Kapitel 8
Die junge Frau, die im Polizeirevier vor Mason stand, hatte einiges abbekommen. Aber sie hielt den Kopf erhoben und drückte den Rücken durch. Jamie Jacobs war zäh. Das gefiel ihm. Und ganz offenbar bewunderte Brody sie auch. So hatte Mason ihn noch nie um eine Frau herumtänzeln sehen. Auch um Lacey Campbell, die kleine Zahnärztin, hatte er sich immer gekümmert. Aber eher wie ein großer Bruder.
Mason fing den Blick seines Partners auf. Ray Lusco nickte mit einem schiefen Lächeln. Sie waren einer Meinung. Anscheinend hatte der Reporter mit der Liebeskeule eins über die Rübe bekommen.
Die dicken Pflaster in Jamies Gesicht machten Mason zornig. Und er wusste, dass sich unter ihrer weiten Hose noch weitere Bandagen verbargen. Nervös wählte sie immer wieder eine Handynummer, unter der sich aber niemand meldete.
»Und die Nummer ist korrekt? Sind Sie ganz sicher?«, fragte Brody.
»Ja. Ich habe sie in meinen Kontakten und in der Anrufliste. Ich weiß, dass sie richtig ist. Aber anscheinend wird sie nicht mehr benutzt.«
»Ist er je zuvor verschwunden, ohne dass Sie wussten, wie Sie ihn erreichen können?«
»Noch nie. Eine Telefonnummer hatte ich immer. Okay, er ruft nicht jedes Mal sofort zurück. Aber so was hat er noch nie gemacht.«
Mason schaltete sich ein. »Sie reden von Ihrem Bruder?«
Augen in ungewöhnlich hellem Grün schauten ihn unverwandt an.
Heiliger Bimbam. Kein Wunder, dass Brody so aus dem Häuschen ist.
»Ja. Und ich weiß nicht, wo er ist. Bisher hat er mir immer eine Nummer gegeben, unter der ich ihn erreichen konnte. Vielleicht ist jemand bei ihm aufgetaucht … so wie der Kerl heute bei mir.«
Brody nahm ihre Hände und wartete, bis sie ihn ansah. »Sie haben mir doch gesagt, wie schlau Ihr Bruder ist, Jamie. Sicher hat er sich gedacht, dass irgendwann jemand aus seiner Vergangenheit nach ihm suchen wird. Ich glaube, deshalb hat er sich abgesetzt, ohne Sie zu informieren. Bestimmt hat er ein sicheres Versteck.«
Mason zog über Brodys sanften, beruhigenden Ton innerlich die Augenbrauen hoch. Eindeutig. Der Mann steckt drin bis zum Hals.
Jamie starrte Brody ein paar Sekunden lang an, dann nickte sie. »Warnen müssen wir ihn trotzdem. Er muss erfahren, was heute passiert ist.«
Mason räusperte sich. »Darüber sollten wir uns jetzt unterhalten.« Er deutete auf zwei Stühle. »Setzen Sie sich.«
Behutsam, aber akribisch ging Ray die Vorfälle mit Jamie durch. Erstaunlicherweise hielt Brody den Mund. Er beobachtete nur alle Anwesenden mit Adleraugen.
Mason unterbrach die Befragung nur einmal mit einer Frage an Brody. »Sie haben den Anruf von Ms Jacobs bei ihrem Bruder nachverfolgt?«
»Ja.«
»Wie?«
Brody schaute Mason schweigend an.
»Okay. In Ordnung. Ich nehme mal an, Sie haben immer noch vor, auf große Fahrt zu gehen und Chris Jacobs zu suchen.«
Wieder sah Brody Mason nur an. »Beschreiben Sie mir die Tattoos auf den Polaroids«, sagte er dann.
Mason fiel auf, dass Brody nicht fragte, was sonst auf den Bildern war. Er wollte nur etwas über die Tätowierungen erfahren.
Der Detective schob Jamies Skizze der Hände und Handgelenke in die Mitte des Tischs. »So viele Farben und Muster wie auf der Zeichnung gibt es auf den Fotos nicht. Vermutlich hat er im Lauf der Jahre weiter an den Tattoos arbeiten lassen.« Mason legte vier grobkörnige Detailaufnahmen von den Handgelenken auf den Tisch, die von den Polaroids abfotografiert worden waren. Die Qualität der Bilder war nicht überragend, aber die schwarzen Symbole hatten dieselbe Größe und Position wie auf Jamies Skizze.
Jamie starrte die Fotos an. »Das sind sie. Sie wurden bloß erweitert und es kam Farbe dazu. Aber es muss dieselbe Person sein.«
Mason schüttelte den Kopf und Ray sagte: »Nicht unbedingt. Wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass zwei Leute mit denselben schwarzen Schriftzeichen herumlaufen. Vielleicht besteht eine Verbindung zwischen ihnen. Vielleicht sind sie Mitglieder im einem Geheimclub von Perversen.«
Brody schnaubte.
Mason war ganz Brodys Meinung, wollte aber keine voreiligen Schlüsse ziehen. »Okay, es ist unwahrscheinlich, dass wir es mit zwei Personen zu tun haben. Aber wir schließen es nicht aus. Noch nicht. Ich gebe die Polaroids und die Zeichnung an einen Detective weiter, der viel mit den Gangs in der Gegend zu tun hat. Mit Tätowierungen kennt sich keiner besser aus als er. Falls er die Dinger erkennt, weiß er auch, mit wem wir es zu tun haben.«
»Das hier ist keine Ganggeschichte«, sagte Brody. »Wir reden von einem weißen Typen mit Tattoos, die älter sind als zwanzig Jahre. Es könnte sich um militärische Symbole handeln oder um irgendwas aus Fernost.«
Mason nickte. »Durchaus denkbar. Ich glaube auch nicht, dass der Kerl ein Gangmitglied ist. Aber unsere Gangspezialisten sind gleichzeitig Tattoo-Experten. Die können uns vielleicht einen Tipp geben, wo wir suchen müssen. Vielleicht kommen wir auf die Art voran.«
»Warum lässt jemand belastende Fotos herumliegen?«, fragte Jamie. »Sie haben gesagt, Sie hätten keine Fingerabdrücke gefunden. Aber Sie haben die Polaroids. Das klingt nicht nach ein und derselben Person. Dieser …« Jamies Augenbrauen zogen sich zusammen. »Dieser Verbrecher … Mörder … vermeidet Fingerabdrücke und nimmt die Polaroids nicht mit? Das passt doch nicht zusammen.«
»Das ist richtig«, sagte Lusco. »Das würde wieder auf mehrere Beteiligte hindeuten.«
»Jemand muss fotografiert haben«, fügte Brody hinzu.
»Vielleicht eins der anderen Kinder.« Mason sah, wie Brody zusammenzuckte. »Natürlich nicht freiwillig.«
Jamies Gesicht lief rot an. »In meinem Job habe ich leider gelegentlich mit Kindesmissbrauch zu tun. Ich habe mich für den Beruf entschieden, weil ich Kinder in ein besseres Leben begleiten möchte. Nichts widert mich mehr an, als Verbrechen an den Hilflosesten unter uns.« Sie suchte Masons Blick. »Mein Bruder ist furchtbar missbraucht und misshandelt worden. Ich habe ihn nie mit Fragen bedrängt, weil ich ihm Zeit geben wollte, darüber hinwegzukommen. Ich habe es genauso gemacht wie meine Eltern. Aber inzwischen bin ich der Meinung, dass er uns helfen muss. Der Mann, der mich so zugerichtet hat, könnte sich noch andere Kinder schnappen. Mein Bruder sagt, er erinnert sich an nichts. Aber ich werde ihn so lange zu Therapeuten und Hypnosespezialisten schleppen, bis er uns einen Hinweis geben kann, der hilft, den Kerl zu kriegen – bevor noch mehr Kinder leiden oder sterben müssen.«
Sie wandte sich an Brody. »Ich fahre mit. Wir suchen gemeinsam nach Chris.«
Gegen Abend erreichten Jamie und Michael die Außenbezirke der staubigen, wie in Beige getauchten Stadt Demming. Brody hatte während der gesamten siebenstündigen Fahrt in den Osten Oregons am Steuer gesessen. Jamies Angebot, ihn abzulösen, hatte er abgelehnt.
»Als Beifahrer werde ich nur kribbelig. Beim Fahren kann ich klarer denken.«
Gesprochen hatten sie nicht viel. Wenn Michael nicht gerade mit seinem Redakteur oder einem Kollegen telefonierte, dröhnte seine Musik durch den SUV. Er hörte wahllos alles durcheinander, von hartem Rap bis zu den herzerwärmendsten klassischen Stücken, die Jamie je gehört hatte. Sie hatte sich zurückgelehnt und die Zeit damit verbracht, sein Profil und die Welt draußen zu betrachten.
Je weiter sie nach Osten fuhren, desto trockener, verbrannter und flacher wurde die Landschaft. Als sie Portland und die Kaskaden hinter sich gelassen hatten, war es fast, als befänden sie sich in einem anderen Staat: mehr Pick-up-Trucks, längere Distanzen zwischen den Städten, weniger Grün.
Tannen gab es nur noch hier und da, dafür stieg die Zahl der Cowboyhüte sprunghaft an. In den Heckfenstern der Pick-ups hingen Gewehre und die Autoaufkleber sagten deutlich, dass Reformen oder gar schärfere Waffengesetze hier nicht willkommen waren.
Sie befanden sich jetzt auf der republikanischen Seite eines Staates, in dem mehrheitlich die Demokraten gewählt wurden. Flächenmäßig war der Osten Oregons fast doppelt so groß wie der Westen, hatte aber deutlich weniger Einwohner und ein viel niedrigeres Durchschnittseinkommen. Die Kaskadenkette bildeten eine Trennlinie – wirtschaftlich und politisch.
Jamie hatte plötzlich Lust auf einen frisch gebrühten, geeisten Cappuccino, wusste aber, dass sie hier keinen kriegen würde. Automatenkaffee an einer Tankstelle war keine echte Alternative.
»Der Sheriff erwartet uns, oder?«, fragte sie.
»Ja. Aber ich konnte ihm nicht genau sagen, wann wir kommen. Wir fahren zu seinem Büro in Demming und schauen, ob er Zeit für uns hat. Er will uns eine Wegbeschreibung geben, damit wir Ihren Bruder überhaupt finden. Er meinte, wir sollen niemanden erschrecken und nirgends herumschleichen. Angeblich schießen die Leute hier, bevor sie fragen.«
»Das würde Chris nie tun.«
Michael hob eine Augenbraue. »Chris glaubt, sich verstecken zu müssen. Er verheimlicht Ihnen seinen Sohn.«
Jamie starrte aus dem Fenster. Die Worte schnitten ihr ins Herz. »Er mag Menschen nicht besonders. Nach seinem Krankenhausaufenthalt … hat er alle gemieden. Er hat Brandnarben im Gesicht.«
»Ich kenne viele Leute, die mit ihren Entstellungen ganz gut klarkommen.«
Nach längerem Schweigen sagte Jamie: »Was haben Sie an dem Tag gemacht?«
Michael fragte nicht, welchen Tag sie meinte.
Sie sah ihn schlucken, dann rieb er sich die Stirn. Er schaute starr auf die Straße.
»Ich habe blaugemacht und bin nicht zur Schule gegangen. Ich hatte keine Lust auf einen Ausflug zum Regierungssitz. Mir war das einfach zu langweilig.« Er schnaubte. »Daniel konnte es kaum erwarten. Für ihn war Politik das Größte.«
»Ihr Vater war damals schon Senator, oder?«
»Ja. Seine zweite Amtszeit hatte gerade begonnen.«
»Hat Ihr Vater sich über Daniels Interesse gefreut?«
»Und wie. Er hatte schon Daniels Politkarriere geplant.«
»Unfassbar. Wie kann man ein Kind so unter Druck setzen?«
Michael lachte. »Der Senator und Daniel haben sich oft stundenlang darüber unterhalten, wo er Jura studieren sollte, an welcher Uni er am besten …«
»Und Sie? Welche Pläne hatten Sie?«
»Keine«, sagte er knapp.
Seine Antwort gab Jamie einen Stich. Sie hatte oft erlebt, dass Eltern ein Kind kaum beachteten und ein anderes bevorzugten. »Aber das heißt nicht, dass Ihr Vater Sie nicht geliebt hat.«
Michael verzog den Mund. »Ich weiß, dass meine Eltern mich lieb hatten. Ich hatte nur immer das Gefühl, dass sie mich nicht besonders mochten. Ich entsprach nicht ihren Vorstellungen. Die Schule hat mich nicht interessiert. Ich wollte mit dem Skateboard rumbrettern und Ski fahren. Wenn die Kids von der Highschool den Unterricht schwänzten, um Ski fahren zu gehen, habe ich ihnen manchmal Geld gegeben, damit sie mich mitnehmen. Natürlich bin ich immer wieder erwischt worden, aber das war mir egal.«
»Wie haben Ihre Eltern denn erfahren, dass Sie Ski fahren waren?«
»Wissen Sie, was Waschbäraugen sind?«
Jamie lachte. »Sind Sie etwa ohne Sonnencreme auf die Piste gegangen?«
»Immer. Sonnencreme war was für Weicheier.«
Versuchte er, mit der Anekdote ihrer eigentlichen Frage auszuweichen? »Dann waren Sie an dem Tag also nicht wirklich krank.«
Er schüttelte den Kopf. »Mir ging’s blendend.«
»Wann haben Sie davon erfahren?«
»Irgendwann klingelte das Telefon. Daniel war nicht von der Schule nach Hause gekommen. Der Bus war nicht zur Schule zurückgekehrt, die Fahrerin nicht auffindbar. Der Senator flog sofort von Washington DC nach Hause. Meine Mutter ging drei Tage lang nicht ins Krankenhaus. So panisch hatte ich die beiden noch nie erlebt.«
»Das ist nur natürlich. Ihr Sohn war verschwunden. Wenn Sie nicht vom Skifahren zurückgekommen wären, wäre es genauso gewesen.«
Der schiefe Blick, den Michael ihr zuwarf, sagte ihr, dass er an ihren Worten zweifelte.
Sie setzte sich aufrechter hin. »Sie meinen, wenn Sie verschwunden wären, wären die beiden einfach zur Tagesordnung übergegangen? Ich bitte Sie. Das würde kein Vater und keine Mutter schaffen.«
Michael versuchte, gelassen zu wirken. Aber Jamies Fragen rissen alte Wunden auf. Seit Daniels Verschwinden – für ihn kurz DV – waren seine Eltern nie wieder dieselben gewesen.
Irgendwann hatte Michael sein Leben in die Zeit vor und nach DV eingeteilt. Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass seine Eltern einen besseren Draht zu Daniel hatten als zu ihm. So, als könnten sie die klaren Strukturen in Daniels Gehirn besser verstehen als die wilden Impulse, die durch seinen Schädel jagten.
Jedes Kind stellt sich irgendwann vor, wie es wäre, ein Einzelkind zu sein. Michael hatte häufig dem Tagtraum nachgehangen, seine Eltern hätten nur ihn und würden ihm ihre ganze Aufmerksamkeit schenken. Später, als Erwachsener, hatte er seinem Schöpfer gedankt, dass das nicht der Fall gewesen war. Seine Eltern und er hätten einander in den Wahnsinn getrieben. Rückblickend war er dankbar, dass es zwischen ihnen und Daniel so gut funktioniert hatte und dass sie sich auf ihn konzentriert hatten. Selbst nach DV hatte sich das nie geändert. Alles hatte sich nach wie vor um Daniel gedreht. Und Michael war flügge geworden, hatte die Flügel ausgebreitet und sich in die Lüfte erhoben. Häufig hatte er dabei Kopf und Kragen riskiert.
Klettern in den Bergen? Aber klar doch. In Spanien bei der Stierhatz mitrennen? Kleinigkeit. Ein Job auf einem Krabbenkutter in der Beringsee? Her damit. Sich in Los Angeles in eine Gang einschleichen, um ein Verbrechen aufzuklären? Unbedingt. Die letzte Aktion hatte ihn beinahe das Leben gekostet. An seinem Bauch trug er die Narben von Messerstichen, und den rauen Tequila, den die Jungs fässerweise gekippt hatten, verabscheute er noch immer. Margaritas konnten ihm gestohlen bleiben.
»Ich wusste, dass ich meinen Eltern wichtig war«, sagte er. Der Satz hörte sich einstudiert an, hohl und bedeutungslos. Ein Teil von ihm glaubte tatsächlich, dass er ihnen nicht egal gewesen war. Aber aus irgendeinem Grund hatten sie ihm das nicht zeigen können. Ein Therapeut hatte einmal die Vermutung geäußert, dass sie sich vor dem Verlust eines weiteren Kindes fürchteten und deshalb auf Distanz blieben. Sie wollten sich schützen, falls Michael etwas passierte. Vielleicht suchte er deshalb das Risiko: um eine Reaktion aus seinen Eltern herauszukitzeln.
Michael hatte den Therapeuten angestarrt und dreihundert Dollar auf den Tisch geknallt. Dann war er gegangen und nie mehr wieder gekommen. Warum sollte er für etwas bezahlen, was er bereits wusste? Er wollte jemanden, der die Sache in Ordnung brachte. Der sie in Ordnung brachte. Ihn. Der ihm die Familie gab, die er nie gehabt hatte. Eine Familie, wie man sie aus Büchern und Filmen kannte. Irgendwo existierte sie. Er musste sie nur finden.
Lacey Campbell war für ihn eine Art Familienersatz geworden. Sie war die kleine Schwester, die ihn bemutterte, wenn es nötig war. Sie schickte ihn zum Friseur und packte frische Sachen in seinen Kühlschrank, wenn der wieder mal nur voller Bier und Pizzapackungen jenseits des Verfallsdatums war. Ihr gemeinsames romantisches Abenteuer war gescheitert. Auf ganzer Linie. Nur Freunde zu sein, funktionierte besser. Lange hatte er so getan, als würde ihm das genügen. In Wahrheit hatte er sich zur Verfügung gehalten und auf seine zweite Chance gewartet. Doch dieser Traum war zerschellt, als ihr jetziger Verlobter auf der Bildfläche erschienen war. Anfangs hatte Michael den Mann umbringen wollen. Inzwischen akzeptierte er die Tatsachen.
Michael hielt vor einem quadratischen Backsteinbau im Zentrum der kleinen Stadt. Ein Schild sagte ihm, dass hier der Sheriff sein Büro hatte. In der verschlafenen Innenstadt gab es eine Hauptstraße mit kleinen Geschäften, aber kaum Betrieb. Leere Schaufensterfronten zeugten von der Rezession der letzten Jahre. Er stellte den Motor ab und öffnete das Fenster. Es war nicht ganz so heiß, wie er es mitten im Sommer in einer Stadt in diesem trockenen Gebiet erwartet hatte. Vielleicht lag das an der Höhe. Auch Jamie öffnete ihr Fenster.
»Die meisten Eltern lieben ihre Kinder«, sagte sie. »Aber manche kriegen es einfach nicht fertig, das auch zu zeigen. Ich habe Eltern erlebt, die ihrem Kind nie in die Augen schauen, aber drohen, ihm den Hintern zu versohlen, wenn die Noten nicht stimmen.« Sie schüttelte den Kopf.
Michael schnaubte. »Ich weiß, dass ich meinen Eltern wichtig war«, wiederholte er. Wenn er es oft genug laut aussprach, würde er es vielleicht irgendwann tatsächlich so empfinden. Er rutschte auf dem Sitz herum. Er wollte nicht aussteigen, wollte das Gefühl von Vertrautheit zwischen Jamie und ihm nicht abreißen lassen. Jamie rührte sich ebenfalls nicht. Sie las das Sheriffschild und lächelte.
»Luna County. Klingt gut. Luna ist ein viel schöneres Wort als Mond. Ich frage mich, ob der Mond hier draußen größer aussieht. Ich habe mal in diesem Teil Oregons gezeltet. Der Himmel wirkte so gewaltig, die Sterne schienen heller zu strahlen und der Mond war zum Greifen nah.«
Michael betrachtete ihr Profil. Er nutzte jede Chance, sie anzuschauen, ohne dass sie es merkte. Diese Frau war umwerfend schön. Schön im Sinne von frisch, fit und natürlich, nicht als Ergebnis von Make-up und Haarpflegeprodukten. Sie kleidete sich schlicht in Shorts und T-Shirts, schminkte sich nur dezent und verkünstelte sich nicht mit aufwendigen Frisuren. Ihre schimmernde Haut und ihre trainierten Muskeln waren Hingucker genug. Und dann die Augen … Diese Farbe und dazu die dunklen Wimpern. Er hätte sie ununterbrochen anstarren können. Ihr Äußeres hatte er sich bereits eingeprägt. Jetzt wollte er wissen, wie es in ihrem Inneren aussah. Sie waren beide auf dieselbe Privatschule gegangen, aber aus dieser Zeit erinnerte er sich nicht an sie. Sie war ein paar Klassen unter ihm gewesen, zu jung für den Ausflug zum Regierungssitz. Nachdem die Kinder verschwunden waren, hatten Jamies Eltern sie von der Schule genommen und zu Hause unterrichtet.
»Wie haben Ihre Eltern damals auf die Nachricht reagiert?«, fragte er.
Sie starrte auf ihre Hände und spielte mit dem Saum ihrer Shorts. »Sie standen unter Schock. Jemand von der Schule rief an und sagte meiner Mutter, man würde nach dem Bus suchen. Sie hat für den Rest des Tages neben dem Telefon gesessen und in die Ferne gestarrt. Ich weiß noch, dass ich mir Trickfilme angesehen und mich gefreut habe, dass es ihr egal war, wie lange ich vor dem Fernseher hockte. Normalerweise gab es ein strenges Zeitlimit. An diesem Tag nicht. Sie hat meinen Vater angerufen, aber er konnte nicht von der Arbeit weg. Als er nach Hause kam, machte er es genau wie sie. Sie saßen einfach wartend am Tisch. Die Einzige, die an diesem Abend etwas gegessen hat, war ich. Sie saßen da und schauten mir zu. Ich fand das seltsam, aber ich nahm an, dass mein Bruder bald heimkommen würde. Ich habe gedacht, der Bus hätte sich bloß verfahren.« Jamie wandte sich ab, schaute aus dem Fenster auf ihrer Seite und sagte dann leise: »Es war, als wüssten sie, dass er nicht wiederkommen würde. Wenn ich daran zurückdenke, könnte ich schwören, dass sie keinerlei Hoffnung hatten.«
»Und an dem Tag, als Chris zurückgekommen ist?« Einen Moment lang war Michael eifersüchtig auf den einzigen Überlebenden und seine Familie. Das Gefühl verflüchtigte sich sofort, als Jamie sich zu ihm drehte und ihn ansah.
»Sie konnten es nicht glauben. Das trauten sie sich erst, als sie ihn im Krankenhaus mit eigenen Augen sahen. Sie hatten so gar keine Hoffnung gehabt. Die beiden Jahre waren so dunkel gewesen. Wenn ich mir die Weihnachtsfotos von damals anschaue, sehe ich den Schmerz in ihren Augen, obwohl ihre Lippen für die Kamera lächeln. Meine Mutter hat bis zu Chris’ Entlassung bei ihm im Krankenhaus gesessen. Sie hat es nicht geschafft, von seiner Seite zu weichen.«
»War er nicht volle drei Monate lang in der Klinik?«
Jamie nickte. »Mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Einige Wochen lang lag er im Koma. Ich glaube, es war ein künstlich herbeigeführtes, damit seine Hirnverletzungen heilen konnten. Er wurde fünfmal am Gesicht operiert und noch öfter am rechten Bein.
Ich habe darauf gewartet, dass alles wieder normal werden würde. Aber es kamen immer neue Behandlungen hinzu. Zu Hause wurde es nie wieder so wie früher. Ich dachte, die Freude würde zurückkommen. Aber ich habe meine Mutter nachts weinen gehört und gesehen, wie mein Vater ein Glas nach dem anderen geleert hat.
Die Weihnachtsfotos änderten sich auch danach nicht gravierend. In den Augen meiner Eltern lagen immer noch Schatten und Chris wollte nie in die Kamera schauen. Seine linke Gesichtshälfte sah so schlimm aus, dass er sich immer wegdrehte. Er hasste sein Äußeres. Irgendwann haben meine Eltern einfach aufgehört, ihn zu fotografieren. Sie schämten sich nicht für ihn, sie wollten ihn nur zu nichts zwingen.« Jamie legte die Stirn in Falten. »Inzwischen glaube ich, dass es ein Fehler war, immer auf all seine Wünsche einzugehen. Er lebte in einem Schneckenhaus. Die Welt sollte nicht wissen, dass es ihn überhaupt gab. Wenn in längeren Abständen Reporter auftauchten, verschanzte er sich anschließend immer tagelang in seinem Zimmer. Ich glaube, als er auszog, waren meine Eltern fast erleichtert.«
»Hört sich schlimm an.«
»Ja.« Sie nickte nachdenklich. »Aber für sie war die Belastung enorm. Chris’ Verschwinden war eine Katastrophe. Aber mit der leeren Hülle des Kindes zu leben, das zurückgekehrt war, war unsäglich hart. Die Therapien haben nicht viel bewirkt. Chris war am liebsten allein und beschäftigte sich mit seinem Computer. Für Eltern ist es schwer zu ertragen, wenn das Kind wie hinter Panzerglas lebt. Wenn man helfen will, aber nicht durchdringt.«
Eine Weile schwiegen sie. Es war kein peinliches, angespanntes Schweigen. Es war ein gemeinsames Schweigen, das verband. Als Michael Jamies Hand drückte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Dann sah sie ihn an.
»Es tut mir leid«, sagte er.
»Es gibt nichts, was Ihnen leidtun müsste.«
»O doch. Ich habe Ihre Familie jahrelang gehasst. Ihren Bruder, Ihre Eltern und Sie. Weil Sie Ihren Bruder zurückbekommen haben und ich bekam nichts.«
Jamie wurde blass.
»Ich habe damals die Welt nicht mehr verstanden«, fügte er schnell hinzu. »Ich war ein Kind und der Hass war mein Ventil. Unbekannte zu hassen, war leicht und ich wollte einfach nur meinen Bruder zurück. Das will ich immer noch. Ein Seelenklempner würde meine Reaktion vermutlich für völlig normal halten.«
Langsam bekam sie wieder etwas Farbe. »Ich verstehe. Wahrscheinlich wäre es mir genauso gegangen.«
Als er erneut ihre Hand drückte, erwiderte sie den Druck. Wärme durchrieselte ihre Brust und sie lächelte. Es war ein echtes Lächeln. Kein falsches Ich-glaube-dir-kein-Wort-Lächeln.
»Gott, sind Sie schön«, platzte er heraus.
Ihre Augen funkelten ihn schelmisch an, sie lachte auf und sein Herz fing an zu stolpern. Sie hatte ihm von Anfang an gefallen. Aber jetzt …
Jamie zog die Hand aus seiner und berührte seine Wange. »Sie sehen auch ganz passabel aus, Brody.« Ihr Blick glitt von seinen Augen zu seinem Mund. Ihm wurde heiß.
»O Mann.« Er bekam kaum Luft.
Sie lachte noch einmal und strich mit dem Finger über seine Oberlippe. »Sollen wir den Sheriff suchen?«
Michael blinzelte. Er hatte völlig vergessen, warum sie hier waren. Wie konnte diese Frau so schnell umschalten? »Ähm … sicher.« Er klang alles andere als das.
Jamie öffnete den Sicherheitsgurt und dann die Tür. Sie schwang die schlanken Beine aus dem Wagen. Michael biss sich auf die Wange. Sie warf die Tür zu und schaute ihn durch das offene Fenster an. Er hatte sich noch nicht gerührt.
»Kommen Sie mit?«
Er fühlte sich wie am Sitz festgeklebt und daran war nicht die Hitze schuld. Etwas in ihrem Gespräch und wie sie sein Gesicht berührt hatte, brachte ihn völlig durcheinander. Sein Herz war gerade an einen neuen Ort gerutscht und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Er schluckte, hatte ein Gefühl, als würde er gleich aus einem Flugzeug springen. Ohne Fallschirm. Benommen streckte er die Hand nach dem Türgriff aus.
»Immer.«