Kapitel 11

 

Obwohl Mason am Abend zweimal geduscht hatte, hätte er schwören können, dass der Gestank vom gerichtsmedizinischen Institut noch immer an seiner Haut klebte. Unruhig rutschte er auf seinem Bürosessel herum, schaute nach seinen E-Mails und hoffte, dass Dr. Peres ihm einen Bericht geschickt hatte. Zwecklos. Dafür war es noch zu früh am Tag. Verflixt. Er war gestern erst dort gewesen. Mason schnüffelte an seinem Handgelenk.

»Kannst du das nicht mal lassen?«

Ray warf Mason über ihre aneinandergeschobenen Schreibtische hinweg einen düsteren Blick zu. Zwischen ihnen standen die Computermonitore und alles, was sich mit der Zeit auf den Schreibtischen ansammelte. Auf Masons Seite lagen die Aktenstapel kreuz und quer übereinander. Bei Ray war alles ordentlich in Ständern und Kästen verstaut. Mason vergaß immer wieder, sich welche zu besorgen, damit er ebenfalls Ordnung schaffen konnte.

»Ich kriege den Gestank aus dem gerichtsmedizinischen Institut nicht aus der Nase. Ich könnte schwören, er strömt mir aus allen Poren.«

Ray schnüffelte. »Ich rieche nichts.«

»Ich schon. Verdammt, ich habe gestern zweimal geduscht. Was ist bloß mit diesem Scheißladen los?«

»Ich hasse ihn.« Ray schüttelte den Kopf.

»Dito. Wie können die dort bloß arbeiten?«

»Meine Frau würde mich umbringen, wenn ich jeden Tag nach der Arbeit nach Tod und Leichen riechen würde. Sie mag schon den Geruch nicht, den ich von der Schießanlage mitbringe. Dabei ist der doch ganz angenehm.«

»Glaubst du, es gibt dort Duschen? Und eine Wäscherei für die normalen Klamotten? Dass ihre Laborkittel gewaschen werden, ist ja klar. Aber was ist mit ihrem eigenen Zeug?« Mason schüttelte sich. »Der Geruch geht doch sicher kaum noch raus.«

»Glaub mir, ich würde eine Ecke in der Garage abteilen und die Kleider dort waschen. Nie würde ich die mit den Sachen meiner Kinder zusammen in die Maschine stecken.« Ray hämmerte auf sein Keyboard ein. »Hey. Wenn man vom Teufel spricht … Eben kam eine Mail vom Institut.«

Mason schaute auf seinen Bildschirm, öffnete die neue Nachricht und überflog sie rasch. »Die haben anhand der Gebisse zwei weitere Leichen aus der Grube identifiziert. Beide mit Vorstrafen. Alte Geschichten.«

Ray stieß ein Triumphgeheul aus. »Es geht voran.«

Mason las weiter. Ein Skelett ist das einer Neunundzwanzigjährigen, die in den Achtzigern in Portland wegen Prostitution verhaftet worden war. Das andere das eines Fünfundzwanzigjährigen. Ebenfalls aus Portland und ebenfalls wegen Prostitution belangt. Derselbe Ort, dasselbe Jahrzehnt.

»Unser unbekannter Täter ist ein Perverser«, stellte Ray fest.

»Erzähl mir was, was ich noch nicht weiß.«

»Scheint, als wäre er an beiden Seiten interessiert.«

»Oder wir haben es mit mehreren Tätern zu tun«, konterte Mason.

»Ach verdammt. Musst du alles immer verkomplizieren?«

»Ich nenne das gründliche Ermittlungsarbeit. Und bei so vielen Kindern wäre es nur logisch, wenn mehrere Leute beteiligt gewesen wären.«

Ray seufzte. »Lass mich nur fünf Minuten mit einem von denen allein.«

»Amen, Bruder.«

»Gibt es schon was zu den Tätowierungen?« Ray kratzte sich am Kinn. »Das könnte uns weiterhelfen.«

Mason schüttelte den Kopf. »Mein Mann aus der Gang-Abteilung ist gleich darauf angesprungen, aber spontan fiel ihm nichts dazu ein. Er lässt die Symbole analysieren und geht dann die Archive für Gang-Mitglieder durch.«

»Meinst du, eines der Zeichen steht für Kinderschänder oder Perverser?«, brummte Ray.

Mason schnaubte. »Ich tippe eher auf Bettnässer.«

»Und ich darauf, dass eins sein Name ist.«

»Aber klar doch. Und den hält er in die Kamera.«

»Mist.« Rays Stimme klang schlagartig wieder ernst. Masons Kopf fuhr hoch. Ray fixierte seinen Monitor. »Der Jules-Thomas-Hinweis, den der Senator dir gegeben hat? Der Irre, der ihn bedroht hat?«

»Ja?«

»Der ist seit zehn Jahren tot.«

Mason dachte kurz nach. »Irgendwelche Tattoos? Wenn er tot ist, kommt er zwar für den Einbruch bei Jamie Jacobs nicht infrage. Aber der Typ von den Polaroids könnte er trotzdem sein. Wie gesagt: Vielleicht haben wir es mit mehr als einem Täter zu tun.«

Ray schüttelte den Kopf. »Ich schicke jemanden zu den Angehörigen und lasse nach Tätowierungen fragen. Hier steht nur der Todestag.«

Mason verschob Jules Thomas in die Unwahrscheinlich-aber-nicht-auszuschließen-Schublade in seinem Gehirn. »Von Cecilia Brodys koreanischem Patienten habe ich noch nichts gehört. Jeong.«

»O Mann! Was, wenn es sich bei den Symbolen auf den Handgelenken um koreanische Schriftzeichen handelt? Warum ist uns das nicht früher eingefallen?« Ray blätterte in einer Akte.

Mason blinzelte. Hatte ihm jemand das Hirn ausgestöpselt? Warum war ihm ein so naheliegender Gedanke nicht gekommen?

Ray zog die Polaroids aus dem Ordner und schob Mason die Hälfte davon hin. »Sonst noch irgendwelche Hinweise darauf, dass unser Mann Asiat sein könnte? Abgesehen von den Zeichen auf den Handgelenken? Heutzutage laufen so viele Leute mit solchen Tattoos herum, dass ich gar nicht auf die Idee gekommen bin, dass uns die Dinger seine Herkunft verraten könnten.«

Mason ging im Kopf noch einmal die anderen Beweisstücke aus dem Bunker durch. Haben wir etwas Wichtiges übersehen?

Die Fotos waren alt, die Farben verblichen, das Weiß vergilbt. Mason sah sie sich genau an, versuchte, sich nicht von den Qualen der Kinder auf den Bildern ablenken zu lassen. Dass sie tot waren, war fast eine Gnade. Wenigstens hatten sie nicht länger unter den Übergriffen dieses Ungeheuers leiden müssen.

Er dachte an Jamies Worte.

Die Albträume meines Bruders …

Chris Jacobs litt zweifellos immer noch unter dem, was der Killer ihm angetan hatte. Masons und Rays Versuche, Jacobs zu finden, waren erfolglos geblieben. Der Mann wusste, wie man unterhalb des Radars flog. Mason war ganz froh, dass Jamie sich nun mit ihrem Bruder in Verbindung setzten wollte. Vielleicht konnte sie ihn dazu bringen, ein paar Fragen zu beantworten. Und falls ihr das nicht gelang, gab es immer noch Brody. Der Reporter würde den Mann notfalls aufs Dach des Land Rovers schnallen und persönlich nach Portland karren, um Hinweise zum Tod seines Bruders zu erhalten. Ist Daniel Brody tot? Warum hatte seine Leiche nicht bei den anderen gelegen?

Sein Gefühl sagte Mason, dass der Junge nicht mehr lebte. Alle Umstände deuteten darauf hin.

Mason studierte zähneknirschend eines der Bilder. Das tätowierte Handgelenk und der Unterarm des Täters lagen über dem mageren Rücken eines Jungen. Das Gesicht des Jungen war nicht zu sehen, es war unklar, um wen es sich handelte. Sein Rücken war mit lilafarbenen, gelben und braunen Blutergüssen übersät. Kleine runde, rote und pinkfarbene Stellen wiesen auf Verbrennungen durch Zigaretten hin.

Mason starrte auf das Foto. Es löste irgendeinen Gedanken in ihm aus, doch er bekam ihn nicht zu fassen. Blutergüsse, Verbrennungen, Farben …

Er konzentrierte sich auf den tätowierten Arm. Den krassen Schwarz-Weiß-Kontrast. Selbst auf den verblichenen Fotos fiel er auf.

»Sag mal, Ray …« Mason suchte nach den richtigen Worten. »Haben wir noch mehr Bilder, auf denen der Arm des Täters auf dem Körper eines Kindes liegt?«

Ray zog eine Grimasse. »Ja. Ein paar.«

»Gib her.«

Ray reichte ihm einen kleinen Stapel. Mason sah ihn kurz durch und fühlte sich bestätigt. »Vergleich doch mal die Hautfarbe des Armes mit der Hautfarbe der Kinder. Das soll jetzt nicht rassistisch klingen, aber für mich sieht der Arm nicht sehr asiatisch aus. Allerdings auch nicht wie der Arm eines gewöhnlichen Weißen. Verdammt, der ist weißer als Schnee. Fast durchsichtig.«

Ray streckte die Hand nach den Bildern aus.

»Okay, ich sage es mal mit Dr. Peres’ Worten: Ich glaube nicht, dass das Arschloch asiatischer Herkunft ist.«

Ray ging die Fotos kurz durch. »So vergilbt die Bilder auch sind – wir haben es mit einem sehr, sehr weißen Stück Scheiße zu tun.«

Mason grinste. Ray ließ sich selten zu so derben Ausdrücken hinreißen. Wenn er es doch einmal tat, war es ein Ereignis.

»Meinte Jamie Jacobs nicht, der Kerl hätte seine Haare gefärbt und farbige Kontaktlinsen getragen …«

»… und trotz der Hitze lange Hosen und ein langes Shirt.« Mason ließ Ray nicht zu Ende sprechen. »Ich dachte, er würde darunter noch mehr Tätowierungen verstecken. Aber was, wenn er damit etwas noch viel Auffälligeres verdecken will? Wie zum Beispiel absolut kinderarschblasse, blütenweiße Haut?«

»Du meinst, er ist ein Albino?«, fragte Ray. »Gibt es so was noch?«

»Ich glaube schon. Dagegen kann man sich nicht impfen lassen. Man kommt einfach so zur Welt.«

»Ich weiß«, grunzte Ray. »Man sieht nur so selten welche. Mir fällt bloß der irre Albino-Priester aus dem Film mit Tom Hanks ein.«

Mason griff nach dem Telefon. »Ich frage mal Jamie Jacobs, ob sie glaubt, dass der Kerl, der auf sie losgegangen ist, ein Albino sein könnte.«

Mason hatte ein gutes Gefühl. Ein sehr gutes. Es sagte ihm, dass sie auf der richtigen Spur waren.