Epilog

Rot und gelb gefärbte Blätter hingen an den wankenden Bäumen vor den Fenstern der S-Bahn. Alex konnte nachts inzwischen ebenso gut sehen wie am Tag, und die Oktoberkälte machte ihm nichts aus. Obwohl er zitterte, fror er nicht, die dünne Jacke trug er nur, um nicht aufzufallen, der Kapuzensweater wärmte ihn ausreichend. Auch den Durst nach Blut hatte er im Griff, doch er sehnte sich nach Danielle, nach dem Sex mit ihr, sein Körper verlangte nach ihren Lippen, nach ihrem Geruch. Er zitterte, weil er ihre Berührungen vermisste.

Seit sie ihn Anfang September endgültig verlassen hatte, streifte er jede Nacht ruhelos durch die Stadt. Er schleppte Mädchen mit rosa Lippen und golden glitzernden Ohrringen ab und ließ sie am nächsten Morgen fallen wie ein Nephilim. Spätestens am Abend war das Zittern wieder da. Lisa anzurufen, hatte er nicht gewagt, nie war er über die ersten drei Ziffern ihrer Nummer hinausgekommen.

Und jetzt stieg sie in der Hermannstraße zu. Die roten, vom Wind zerzausten Haare fielen ihr offen auf den breiten Kragen des kurzen schwarzen Mantels. Ihr dickes Halstuch leuchtete grün und blau, die Farben verliefen ineinander wie Kleckse, die Stiefel waren weiß. Sie atmete heftig, als wäre sie zur Bahn gerannt, die dunkelroten Lippen umspielte ein Lächeln.

Alex spürte sein Herz schlagen, er krümmte sich vor Aufregung.

An der Hand hielt Lisa einen dunkelhaarigen Mann mit weichem, rundem Gesicht, den sie hinter sich herzog. Sie bugsierte ihn auf einen Sitz schräg gegenüber von Alex und setzte sich daneben. Er war einen Kopf größer als sie, glatt rasiert und nickte zu allem, was sie sagte. Sein Schal bestand aus matten Blau-, Braun- und Grüntönen und war kariert. Er himmelte Lisa an.

Alex sah sie unverwandt an. Sie wirkte stärker als damals auf der Brücke, doch ihre Augen leuchteten nicht, während sie mit ihrem Begleiter sprach. Alex’ Herz schlug immer noch schnell. Er wusste nicht, ob er hinübergehen sollte.

Ihr Blick wanderte durch die Bahn und erfasste irgendwann ihn. Sie erstarrte.

Alex versuchte ein Lächeln, in dem sich zugleich tiefes Bedauern und eine Entschuldigung sowie Freude, sie zu sehen, spiegelte. Vermutlich wirkte es wie eine grenzdebile Grimasse.

In Lisas Mundwinkel zuckte es, und in ihren Augen brannte weniger Abneigung, als er erwartet hatte. Langsam erhob er sich und ging hinüber. Sie blickte ihn weiterhin an und löste ihre Hand aus der ihres Begleiters.

»Hi Lisa«, sagte er und hielt sich an der hellgrauen Stange vor ihrem Sitz fest. Sein Mund war trocken. Er wollte sie so vieles fragen, ihr so vieles sagen, doch nicht vor diesem Typen. Er brachte nicht mehr heraus als: »Wie geht’s?«

»Gut. Und dir?«

»Auch.« Er nickte. Alles, was er wissen wollte, konnte er nicht einfach so fragen. Der Typ war sicherlich ihr Freund, doch was hatte sie ihm erzählt? Also versuchte er es unverfänglich: »Wohnst du noch mit Sandy zusammen?«

»Ja. Sie hat sich verändert. Ist viel entspannter.«

»Schön.«

»Und du? Bist du noch mit deiner Freundin zusammen?«

»Nein. Ich bin wieder frei«, sagte Alex so nachdrücklich er konnte und fügte an: »Mit ihr war ich streckenweise nicht ich selbst. Ich hab großen Mist gebaut, den ich noch immer bereue. Furchtbar bereue.«

Etwas veränderte sich in Lisas Blick, er wurde offener, freundlicher, hoffnungsvoller, hungriger. Nur ein Hauch von Misstrauen blieb. Noch immer stellte sie ihren Begleiter nicht vor, und der saß stumm und ergeben daneben. In lockerem Plauderton sagte sie: »Jeder baut mal Mist. Hauptsache, man wiederholt ihn nicht immer wieder und schafft ihn aus der Welt.«

»Das werde ich, so gut es geht. Hab ich mir geschworen, aber bislang war ich zu feige. Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät.«

Auf Lisas Gesicht zeigte sich keine Reaktion. Kein Lächeln, nicht das geringste Zucken. Ihre Augen bohrten sich forschend in seine. »Das weiß man nie. Aber ich glaube, du solltest dich trauen.«

»Danke. Werde ich.«

»Nichts zu danken.« Sie stand auf, kam ihm ganz nahe, berührte ihn aber nicht. Sie trug ein anderes Parfüm als im Mai, schwerer. »Wir müssen hier raus.«

»Nächster Halt Ostkreuz«, schepperte es aus den Lautsprechern. Lisas Begleiter erhob sie ebenfalls. Weder lächelte er, noch starrte er Alex misstrauisch an. Er folgte Lisa wie ein gut abgerichteter Hund.

Alex sah ihnen nach, als sie die Bahn verließen und die Treppe zur Hauptlinie hinabstiegen. Lisa drehte sich nicht um, doch sie hielt auch nicht mehr die Hand dieses langweiligen Typen.

Als sich die Türen schlossen, zitterte Alex nicht mehr.