem Mund in der Luft hängen blieb. Langsam legte sie die Knabberei auf ihren Teller. »Er schießt auf Menschen?« Ihre Stimme klang rau.

»Es sind Warnschüsse. Und ich würde sagen, er ist immer sehr wachsam. Ich war lange nicht mehr bei ihm draußen. Als Elena damals verunglückt ist, war ich öfter dort. Als Erstes habe ich jedes Mal die Gewehrmündung gesehen – dann den Besitzer. Aber das ist kein Problem. Er ist hier draußen nicht der Einzige, der immer den Finger am Abzug hat. Lassen Sie ihn einfach wissen, dass Sie da sind. Leider hat er kein Festnetztelefon und von einem Handy weiß ich nichts. Abgesehen davon gibt es bei uns jede Menge Funklöcher.«

»Noch mal zu dem Gewehr«, sagte Michael. »Hat er schon mal jemanden angeschossen?«

»Nein.«

»Aber Sie meinen, er sei ein guter Schütze.«

»Stimmt. Meine Deputys haben ihn auf dem Schießplatz üben sehen. Jeder Schuss ein Treffer, behaupten sie. Egal, ob mit dem Gewehr oder mit einer Faustfeuerwaffe. Anscheinend besitzt er ein ganzes Arsenal. Meine Leute haben ihn mit einem halben Dutzend unterschiedlicher Waffen beobachtet.«

Michael sah Jamie an. Sie schüttelte den Kopf. »Das ist mir neu. Ich wusste nicht, dass er schießen kann.«

Der Sheriff maß Jamie mit einem forschenden Blick. »Woher kennen Sie ihn überhaupt? Er redet nur mit dem alten Juan, unserem Bäcker. Jacobs lebt schon dort draußen, seit ich Sheriff bin. Seit über zehn Jahren.«

»Er ist mein Bruder«, sagte Jamie. »Er ist mit achtzehn von zu Hause ausgezogen.«

Der Sheriff nickte bedächtig. In seinen Augen lag eine Mischung aus Mitgefühl und Verständnis. »Hält er Kontakt zu Ihnen?«

Jamie schüttelte den Kopf. »Nicht so richtig.«

Sheriff Spencer schaute kurz beiseite und kniff nachdenklich den Mund zusammen. Michael sah, dass der Mann mit sich rang. Es gab etwas, womit er nicht herausrücken wollte, und es musste etwas Unerfreuliches sein.

»Spucken Sie’s schon aus«, sagte Michael. Er griff unter dem Tisch nach Jamies Hand. Ihre Finger waren eiskalt.

»Tratsch ist normalerweise nicht mein Ding …«

»Dann sagen Sie lieber nichts. Ich will nur Dinge hören, die auch hundertprozentig stimmen«, sagte Jamie. Ihr Griff um Michaels Hand wurde fester.

Der Sheriff wischte sich über den Mund. »Die Frau, Elena. Die beiden haben nie geheiratet. Das ist kein Problem. Und dass jemand ein Kind hat, ohne verheiratet zu sein, stört hier draußen die wenigsten.

Die beiden machten einen glücklichen Eindruck. Ich glaube, seit ihrem Unfalltod, habe ich ihn nicht mehr lächeln sehen …«

»Wie heißt er? Der Junge?« Jamie unterbrach den Sheriff erneut.

Spencer riss die Augen auf. »Sie kennen nicht mal seinen Namen? Herr im Himmel! Was ist Ihr Bruder bloß für einer? Der Kleine heißt Brian.«

Michael sah, wie Jamies Lippen stumm den Namen formten. Ihre Augen wurden feucht.

»Ich fasse es nicht. Er hat Ihnen das nicht gesagt?«, schnaubte der Sheriff. »Warum in aller Welt hat er Ihnen den Namen verschwiegen?«

»Ich wusste noch nicht mal, dass es den Jungen überhaupt gibt.« Jamies Stimme wurde immer leiser.

»Das ist ja noch schlimmer.« Der Sheriff schüttelte perplex den Kopf.

»Was wollten Sie gerade über Jacobs sagen?« Michael versuchte, Spencer wieder zum eigentlichen Thema zurückzulotsen.

Einen Moment lang starrte der Mann ihn unverwandt an. »Mist. Ich habe den Faden verloren. Ich wollte sagen, es gibt Leute, die glauben, Chris hätte bei dem Unfall mit im Wagen gesessen. Er hatte an dem Tag einen länglichen Bluterguss im Gesicht, behauptete aber, er hätte sich gestoßen. So genau weiß ich es nicht mehr. Aber die Leute fingen an zu tratschen. Es wurde darüber spekuliert, warum er nicht zugeben wollte, bei dem Unfall dabei gewesen zu sein. Damit machte er sich in den Augen seiner lieben Mitbürger verdächtig.«

»Hat er gesagt, dass er nicht dabei war?«, fragte Michael.

»Er hat gesagt, er sei zu Hause gewesen.«

»Warum unterstellt man ihm, dass er ihren Unfalltod verursacht hat? Haben Sie nicht eben gesagt, die beiden hätten glücklich gewirkt?«

Der Sheriff zuckte die Schultern. »Elena stammte aus Mexiko. Vermutlich illegal im Land. Möglicherweise haben sie deshalb nicht geheiratet. Sie ist eines Tages hier aufgetaucht und hat nach Arbeit gefragt. Wie sie Ihren Bruder kennengelernt hat, weiß ich nicht. Aber bei dem Unfall gab es ein paar Ungereimtheiten. Die Beifahrertür stand offen. Auf der Außenseite der Fahrertür wurde Blut von Elena gefunden. Aber die Tür und das Fenster waren zu. Jemand muss während oder nach dem Unfall bei ihr gewesen sein. Jacobs kommt am ehesten infrage. Die Sache ist nicht weit von seinem Haus passiert. Er hätte leicht heimlaufen können.«

»Wer hat sie gefunden«, flüsterte Jamie.

»Dean Schmidt. Kam zufällig vorbei und schwört, dass er die Fahrertür nicht angefasst hat. Das Blut daran ist ihm auch aufgefallen.

Er hat von der Beifahrerseite aus nach Elena gesehen, sagt, die Tür hätte offen gestanden. Handyempfang hatte er dort keinen. Um uns anrufen zu können, musste er erst noch ein paar Meilen fahren.«

»Vielleicht hat er ja doch mehr verändert, als er glaubt«, gab Michael zu bedenken.

»Ja, vielleicht«, sagte der Sheriff. »Aber Dean ist trotz seiner achtundachtzig Jährchen glasklar im Kopf. Er verpasst keine Folge von CSI und behauptet, er hätte nichts angerührt. Er hat bloß nach Elenas Puls getastet. Mehr nicht. Ein Großteil des Blutes war bereits getrocknet und Elena schon fast kalt, als Dean sie fand.«

»Aber jeder, der zufällig vorbeikam, hätte Spuren vernichten oder falsche Spuren legen können.«

»Sicher. Die Straße führt allerdings nur bis raus zu Schmidt und zu Ihrem Bruder. Andere Leute verirren sich dorthin so gut wie nie.«

»Es gab aber keinen Haftbefehl gegen Chris, oder?«, fragte Jamie.

»Nein. Ich habe sein Gesicht gesehen, als ich ihm gesagt habe, was passiert ist. Er sah aus wie ein Mann, der grade erfährt, dass er die Liebe seines Lebens verloren hat.« Der Sheriff blinzelte heftig. »Ich habe ihm ein paar Fragen gestellt und bin sicher, dass er nichts mit dem Unfall zu tun hat. Wer das Gerücht in die Welt gesetzt hat, dass er an Elenas Tod schuld sein könnte, weiß ich nicht. Aber ich würde mir denjenigen gerne vorknöpfen. In dieser verdammten Stadt wird sowieso zu viel getratscht.«

»Und was ist mit Ihnen? Sie haben uns doch grade auch erzählt, was die Leute so reden. Ist das etwas anderes?« Michael hob eine Augenbraue.

»Sie sind die Ersten, die es von mir erfahren. Den Leuten in der Stadt sage ich immer, sie sollen keinen Quatsch reden. Aber Sie sind mit Jacobs verwandt. Deshalb sollten Sie wissen, wie die Leute über ihn denken. Mir kommt er ziemlich verbittert vor. Und jetzt kennen Sie den Grund.«

Die Bedienung brachte das Essen. Die Portionen waren riesig. Michael sog den Duft ein. Himmlisch. Hungrig fiel er über die Enchiladas her. »Heiliger Bimbam, das Zeug ist gut.«

Jamie nickte mit vollem Mund.

Sheriff Spencer zog grinsend einen Zettel aus der Hemdtasche. »Hier ist die Wegbeschreibung. Und wie ich schon sagte: Achten Sie genau auf den Kilometerzähler. Sonst finden Sie die Abzweigungen nie.«

Er stand auf, nahm seinen Hut und warf einen Blick auf die Uhr. »Ein bisschen spät, um heute noch da raus zu fahren. Bei Nacht haben Sie kaum eine Chance, das richtige Haus zu erwischen. Ich würde lieber bis morgen warten. Aber das ist Ihre Sache. Unser Hotel ist gleich hier in der Straße.«

Michael stand auf und gab ihm die Hand. »Danke für Ihre Hilfe.«

Der Sheriff tippte an seinen Hut und nickte Jamie zu. »Viel Glück.«

Michael setzte sich und griff seufzend wieder zur Gabel. Chris Jacobs konnte bis morgen warten. Im Augenblick wollte er nur essen und schlafen.

»Das sind ja Unmengen Käse«, sagte Jamie mit einem schiefen Blick auf ihren Teller. »Die Kalorien muss ich alle wieder abtrainieren.«

Plötzlich war Michael gar nicht mehr müde.

 

image

 

Mason Callahan hasste Autopsien. Er saß mit voll aufgedrehter Klimaanlage vor dem gerichtsmedizinischen Institut in seinem Wagen und wünschte sich eine Zigarette. Sein Partner Ray lag mit einer Erkältung zu Hause im Bett, deshalb musste er heute allein die Stellung halten. Wenn Ray dabei war, war es nicht ganz so schlimm. Dann mussten sie sich verhalten wie echte Kerle. Allein konnte er ein Weichei sein, im Auto herumsitzen und Zeit schinden. Niemand drängte ihn, seinen Hintern ins Gebäude zu bewegen und sich anzuhören, was die Gerichtsmediziner zu sagen hatten.

Wenn es notwendig war, sah er sich die Autopsien zu seinen Fällen an. Normalerweise handelte es sich um einzelne Opfer, aber heute ging es um die Erwachsenen aus der Grube beim Bunker. Konnte man das überhaupt noch eine Autopsie nennen? Oder gab es eine andere Bezeichnung, wenn nur noch Knochen übrig waren? Anstatt Leichen auseinanderzunehmen, wurde hier ein Puzzle zusammengesetzt. Eigentlich das Gegenteil einer Autopsie.

Herrje.

Worauf warte ich eigentlich?

Es waren bloß Knochen. Aber er hasste schon allein das Gebäude. Diesen Geruch darin.

Widerstrebend schälte er sich aus dem Wagen. Die Hitze war wie ein Schlag ins Gesicht, er setzte seinen Hut auf. Ständig wurde er gefragt, wie er bei diesen Temperaturen einen Hut tragen konnte. Er mochte das Ding. Die Krempe spendete seinen Augen und seinem Nacken Schatten und die helle Strohfarbe reflektierte das Sonnenlicht. Ohne den Hut konnte er keinen kühlen Kopf bewahren.

Als das Telefon klingelte, war er gerade zwei Schritte weit gekommen. Die Nummer auf dem Display kannte er nicht. Normalerweise ließ er in solchen Fällen die Mailbox rangehen. Aber vielleicht war es ja wichtig. Vielleicht wurde er dringend irgendwo gebraucht. Weit weg vom gerichtsmedizinischen Institut.

»Callahan.«

»Detective. Hier Maxwell Brody.«

Mason nahm unbewusst Haltung an. »Ja, Senator? Was kann ich für Sie tun?«

»Nach unserer Unterhaltung kürzlich habe ich noch einmal gründlich nachgedacht und versucht, mich an Auffälligkeiten in der Zeit von Daniels Verschwinden zu erinnern.«

Offenbar war es mal wieder so weit. Mason schloss die Augen. Die Familien von Opfern sagten nie alles. Es gab immer etwas, was ihnen peinlich war oder von dem sie meinten, es ginge niemanden etwas an. Was zum Teufel hatte der Senator zwanzig Jahre lang für sich behalten?

»Ich habe mir meinen Kalender angesehen. Leute in meiner Position müssen über ihre Termine und Aktivitäten selbstverständlich Buch führen.«

Mason hörte eine zweite männliche Stimme im Hintergrund.

»Augenblick, Detective.« Die Stimme des Senators wurde zu einem gedämpften Murmeln. Dann sprach er wieder mit Mason. »Entschuldigen Sie bitte. Mein Bruder Phillip ist hier. Er hilft mir, meinen Kalender und die Aufzeichnungen von damals zu sichten.«

Mason stellte sich gleich noch aufrechter hin. Er war kurz davor, den Hut abzunehmen. Der Gouverneur war auch da? Da war er wohl mitten ins Schaltzentrum der Macht geraten.

»Ein paar Wochen vor Daniels Verschwinden hatte ich Probleme mit einem … na ja, vielleicht könnte man ihn einen Stalker nennen.«

Mason spitzte die Ohren.

»Bei dem Wort Stalker denke ich immer sofort an die Typen, die Frauen verfolgen und belästigen. Aber ich weiß nicht, wie ich ihn sonst nennen soll. Es fing ganz harmlos an. Mit ein paar hirnrissigen Briefen. Am liebsten würde man das Zeug gleich wegwerfen. Aber dann schüttelt man den Kopf, stempelt das Eingangsdatum darauf und heftet es ab. Vorsichtshalber.«

»Was steht denn in solchen hirnrissigen Briefen?«, fragte Mason.

»Dem Schreiber passten meine politischen Entscheidungen nicht. Welche genau, das weiß ich nicht mehr. Irgendwer hat immer etwas auszusetzen. Er meinte, das Auge Gottes ruhe auf mir, aber ich würde mich seinem Willen widersetzen und die Menschen vom Pfad der Tugend abbringen. So etwas in der Art.«

»Ein religiöser Fanatiker«, stellte Mason fest.

»Glauben Sie mir, ich habe schon alles gehört. In meiner Position überlebt man nur, wenn man sich ein dickes Fell zulegt. Die wirklich seltsamen Briefe beantworte ich nicht. Mit der Zeit entwickelt man ein Gefühl dafür, ob der Schreiber noch alle Tassen im Schrank hat. Mit den Irren beschäftigt man sich nicht weiter.«

»Und bei dem fehlten nicht bloß die Tassen, sondern sogar die Regalbretter?« Mason hörte den Senator schnauben und die Frage für seinen Bruder wiederholen. Ein tiefes Lachen tönte aus dem Hintergrund.

Der Gouverneur lachte über seinen Witz. Ein erhabener Moment, fand Mason.

»Könnte man sagen. Jedenfalls kamen immer mehr Briefe und dann fingen die Anrufe in meinem Büro an. Die Nachricht lautete immer gleich: Gott wird Sie strafen. Wofür er mich strafen sollte, weiß ich wie gesagt nicht mehr. Gedanken habe ich mir erst gemacht, als er anfing, mich zu Hause anzurufen.«

»Wissen Sie, wie er an Ihre Telefonnummer gekommen ist?«

»Nein, keine Ahnung. Aber irgendwann stand er vor meinem Büro und später auch vor dem Haus. Er muss mir eines Abends gefolgt sein.«

»Wie bitte? Im Ernst? Sicher haben Sie die Polizei gerufen?«

»Selbstverständlich. Als die kamen, war er allerdings schon weg. Bis zur Haustür hat er sich nie gewagt. Aber ich habe ihn draußen vor dem Tor auf und ab gehen sehen. Sie waren ja schon mal bei uns und kennen das Tor am Eingang.«

Mason erinnerte sich gut. Er hatte dort klingeln und seine Marke und den Dienstausweis in eine Kamera halten müssen, bevor das Hausmädchen ihn hineingelassen hatte.

»Er hat nicht geklingelt?«

»Damals hatten wir noch keine Klingel und keine Kamera. Er hätte das Tor einfach öffnen und zum Haus spazieren können. Aber das hat er nicht getan. Die Klingel und die Kamera haben wir kurz nach Daniels Verschwinden installieren lassen.«

»Und warum bringen Sie den Kerl damit in Verbindung?«

Der Senator antwortete erst nach einer kurzen Pause. »Eigentlich ist es vor allem die zeitliche Nähe. Und die Drohung, dass Gott mich strafen würde. Eine schlimmere Strafe als den Tod eines Kindes kann man sich kaum vorstellen.«

Im Hintergrund sagte Gouverneur Brody etwas.

»Dazu wollte ich gerade kommen, Phil«, sagte der Senator. »Detective, der Kerl wurde verhaftet, weil er unbefugt ins Kapitol eingedrungen ist. Es gibt also eine Akte. Nach dem Vorfall habe ich ihn nie wiedergesehen. Die Polizei in Salem habe ich noch nicht gebeten, die Akte aus dem Archiv zu holen. Ich wollte erst hören, was Sie dazu sagen.«

Mason kritzelte ein paar Worte auf seinen Notizblock. »Ich kümmere mich darum. Sie meinten, das Ganze sei ein paar Wochen vor … vor dem Verschwinden der Kinder passiert? Was schätzen Sie – wie lange lagen die beiden Ereignisse auseinander?«

»Etwa einen Monat, würde ich sagen.«

Weitere Informationen hatte der Senator nicht. Mason bedankte sich und beendete das Gespräch. Beim Überfliegen seiner Notizen hatte er ein eigentümliches Kribbeln im Bauch. Aber nicht das Kribbeln, das ihn überkam, wenn er eine heiße Spur witterte. Das hier war anders. Beklemmend.

Oder rumorte sein Magen nur, weil er immer noch vor dem gerichtsmedizinischen Institut herumstand? Und weil er jetzt auch noch zu spät kam?

Er eilte über den Parkplatz und durch die Doppeltür. Die Empfangsdame winkte ihn durch. »Die haben mich schon gefragt, ob ich Sie gesehen hätte. Sie sind in Saal sechs!«, rief sie ihm hinterher. Er war schon halb den Flur hinunter.

»Tut mir leid!«

Mason nahm den Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nach der Bruthitze draußen fühlte sich das Gebäude an wie ein Eisschrank. Als ihm der Geruch in die Nase stieg, hielt er kurz die Luft an. Man konnte ihm unmöglich entkommen. Vor dem Zubettgehen würde er seine Klamotten in die Waschmaschine stecken und sich lange unter die Dusche stellen müssen, um ihn wieder loszuwerden. Dabei war es völlig egal, ob er sich dreißig Minuten oder drei Stunden lang im Gebäude aufhielt. Dr. Campbell behauptete gern, das Institut sei mit der allerbesten Lüftungstechnik ausgestattet, die für Geld zu haben war. Daran zweifelte er nicht. Aber bislang hatte noch niemand etwas erfunden, womit sich der Gestank von verwesendem Fleisch abstellen ließ.

Er setzte ein perfektes Belüftungssystem für gerichtsmedizinische Institute auf seine mentale Liste von Geschäftsideen, mit denen man Millionen machen konnte.

Vor Saal sechs blieb Mason stehen, holte durch den Mund tief Luft und drückte mit der Schulter die Tür auf. Dr. Victoria Peres und Lacey Campbell standen Schulter an Schulter über einen Schädel gebeugt vor einem Sektionstisch aus Edelstahl. Dr. Peres zeigte gerade auf die Nasenöffnung. Dr. Campbell nickte zustimmend. Die Brauen hatte sie konzentriert zusammengezogen.

Mason ließ den Blick durch den Raum schweifen. Auf vier weiteren Tischen lagen noch vier Skelette. Jedes von ihnen sah aus, als hätte sich ein Mensch zum Schlafen hingelegt und sein Fleisch wäre einfach weggeschmolzen.

Wie haben sie die verschiedenen Skelette auseinandersortiert?

Jemand hatte die Körper in die Grube geworfen wie Müll. Für ihn hatte das nach einem einzigen Durcheinander ausgesehen.

»Mason. Hier rüber bitte.« Dr. Campbell winkte ihn zu sich. Ihre Augen strahlten, als sie ihn sah.

Aber vielleicht strahlten sie auch nur, weil sie den Fall so spannend fand. Man musste schon eine besondere Art Mensch sein, um sich für alte Knochen zu begeistern. Dr. Campbell gehörte zu diesem erlauchten Kreis. Dr. Peres ebenso. Die beiden schwebten so hoch im Knochenhimmel, dass sie seine Verspätung vielleicht gar nicht bemerkt hatten.

Dr. Peres nickte ihm zu. »Detektive.« Dann warf sie einen langen Blick auf die Uhr an der Wand.

Keine Chance. Der forensischen Anthropologin entging einfach nichts.

Er machte sich auf den Weg zum Tisch. Seine Schritte hallten viel zu laut. »Guten Morgen, die Damen.« Er blieb neben Dr. Campbell stehen und zwang sich, die Überreste genau anzusehen. Die Knochen waren schmutzig braun, nicht elfenbeinfarben, wie er es erwartet hatte. Die Überreste auf den anderen Tischen sahen genauso aus. »Warum sind die so dreckig?«

Dr. Peres schnaubte missbilligend und Dr. Campbell lächelte. Sie legte der Anthropologin beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Die sind nicht schmutzig. Sie haben nur die Farbe der Erde angenommen, in der sie zwanzig Jahre lang begraben waren. Das passiert häufig. Sie wurden bereits gesäubert. Hier und da hingen noch Gewebereste daran.«

Mason verzog das Gesicht. »Gewebereste? An den Knochen war tatsächlich noch Fleisch?«

»Ein kleines bisschen. Wir mussten sie nur eine Weile in verschiedene Flüssigkeiten legen. Das hat gereicht.«

Mason wusste, dass Dr. Campbell ihm die Details absichtlich ersparte. Er hatte schon gelegentlich den Saal verlassen müssen, wenn Knochen vor sich hin köchelten, damit das Fleisch abging. Das roch dann wie in einem Restaurant. Er schluckte.

»Wie haben Sie die Skelette denn sortiert? Und woher wissen Sie, dass Sie die richtigen Knochen zusammengepuzzelt haben?«, fragte er.

»Mit großer Sorgfalt«, antwortete Dr. Peres. »Zum Glück war ich bei der Bergung anwesend und konnte darauf achten, dass keine Fehler passieren. Und zum Glück hat er sie nacheinander verscharrt. Die dünne Erdschicht zwischen den einzelnen Skeletten hat uns geholfen, sie auseinanderzuhalten.«

»Es gab trennende Erdschichten? In welchen Abständen wurden sie denn begraben?«

Als Dr. Peres sich auf die Lippen biss, ahnte Mason, dass sie frustriert war, weil sie ihm keine genaue Antwort geben konnte.

»Das wissen wir noch nicht. Wir lassen die Erdproben gerade analysieren. Aber ich bin mir nahezu sicher, dass alle fünf innerhalb von zehn Jahren dort abgelegt wurden.«

Mason nickte. Wenn sie die Namen der Opfer kannten, würden sie sicher feststellen, dass sie in einem relativ eng begrenzten Zeitraum vermisst gemeldet worden waren. Aber erst einmal mussten sie identifiziert werden.

»Was können Sie mir sonst noch sagen?« Er zückte Notizblock und Stift.

Dr. Peres schaltete in den Vortragsmodus. »Das hier ist Nummer drei. Weiß, männlich, zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahre alt. Eins achtzig groß, mit einer gut verheilten Schienbeinfraktur.« Dr. Peres zeigte auf den Knochen im Unterschenkelbereich des Skeletts. Mason beugte sich näher und sah die unregelmäßige Erhebung entlang des ansonsten glatten Knochens. »Es kann drei bis fünf Jahre dauern, bis ein Bruch so gut verheilt ist. Das ist eine alte Verletzung … im Gegensatz zu der hier.« Dr. Peres ging zu einem anderen Tisch und zeigte auf einen Unterarmknochen.

Die gezackte Bruchkante war deutlich sichtbar. »Das ist erst kurz vor dem Tod passiert. Der Bruch ist eine typische Abwehrverletzung.« Sie hob die Arme und kreuzte sie vor ihrem Gesicht, als wollte sie ihren Kopf schützen. »Stellen Sie sich vor, Sie gehen vor einem Baseballschläger in Deckung. Wo wird er Sie treffen?«

Mason nickte. Ihre kleine Demonstration war sehr überzeugend. »Aber wie können wir sicher sein, dass das nicht während des Transports der Knochen passiert ist? So alte Knochen sind doch sicher spröde und brechen leicht.«

Dr. Peres griff lächelnd nach der verletzten Elle. »Jeder Bruch erzählt eine Geschichte. Sehen Sie hier?« Sie strich mit dem behandschuhten Finger über die Stelle. »Dieser dunkle Fleck? Hier gab es wegen des Bruchs eine Blutung. Wenn der Knochen während des Transports gebrochen wäre, müssten die Bruchstellen heller sein als das umgebende Material. Es hätte nichts eindringen und den Knochen dunkler färben können.

Und fällt Ihnen auf, wie unregelmäßig die Bruchkante ist? Das deutet auf einen frischen Knochen hin. Wenn Knochen lange nach dem Tod brechen, ist die Bruchkante fast glatt, denn der Knochen wird spröde wie ein dürrer Ast. Haben Sie schon mal versucht, einen grünen Zweig durchzubrechen? Das wird eine faserige, unordentliche Angelegenheit. Ein frischer Zweig bricht nicht glatt. Bei Knochen ist es genauso.«

Mason erinnerte sich an seinen Versuch, beim Campen ein paar Zweige von einem Baum zu brechen, weil er Marshmallows hatte grillen wollen. Es hatte nicht geklappt. Am Ende hatte er zur Axt gegriffen. »Dann ist jemand mit einem Schläger oder einer Keule auf ihn losgegangen, und er hat versucht, sich zu schützen?«

Dr. Peres nickte und legte den Knochen präzise an seinen Platz zurück. »Er wurde mit einem sehr harten Gegenstand traktiert. Und sein Schädel weist drei Schlagverletzungen auf, die perimortal – also um den Zeitpunkt des Todes – zugefügt worden sind. Welche Waffe benutzt wurde, kann ich Ihnen nicht sagen. Nur, dass sie großflächig und stumpf war. Für einen Hammer sind die Abdrücke auf dem Schädel zu groß.« Sie hob den Schädel und zeigte Mason die von einem Gespinst aus Rissen umgebenen Verletzungen.

»Hätten die gereicht, um ihn zu töten?«

»Ganz sicher.«

Ist der Mann zu Tode geprügelt worden?

»Trotzdem glaube ich nicht, dass die Schläge die Todesursache waren.« Sie drehte den Schädel und zeigte ihm ein kleines rundes Loch an der Rückseite. »Die Todesursache sehen wir wohl hier.«

»Meine Güte«, murmelte Mason. »Eintritts- oder Austrittswunde?«

»Eintrittswunde«, sagte Dr. Peres. »Sehen Sie, wie glatt die Außenränder sind? So sehen Eintrittswunden aus. Wir haben weder eine Austrittswunde noch die Kugel. Sie ist entweder durchs Auge oder gar nicht herausgekommen.« Dr. Peres runzelte die Stirn. »Aber in letzterem Fall hätten wir die Kugel im Schädel finden müssen.«

Mason machte sich Notizen. »Haben die anderen auch Schussverletzungen?«

»Drei der Schädel weisen welche auf«, antwortete Dr. Campbell.

»Kennen wir das Alter der Opfer?«

»Sie gehören alle derselben Altersgruppe an«, sagte Dr. Peres. »Drei sind weiß, zwei afroamerikanisch.«

Mason blickte von seinem Notizblock auf. »Ach? Ein Rassist war unser Killer wohl nicht.«

Dr. Campbells Augen verengten sich. »Tut die Hautfarbe etwas zur Sache?«

»Die meisten Mörder suchen sich bevorzugt Opfer einer Rasse oder Hautfarbe. Nicht zu hundert Prozent, aber doch ziemlich oft.«

»Anstelle von Rasse würde ich lieber von ethnischer Herkunft sprechen«, sagte Dr. Peres kühl.

Mason hob die Hände. »Ich will nur rauskriegen, wer das getan hat. Tut mir leid, wenn ich mich nicht immer politisch korrekt ausdrücke. Ehrlich gesagt verliere ich langsam den Überblick darüber, was man noch sagen darf und was nicht. Ich weiß nur, dass Übereinstimmungen bei der Wahl der Opfer helfen können, den Täter zu finden.« Er sah die beiden Frauen an. »Und jetzt erklären Sie mir bitte, wie Sie an den Knochen erkennen können, ob jemand schwarz ist oder … Afroamerikaner … wie immer sie es nennen wollen. Fakt ist, er wurde umgebracht und ich will den Mörder kriegen.«

Die Frauen tauschten einen langen Blick aus. Dann griff Dr. Campbell nach einem der Schädel. »Bei Afroamerikanern finden wir häufig eine breite Nasenöffnung und rechteckige Augenhöhlen.«

»Rechteckig? Im Ernst?«

Dr. Peres zeigte ihm einen anderen Schädel. »Sehen Sie? Der ist von einem Weißen.«

Tatsächlich. Die Augenöffnungen des ersten Schädels erinnerten eher an Rechtecke.

»Es gibt noch jede Menge andere Merkmale, mit denen sich die ethnische Herkunft bestimmen lässt«, sagte Dr. Campbell. »Aber die Nase ist meist am aussagekräftigsten.«

Mason verkniff sich den Kommentar, dass die verdammten Nasen längst weg seien; er sah nur Löcher. In seiner Tasche vibrierte das Handy.

»Auch das noch.« Er zog das Telefon heraus. Dieselbe unbekannte Nummer wie zuvor.

»Callahan.« Mason starrte an Dr. Peres vorbei. Er hatte keine Lust, sich einen vernichtenden Blick einzufangen, weil er mitten in ihrem Vortrag ans Telefon ging.

»Detective. Ich wollte Ihnen ein bisschen Arbeit ersparen und habe selbst ein paar Anrufe getätigt. Die Haftunterlagen des Mannes, von denen ich Ihnen vorher erzählt habe, liegen vor.«

So schnell? Das schaffte sonst nicht mal Mason.

»Ich lasse sie scannen und Ihnen per Mail zuschicken. Der Kerl hieß Jules Thomas.«

»Danke, Senator. Ich schaue mir die Unterlagen an.«

»Gern geschehen.« Der Senator legte auf.

Mason steckte kopfschüttelnd das Handy weg. Der Mann war effektiv. Und schnell.

»Senator?«, fragte Dr. Campbell. »Senator Brody?«

»Ja. Der Vater Ihres Ex-Freundes. Er hat mir ein paar Informationen besorgt.« Mehr sagte er nicht. Dr. Campbell kannte den Senator und vor allem dessen Sohn. Wenn sie Fragen hatte, konnte sie sie den beiden direkt stellen.

»Ich breche diese interessante Anthropologie-Lehrstunde nur ungern ab. Aber ich muss dringend ins Büro.« Mason nickte den beiden zu. »Ihre Berichte werde ich aufmerksam studieren, Dr. Peres. Je eher wir die Skelette mit den Listen der vermissten Personen abgleichen und die Opfer identifizieren können, desto schneller kommen wir an den Täter ran. Dann wissen wir hoffentlich auch bald, wer außer den Erwachsenen einen ganzen Schulbus voller Kinder auf dem Gewissen hat. Guten Tag, die Damen.«

Er gab sich Mühe, den Saal und das Gebäude nicht im Laufschritt zu verlassen. Draußen in der Sommerhitze atmete er gleich dreimal tief durch.

Saubere, frische Luft.

 

image

 

Michael schlug noch zweimal auf die Tischklingel am Empfang. Jamie sah sich in dem kleinen Vorraum um. Das einzige Hotel der kleinen Stadt war die Frühstückspension zwei Häuser vom Restaurant entfernt. Die Einrichtung wirkte einladend und gemütlich, roch aber alt und verwohnt. Die Teppiche wurden vermutlich zweimal täglich gesaugt, waren aber wohl seit Jahren in keiner Reinigung gewesen.

Michael sah aus, als wollte er über den Tresen springen und das Einchecken selbst übernehmen. Jamie legte ihm die Hand auf den Arm. »Sheriff Spencers Empfangsdame hat doch gesagt, der Besitzer sei schwerhörig und wir sollten öfter klingeln.«

Michael schlug noch einmal auf die Klingel. Endlich drang eine undeutliche Stimme aus dem Obergeschoss.

»Was hat er gesagt?«, fragte Michael.

Jamie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber wenigstens hat er uns gehört.«

Jemand stapfte schwerfällig die Treppe herunter. Der Takt der Schritte war seltsam unregelmäßig. Schließlich bog ein grauhaariger Mann um die Ecke und lächelte sie an. Eines seiner Beine war etwas kürzer als das andere und ließ sich nicht anwinkeln. Jamie fand sein Grinsen ansteckend.

»Sie müssen die beiden sein, von denen Sara mir am Telefon erzählt hat«, sagte er auf dem Weg hinter die Theke. »Sara meinte, Sie würden hier übernachten. Sie sind doch die Leute aus Portland?«

Die Buschtrommeln hatten gesprochen.

»Ja«, antwortete Jamie. »Und Sie sind Chuck?«

Jamie verliebte sich Hals über Kopf in seine strahlenden braunen Augen. Sie hatte ihren Großvater nie kennengelernt, aber so wie dieser Mann hätte er sein sollen: freundlich und mit einem verschmitzten Lächeln. »In voller Größe. Und das Zimmer habe ich schon für Sie hergerichtet.«

»Prima.« Michael griff nach seiner Tasche. »Wir sind nämlich ganz schön platt.«

Jamie erstarrte. »Moment.«

Ein Paar grüne und ein Paar braune Augen sahen sie forschend an. Die grünen unschuldiger als die braunen.

»Wir brauchen zwei Zimmer«, erklärte sie.

Chucks Grinsen fiel in sich zusammen. »Oh, na ja, dann haben wir ein Problem. Ich bin ausgebucht.«

»Ausgebucht? Aber ich dachte, hierher verirrt sich kaum je ein Fremder.« Michael grinste.

»Das ist richtig. Aber ich habe nur fünf Zimmer. Und vier sind bereits belegt. Diese Woche ist hier ganz schön was los. Die Hensens haben Verwandte zu Besuch, aber keinen Platz, sie unterzubringen. Damit sind schon zwei Zimmer voll.

Jordeen Golds Schwiegermutter ist ebenfalls hier, aber sie weigert sich, mit Jordeen unter einem Dach zu schlafen, weil Jordeen die zweite Frau ihres Sohnes ist und sie seine Ex lieber hatte.« Chuck zählte die Zimmer an den Fingern ab. »Bill Norman schläft seit zwei Nächten in meiner Pension, weil seine Frau ihn rausgeworfen hat. Ich nehme mal an, zwei Nächte bleibt er noch. Das ist normalerweise ihr Limit.« Er blickte lächelnd auf. »Bleibt noch ein Zimmer übrig und das kriegen Sie.«

»Wunderbar«, sagte Michael. Verschwörerisch beugte er sich zu Chuck. »Jamie wollte nur keinen falschen Eindruck erwecken, weil wir nicht verheiratet sind. Sie verstehen das sicher.«

Jamie hatte gute Lust, ihm den Ellbogen in die Seite zu rammen. »Wir wollen Sie nicht in Verlegenheit bringen. Gibt es irgendwo in der Stadt noch eine andere Unterkunft?«

»Sie bringen mich nicht in Verlegenheit.« Chuck tätschelte ihren Arm. »Mein kleines Hotel ist das einzige im Umkreis von dreißig Meilen. Sie müssen schon hierbleiben. Es sei denn, Sie wollen campen.«

Jamies Stresspegel schoss in die Höhe. Eine Nacht mit Michael Brody zusammen in einem Zimmer? Ihre Hormone spielten schon seit ihrer ersten Begegnung mit ihm verrückt. Und jetzt sollte sie sie in einem kleinen Zimmer mit einem einzigen Bett unter Kontrolle halten?

Augenblick mal. Wo ist eigentlich das Problem? Sie atmete ein paarmal tief durch. Sie war eine erwachsene Frau, kein Teenager. Seit zwei Tagen drückte dieser Mann all ihre Knöpfchen und jetzt hatte sie die Chance, mit ihm allein zu sein. Das hier war eine Gelegenheit, kein Anlass zur Flucht. Sie musste nur ihren Blickwinkel ändern.

Im Gegensatz zu ihr schien Michael mit den Gegebenheiten mehr als zufrieden zu sein. Warum waren Männer in solchen Situationen nicht gestresst?

Sie musste anfangen zu denken wie ein Mann.

Wenn sie etwas von einem Kerl wollte, musste sie ihm das zeigen, es fordern oder ihn darum bitten.

Was soll schon passieren? Dass er Nein sagt?

Sie bezweifelte, dass er das tun würde.

»Na ja«, sagte Chuck langsam. »Ich habe noch ein Mansardenzimmer. Normalerweise vermiete ich es im Sommer nicht, weil die Klimaanlage nicht …«

»Wunderbar. Dann nehmen wir das auch.« Jamie atmete aus. Die Diskussion mit ihrem inneren Vamp war plötzlich gegenstandslos geworden. Sie hatte ihr eigenes Zimmer. Überrascht stellte sie fest, wie sehr sie das enttäuschte. Sie hatte sich eine Gelegenheit durch die Lappen gehen lassen und nichts gewagt. Nie riskierte sie einen Sprung ins Ungewisse. Dabei hatte sie sich schon fast durchgerungen, endlich mal ein Risiko einzugehen … Welches Risiko denn? Dass er sie mit einer Zurückweisung in Verlegenheit brachte? Dass sie sich um eine der heißesten Nächte brachte, die das Leben vielleicht für sie bereithielt? Wie oft begegnete einem ein Mann wie Michael Brody?

Ihr passierte das gerade zum ersten Mal.

Würde sie eine zweite Chance bekommen?

Himmel, sie war so durcheinander.

Neben ihr lachte Michael lautlos in sich hinein, als könne er ihre Gedanken lesen. Sie starrte ihn finster an. »Michael nimmt das Zimmer unter dem Dach.«

 

image

 

Chuck war cool. Michael gefiel der alte Mann. Auf dem Weg hinauf zu den Zimmern zwinkerte er Michael zu.

»Ich muss das Dachzimmer erst zurechtmachen«, sagte er. »Sie beide können solange im ersten Zimmer warten. Ich mache oben die Fenster auf, aber es wird dort ganz schön heiß sein. Lassen Sie sich noch ein bisschen Zeit, bevor Sie raufgehen, damit es etwas abkühlen kann.« Er drückte Michael einen Schlüssel in die Hand. Einen richtigen Schlüssel, keine Codekarte. »Ich habe Ihnen vorher eine Flasche Wein hier reingestellt. Sicher ist sie noch kalt. Zum Wohl!« Chuck schloss die Tür hinter ihnen. Dann hörten sie seine unregelmäßigen Schritte eine Treppe höher stapfen.

»Perfekt«, sagte Jamie. »Einen Schluck Wein kann ich jetzt gebrauchen.« Nach einem Blick aufs Etikett griff sie zum Korkenzieher. Sie schenkte sich ein großes Glas ein und sah Michael fragend an. Als er nickte, füllte sie ein zweites Glas und reichte es ihm.

Das Zimmer war sauber, das Doppelbett sah bequem aus. Das altmodische, verblichene Dekor scherte Michael nicht.

Jamies Weinglas war seltsamerweise bereits leer. Sie schenkte sich nach und nahm das Glas mit ins Badezimmer. Michael hörte sie Behälter, Fläschchen und Tuben – was immer Frauen mit auf Reisen nahmen – geräuschvoll auf den Ablagen verteilen. Vermutlich würde sie in einem Jogginganzug wieder herauskommen, obwohl die Temperatur noch immer deutlich über dreißig Grad lag. Und dann würde sie ihn in sein vierzig Grad heißes Dachzimmer schicken.

Michael stellte seufzend sein Weinglas ab, ließ sich auf das Doppelbett fallen und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Morgen würden sie mit Chris reden und hoffentlich erfahren, was mit Daniel passiert war. Heute konnte er nichts mehr tun. Ständig darüber nachzudenken, half im Moment nicht weiter. Es war Zeit, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren.

Auf Jamie.

Was wollte er von dieser Frau?

Sex.

War das alles?

Er runzelte die Stirn. Nein. Nicht einmal annähernd.

Sein Körper sehnte sich nach Sex. Das war nicht zu verleugnen. Sobald sie in seiner Nähe war, ging sein Hormonpegel durch die Decke. Aber er wollte mehr. Michael studierte die Zimmerdecke. Er wollte auch das, was danach kam. Morgens aufwachen und die Frau eng an sich ziehen. Wissen, dass weder sie noch er nun aufstehen und gehen musste. Zusammen auf der Terrasse Kaffee trinken. Sich die Sonntagszeitung teilen. Gemeinsam überlegen, wo sie den nächsten Urlaub verbringen wollten.

Schon bei der ersten Begegnung mit ihr hatte ihm eine innere Stimme laut und deutlich befohlen, diese Frau festzuhalten. Klipp und klar. Die Stimme war immer noch da.

Aber … wie sollte er das Jamie erklären, ohne dass sie die Flucht ergriff oder ihm ins Gesicht lachte?

Ach verdammt, er steckte drin bis zum Hals.

Und sie hatte die Schaufel. Heute Nacht durfte er es auf keinen Fall vermasseln. Michael tastete nach dem Handy in seiner Hemdtasche. Am liebsten hätte er jetzt Lacey angerufen und sie um einen Rat gebeten.

Aber was würde Jamie denken, wenn sie aus dem Badezimmer kam und hörte, dass er mit einer Frau telefonierte? Sicher das Falsche.

Denk nach, Michael. WWLT? Was würde Lacey tun?

Lacey würde reden. Sie würde Jamie sagen, was ihr im Kopf herumging.

Das konnte er auch tun. Er musste nur den Teil über Sex herausfiltern.

Auch was in ihr vorging, interessierte ihn. Ein paarmal war sie richtig aufgetaut und hatte so offen mit ihm geredet, als würden sie sich schon ewig kennen. Und es hatte Momente gegeben, in denen vor allem die Hormone gesprochen hatten.

Lacey würde ihm raten, Jamie einfach nach ihren Gefühlen zu fragen.

Kein Problem. Er setzte sich auf. Sein Kopf war nun klarer, zum Reden bereit.

Die Tür des Badezimmers ging auf.

Michael schnappte nach Luft.

Warum hatte Chuck nicht Wodka statt Wein ins Zimmer gestellt?

 

image

 

Jetzt oder nie.

Die zweite Chance war ihr in den Schoß gefallen, als Chuck gesagt hatte, er müsste das Dachzimmer erst herrichten. Nur ein ganz dummes Mädchen hätte diese Gelegenheit verstreichen lassen. Mit angehaltenem Atem legte Jamie die Hand auf die Klinke der Badezimmertür. Die letzten fünf Minuten hatte sie mit sich gekämpft, dabei das zweite Glas Wein ausgetrunken und den schwarzen BH samt passendem Tanga angezogen. Die Garnitur hatte sie zufällig mit eingepackt.

Komischer Zufall. Als sie das schwarze Duo in ihre Tasche geworfen hatte, hatte sie genau gewusst, warum. Weil es sein konnte, dass sie mit Mr Brandheiß in einem Hotelzimmer landete. Und genau da war sie jetzt.

Das Einzige, was ihr im Weg stand, war sie selbst. Sie war sicher, dass Michael sie nicht zurückweisen würde. Dafür hatte sie ihn oft genug dabei ertappt, wie er ihr auf diverse Körperteile starrte. Außerdem hatte er seit dem Einbruch in ihrem Haus die Beschützerrolle übernommen. Sie konnte die Pheromone fast riechen.

Hinter ihr lag einer der stressigsten Tage ihres Lebens. In Portland gab es jemanden, der so erbittert nach Chris suchte, dass er sogar in ihr Haus einbrach und sie mit der Waffe bedrohte. Es tat gut zu wissen, dass fast ein ganzer Bundesstaat zwischen ihr und dem Einbrecher lag. Mit Michael zusammen zu sein, gab ihr ein zusätzliches Gefühl von Sicherheit. Morgen würde er ihr helfen, ihren Bruder zu finden. Aber heute …

Er hatte ihre Hand gehalten.

Das hatte sie tief berührt und innerlich dahinschmelzen lassen. Während des Abendessens, als der Sheriff von ihrem Neffen gesprochen hatte, hatte Michaels fürsorgliche Geste sie getröstet. In diesem Augenblick hätte sie sich am liebsten auf seinen Schoß verkrochen und das Gesicht an seinem Hals vergraben.

Aber im Augenblick suchte sie weder Trost noch Geborgenheit. Sie wollte eine Kostprobe der wilden Achterbahnfahrt, die ein Zusammensein mit diesem Mann versprach. Diese Verheißung triefte geradezu aus seinen Poren. Er verströmte eine berauschende Mischung aus purem Testosteron und lässiger Männlichkeit.

Was konnte schlimmstenfalls passieren? Dass er mit ihr ins Bett ging und sich danach nicht mehr meldete? Das wäre traurig, aber sie würde es überleben und sich an die Nacht noch lange erinnern.

Verdammt, genau so eine Nacht brauche ich jetzt.

Und zwar so sehr, dass sie sogar bereit war, dafür ein Risiko einzugehen. In den nächsten Stunden wollte sie eine andere Frau sein. Nicht die Grundschuldirektorin Jacobs. Nicht die ordentliche, stets bestens organisierte Jamie, die keinen ungeplanten Schritt machen konnte.

Sie schaute in den Spiegel und strich über ihren flachen Bauch. Ihre Brüste konnten sich sehen lassen. Und in einem Tanga sah fast jeder Hintern gut aus. Der Wein wärmte ihre Glieder und gab ihr den Mut, den sie jetzt brauchte. Sie wollte Michael Brody und das sollte er jetzt erfahren. Jamie hob das Kinn und öffnete die Tür.

 

image

 

Ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf.

Eine Göttin in schwarzer Spitze kam aus dem Badezimmer geschwebt. Sie hob das Kinn und hielt seinen Blick fest – verführerisch, herausfordernd und furchtlos.

Seine Stimme versagte. Er streckte die Hand aus und zog sie wieder zurück. Erst einmal wollte er sie nur anschauen, diesen Anblick in sich aufsaugen. Jamie bestand nur aus glatter Haut und langen Gliedern. Ihre Beine waren endlos. Als sie ihr Haar über die Schulter warf, blieb ihm fast das Herz stehen.

»Heiliger Bimbam. Du bist brandheiß.«

Ihr Lachen wärmte sein Herz.

»Was soll das werden?«, krächzte er. Anscheinend war sie bereit für ein paar Runden zwischen den Laken. Und er hatte sich gerade fest vorgenommen, nur mit ihr zu reden.

Plötzlich setzte sein Gehirn wieder ein. »Moment. Nein. Gib mir keine Antwort. Sag nichts. Sonst überlegst du es dir womöglich anders.«

Jamies Mundwinkel kräuselten sich nach oben. »Du kennst mich schon ganz gut. Wenn ich noch lange darüber nachdenke, renne ich ins Bad zurück und ziehe mich wieder an.« Ein Anflug von Nervosität trat in ihre Züge.

Eine falsche Bewegung und sie würde flüchten.

»Herrje, Frau! Ich will dich so sehr, ich halte es kaum aus.«

Das nervöse Flackern in ihren Augen verschwand.

»Während du im Bad warst, habe ich mir mit aller Macht eingeredet, wir sollten den Rest des Abends über unsere Gefühle reden.«

Ihre Augenbrauen hoben sich.

»Ja, stimmt. Klingt albern – nicht wahr?« Diesmal streckte er die Hand aus und berührte tatsächlich ihren Oberschenkel. Seidig. Ihre Haut fühlte sich genau so an, wie er es sich vorgestellt hatte.

»Du hast Gefühle, über die du mit mir reden willst?«

»O ja.« Er legte die Handflächen auf ihre Schenkel, starrte die Haut unter seinen Fingern an. Ich will dich überall spüren.

»Michael, im Ernst. Was wolltest du mit mir besprechen?«

Er blinzelte und schaute in die fragenden hellgrünen Augen.

Rede mit ihr.

Aber ihm fehlten die Worte. Er hatte nur noch einen Gedanken. Das Gefühl ihrer Haut unter seinen Fingern löste in seinem Hirn eine ganze Serie von Kurzschlüssen aus. Vorsichtshalber nahm er die Hände weg. Sie setzte sich zu ihm aufs Bett, versenkte ihren Blick in seinen und griff nach seiner Hand. Ihre Handfläche war ein bisschen feucht. Er konnte den Wein in ihrem Atem riechen.

Er befeuchtete seine Lippen.

Hatte er nicht irgendwo gelesen, dass Frauen anmachte, was sie hörten, während Männer anmachte, was sie sahen?

Letzteres konnte er nur bestätigen.

»Versteh mich nicht falsch«, begann er. »Ich will es. Ich will genau das, was du mir … geben willst. Das wollte ich schon von dem Moment an, an dem ich dich zum ersten Mal an deiner Haustür stehen sah. Du hast einfach alles. Hirn, Schönheit und Eier in der Hose.«

Sie runzelte die Stirn.

»Das war ein Kompliment.« Er rieb sich die Stirn. Kompliment? »Ich meine, du hast Schlimmes erlebt und dich nicht unterkriegen lassen.«

Ihr Gesichtsausdruck blieb derselbe.

»Ach Mist. Verdammt. Reden dürfte für mich eigentlich kein Problem sein.« Er nahm ihre Hände und sah ihr fest in die Augen. »Hör zu. Du bist es einfach, Prinzessin. Ein Blick von dir und ich brenne. Aber das ist nicht alles. Ich will nachts aufwachen, mein Bein ausstrecken und deines spüren. Ich will im Bad dein Make-up neben meinem Rasierzeug stehen sehen. Wenn ich morgens den Kaffee einschenke, dann sollen es zwei Tassen sein.«

Sie blinzelte nur.

»Mich interessiert deine Meinung zu den nächsten Wahlen und zu den bescheuerten Kinderschönheitswettbewerben im Fernsehen. Und ob du gern indisch essen gehst.« Er holte Luft. »Ich weiß nicht, ob du gerne reist, ins Kino gehst oder campen. Aber ich möchte es rausfinden! Damit will ich sagen: Ich mag dich, Jamie. Sehr sogar. Ich will mehr als eine kurze Nacht mit großartigem Sex. Und es wird großartig sein, das weiß ich. Aber ich will, dass es danach weitergeht. Verstehst du, was ich meine?«

In ihren Augen blitzte ein Lächeln auf. »Voll und ganz. Du sagst, ich bin kein One-Night-Stand.« Sie berührte den Kragen seines Shirts und dann die Haut darunter. Ihr Blick folgte ihren Fingern.

Flammen schossen von seinem Hals aus in tiefere Regionen.

Er riss sie an sich und küsste sie.

Sie erwiderte seine Küsse genauso leidenschaftlich und die nächsten Minuten gehörten hungrigen Lippen und forschenden Händen. Kleider wurden hastig abgestreift, Häkchen ungeduldig geöffnet. Die Bettdecken mussten weg, damit sich nackte Haut an kühlen Laken reiben konnte. Fest an sie gepresst streckte Michael sich neben Jamie aus. Er bedeckte jeden Quadratzentimeter ihrer seidigen Haut mit seiner. Sie klammerte sich an ihn, rieb die Schenkel an seinen und drückte ihre Brust an ihn.

Er hatte noch längst nicht alles gesagt, aber reden konnten sie später. Sie fuhr mit den Nägeln durch sein Haar und löste damit ein Feuerwerk in ihm aus. Sein Mund verschlang ihren, während sie sich über die Laken wälzten und abwechselnd die Führung übernahmen. Seine Hände glitten über ihre glatte Haut, prägten sich jede Rundung, jede Kurve ein. Alles geschah schnell und gierig. Das war kein ruhiger Kuschelsex. Er kam sich vor wie ein Verhungernder.

Und Jamie war wie ein Festmahl.

Einen Moment lang hielt er inne, lehnte sich zurück und drückte sie ans Bett, damit er sie anschauen konnte. Ihre Augen waren dunkel, ihre Pupillen weit, die Lippen leicht geöffnet und feucht. Sie atmete schwer, doch ihr Blick hielt ihn fest. Dieser Blick sagte ihm, dass er einen Moment Zeit hatte, um seine Augen an ihr zu weiden. Aber nicht mehr. Er wollte sie und er wollte sie ganz.

»Es ist nicht bloß Sex«, wiederholte er. Ihm war wichtig, dass sie das wirklich verstanden hatte, bevor es weiterging.

»Ich weiß.« An ihrem Hals pulsierte eine Ader.

Ihr Bein schob sich zwischen seine. Sie rieb den Oberschenkel an seiner Härte. Michael unterdrückte ein Stöhnen. Er beugte sich über sie, nahm sanft eine Brustwarze zwischen die Zähne und neckte die freche Spitze mit der Zunge. Jamie krallte sich an ihn. Der Duft ihrer Haut jagte ihm Schauer über den Rücken und ließ seine Hormone überschäumen.

Keine Zeit zum Reden. Er teilte sie mit der Hand, streichelte sie. Die Feuchtigkeit, die er spürte, führte fast dazu, dass er sich auf ihren Bauch ergoss. Sie drückte ihm ein Kondom in die Hand. Er riss die Verpackung auf, holte es heraus und zog es über. Ihre Knie hoben sich, ihr Kopf kippte zurück. Er drängte sich an sie und glitt tief in sie hinein.

Ihre Körper bäumten sich gemeinsam auf, das Tempo war fieberhaft und schnell. Sie liebten sich wild und leidenschaftlich. Genauso brauchte er es jetzt und sie anscheinend auch. Ihre Nägel gruben sich in seinen Rücken, der exquisite Schmerz stachelte ihn weiter an. Weiße Lichter tanzten hinter seinen Lidern, dann hörte er sie nach Luft schnappen, spürte, wie sie sich um ihn zusammenzog. Sie riss ihn mit sich.

Michaels Höhepunkt war eine Explosion aus tausend Empfindungen.

Später schlang er die Arme um sie und genoss das Gefühl, Haut an Haut mit ihr dazuliegen. Sie war eingedöst, aber er kämpfte gegen den Schlaf. Er wollte diesen Moment nicht loslassen, wollte ihn ausdehnen, solange er konnte und die Intimität genießen, die zwischen ihnen war. Aber das war längst nicht alles. Er wollte mehr von dem, was sie ihm geben konnte. In jeder Beziehung. Die Sache mit Jamie sollte kein Sprint werden, sondern ein Langstreckenlauf. Er konnte es kaum erwarten, morgens zwei Tassen Kaffee einzuschenken.