Kapitel 13
Dreißig Meilen von Demming entfernt wusch Gerald sich die Hände im überraschend sauberen Herrenklo einer Tankstelle. Der Mord war relativ sauber abgelaufen, aber dennoch hatte er das Bedürfnis, seine Hände immer wieder zu schrubben.
Nachdem er den alten Mann festgebunden hatte, war der Rest des Verhörs ein Kinderspiel gewesen. Brauchbare Informationen hatte er allerdings nicht erhalten. Der alte Mexikaner wusste nichts.
Plötzlich bekam Gerald eine Gänsehaut. Er stand noch immer unter Strom. Auf den gewaltigen Rausch während des Mordes folgten kleine Nachbeben, die sich fast anfühlten wie die manchmal auftretenden Zuckungen nach dem Sex.
Der Bäcker hatte behauptet, nicht zu wissen, wohin Chris unterwegs war, und darauf beharrt, dass Chris weder Freunde noch eine Familie hatte. Gerald hatte ihm ein Foto von Chris’ Schwester gezeigt, aber der Bäcker hatte nur den Kopf geschüttelt. Er hatte sie nie gesehen und nie von ihr gehört. Chris’ Frau sei tot, meinte er. Bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ihr Junge noch ganz klein gewesen war.
Die eigentliche Überraschung war das Kind gewesen.
Gerald hätte gerne gewusst, wie der Junge aussah. Glich er seinem Vater? Chris war bei seiner Entführung ein stämmiges Kind gewesen, bei seiner Flucht hingegen groß und spindeldürr. Gerald lachte laut auf. War Chris um die Sicherheit des Jungen besorgt? Es gab ja so viele kranke Freaks. Leute, die kleine Jungs missbrauchten und ihnen große Schmerzen zufügten. Kein Wunder, dass Chris wie ein Einsiedler lebte. Vermutlich dachte er Tag und Nacht nur an die Sicherheit seines Sohnes.
Wenn er den Kleinen bloß zwischen die Finger kriegen könnte. Dann würde es Chris leidtun, dass er ihm so viele Scherereien bereitete. Wo sind sie hin?
Dass Chris hin und wieder in Portland gewesen war, hatte der Mexikaner gewusst. Aber den Grund hatte er nicht gekannt.
Auch nach Mexiko war Chris ein paarmal gefahren. Gerald überlegte, ob das nun gut war oder schlecht. Falls Chris dorthin unterwegs war, hatte er sicher nicht die Absicht, noch einmal zurückzukommen. Schon gar nicht, wenn er hörte, dass sein Kumpel Juan tot war. Wahrscheinlich konnte er Chris einfach vergessen …
Aber der Boss würde sagen …
Scheiße. Ruhe hatte er erst, wenn Chris Jacobs tot war. Zwei Jahrzehnte lang hatte er sich nicht konsequent genug um die Angelegenheit gekümmert und sich auf Chris’ Gedächtnisverlust verlassen. Aber inzwischen traute er der Sache nicht mehr. Jacobs lebte wie jemand, der etwas zu verbergen hatte. Die Frage war: Hatte er genügend gute Gründe, um sich weiter zu verstecken?
Egal. Er musste etwas tun.
Es war Zeit, mit der Vergangenheit aufzuräumen, mit Chris Jacobs. Gerald war fest dazu entschlossen. Dass der Boss ihn wieder losgeschickt hatte, hatte seinen Blutdurst neu angefacht. Er hatte seine dunkle Seite lange im Zaum gehalten und nur in kleinen Dosen ausgelebt. Jetzt war es, als hätte er die Erlaubnis erhalten, ihr nachzugeben. Manchmal hatte er das Gefühl, zwei Leben zu leben. Ein öffentliches und ein geheimes. Diesmal wusste sein Boss genau, was er tat. Es war fast, als hätte er einen Zuschauer. Gott, was für ein großartiges Gefühl.
Das war sein erster echter Auftrag seit Jahren. Es tat gut zu wissen, dass er noch für etwas anderes gebraucht wurde als für die tägliche Routinearbeit. Seine besonderen Fähigkeiten hatten lange brachgelegen.
Er verließ die Toilette und ging in den kleinen Laden, um seine Benzinrechnung zu bezahlen. Der übergewichtige Kassierer war allein. Seine Augen hingen an dem Fernseher, der hoch über ihm in der Ecke hinter der Theke montiert war. Durch einen Strohhalm schlürfte er irgendein Getränk aus einem gigantischen Pappbecher. Nach einem kurzen Blick zu Gerald schaute er wieder auf den Bildschirm.
»Haben Sie alles?« Die Schneidezähne des Mannes hatten faulige schwarze Stellen.
Nuckelt wahrscheinlich den ganzen Tag süße Cola.
Gerald zog nickend das Geld aus der Tasche. Einen Moment lang betrachtete er den Ständer mit Twinkies und Ding Dongs – der Schokoladenkuchenvariante. Aber die Zähne des Kassierers ließen ihm die Lust darauf vergehen.
»Kaum zu glauben, aber der letzte Mord im Luna County ist schon fast zehn Jahre her«, sagte der Kassierer, während er ein paar Tasten an der Kasse drückte.
»Was?« Gerald sah zum Fernseher hinauf. In einer ihm gut bekannten Straße in Demming stand ein Fernsehreporter. Aber der Ton war leise gestellt. »Was ist passiert?«
»Jemand hat letzte Nacht den Bäcker von Demming umgebracht. Aber mehr wissen sie noch nicht.« Der Kassierer klatschte das Wechselgeld vor Gerald auf die Theke, ohne es ihm vorzuzählen.
Unhöflich, faul, schlampig.
Gerald spürte, wie Ärger in ihm aufkeimte und sich langsam ausbreitete.
»Die vertrottelten Bullen dort draußen sind mit einem Mord komplett überfordert.« Der Kassierer griff nach seinem Becher und saugte am Strohhalm. Er drehte Gerald den Rücken zu und konzentrierte sich wieder auf den Fernseher.
Gerald stellte sich vor, wie der Mann ohnmächtig hinter der Theke auf dem Boden lag, wie Blut aus seinem Ohr sickerte. Geralds Haut begann, angenehm zu prickeln.
»Schauen Sie sich diese Idioten an. Stehen einfach so … heilige Scheiße! Was für eine Schnitte!«
Gerald schaute genauer hin.
Zwischen den Cops stand Jamie Jacobs. Michael Brody hielt ihre Hand. Die Szene war von der anderen Straßenseite aus aufgenommen, aber Jamie stach ins Auge: lange Beine, langes schwarzes Haar, perfekter Hintern.
»Scheiße noch mal. So eine wie die hab ich hier noch nie gesehen. Da würde ich gern mal Hand anlegen.« Der Kassierer saugte lange und geräuschvoll an dem Strohhalm.
Gerald starrte den Mann an und schluckte die Galle hinunter, die bei der Vorstellung dieses menschlichen Schwamms mit jemandem wie Jamie im Arm in ihm aufstieg. Angewidert verzog er den Mund.
»Sieht aber aus, als wäre ihr Bedarf schon gedeckt.« Der Kassierer lachte dreckig. »Der Kerl hat Schwein.«
Gerald schaute auf den Bildschirm. Anscheinend hatte der Kameramann Gefallen an Jamie gefunden. Er setzte sie zusammen mit Brody ins Bild. Brody legte ihr den Arm um die Schultern. Selbst Gerald spürte, wie stark der Beschützerinstinkt sein musste, mit dem Brody über Jamie wachte.
Was dachte Brody über die Geschichte in der Bäckerei? Es hätte auch deine Freundin erwischen können …
Wussten die zwei, wohin Chris unterwegs war? Sicher nicht, sonst würden sie nicht in Demming herumstehen. Gerald schnitt eine Grimasse. Er musste herausfinden, was Chris vorhatte. Der Schwester zu folgen, hatte ganz gut funktioniert. Aber jetzt sah sie verwirrt und hilflos aus.
Schade, dass sie so wenig Zeit zusammen verbracht hatten. Sie hätten viel Spaß miteinander haben können. So wie er mit dem alten Mexikaner.
Vielleicht …
Vielleicht wusste die Schwester selbst nicht, dass sie einen Anhaltspunkt zu Chris’ Aufenthaltsort hatte. Vielleicht brauchte sie, um darauf zu kommen, nur die Art Motivation, die er dem Mexikaner hatte zuteilwerden lassen. Oder würde Michael Brody noch intensiver nach Chris suchen, wenn seine Freundin in Gefahr war?
Es gab zwei Männer, die sicher alles tun würden, um Jamie Jacobs zu beschützen. Daraus musste doch ein Vorteil zu schlagen sein. In Geralds Hinterkopf nahm eine Idee Gestalt an.
Was wäre, wenn …
Er war ganz weit draußen im Nirgendwo und sämtliche Polizeikräfte im Umkreis von ein paar Hundert Meilen drängten sich in einer kleinen Bäckerei. Dabei wussten sie nicht mal, wonach sie suchen sollten. Jamie und Brody waren ebenfalls in Demming.
Wie würde Chris reagieren, wenn die Polizei anstelle von Jamie nur ein paar Twinkies fand?
Würde ihn das aus seinem Versteck locken?
Gerald legte sein Kleingeld auf die Theke und noch ein paar Scheine dazu.
»Wie viele Twinkies kriege ich dafür?«