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Berlin, Mai 2009

»Und? Hast du ein nettes Mädchen kennengelernt?«, fragte seine Mutter wie immer, und wie immer schaffte sie es, zugleich drängend, hoffnungsvoll und tadelnd zu klingen. Alex bedauerte, vor drei Minuten ans Telefon gegangen zu sein, noch vor dem Frühstück, vor der ersten Tasse Kaffee und mit schwerem Kopf vom Alkohol des Vorabends.

»Viele«, antwortete er und starrte auf den wackligen Stapel diverser Musikzeitschriften auf dem schwarz lackierten Wohnzimmertisch, die leere Bierflasche mit dem abgerissenen Etikett und den Brief der Gaswerke, den er gestern nicht mehr geöffnet hatte. »Aber eigentlich möchte ich ja eine Frau kennenlernen.«

»Ach, du.« Sie lachte. »Du weißt doch, was ich meine.«

Ja, das wusste er. Er war mit Anfang dreißig noch immer ihr Sohn, und deshalb fragte sie nach Mädchen und nicht nach Frauen.

Sie fragte, ob er jemanden kennengelernt hatte, und dachte dabei bereits ans Heiraten und Enkelkinder. Könnte sie seine Wohnung sehen, würde sie noch beharrlicher fragen und feststellen, er bräuchte endlich wieder jemanden, der Ordnung in sein Leben brächte. Als wäre Ordnung das Wichtigste, und als hätte jede Frau einen Putzfimmel und wäre fürs Saubermachen und Kochen bestimmt.

»Du bist doch ein netter und gut aussehender Junge«, fuhr sie fort. Sie sagte selbstverständlich auch Junge und nicht Mann. »Warum findest du niemanden?«

»Das kann ich dir auch nicht sagen. Das wüsste ich selbst gern.«

»Vielleicht, wenn du dir mal neue Kleidung kaufst?«

»Ach, Mama.«

»Sag nicht Ach, Mama! Ich weiß doch, wie du immer rumläufst!«

»Du siehst mich einmal im Jahr«, gab er zu bedenken, aber das Argument hatte schon die letzten drei Jahre nichts genutzt. Seit Veronika ihn für einen joggenden Banker verlassen hatte.

»Und wenn du dir dann noch einen festen Job suchst...«

»Ich arbeite aber gern so.«

»Mir musst du nichts vormachen, ich bin deine Mutter, und ich sehe doch, wie wenige Sicherheiten du hast. Ich weiß ja, dass es nicht leicht ist, und schon gar nicht zurzeit und in Berlin, aber du bist doch ein kluger Junge. Du kannst doch eine Festanstellung ...«

»Mama! Ich arbeite gern so, wie ich arbeite. Wie oft denn noch?« Seine Stimme wurde lauter. Er wusste, dass sie es gut meinte, doch er wollte dieses Gespräch nicht wieder und wieder führen. Wieder und wieder ihre Ängste durchkauen, die sie auch ihm unterschieben wollte. Dabei hatte er seine eigenen.

»Aber so kannst du doch keine Familie ernähren.«

»Ich hab doch gar keine Familie!«

»Genau das versuche ich dir die ganze Zeit zu sagen. Du brauchst einen festen Job, sonst kannst du keine Familie gründen.«

»Für eine Familie bräuchte ich in erster Linie eine Frau.« Er versuchte zu lachen, um die Schärfe in seiner Stimme abzumildern, aber es gelang nicht. Obwohl er Kinder mochte, wusste er nicht, ob er je eigene haben wollte, doch für seine Mutter musste jedes Leben auf eine Familie mit zwei oder drei Kindern hinauslaufen. In ihrer Welt gab es keine anderen Lebensentwürfe, alle anderen waren unfruchtbar, unglücklich oder entzogen sich ihrer Verantwortung.

»Ja, aber eine Frau will doch Sicherheiten«, beharrte sie. »Denk doch an Veronika.«

»Ich hab echt keine Lust, an sie zu denken, Mama. Wirklich nicht! Und ich hab keine Lust, noch mal so eine wie sie abzubekommen.«

Daraufhin sagte seine Mutter nichts mehr. Sie hatte Veronika so sehr gemocht, wie eine Mutter die Freundin ihres Sohnes eben mögen kann. Obwohl er schon fast dreißig gewesen war, hatte er oft genug das Gefühl gehabt, die beiden hätten sich verbündet, um ihn zu erziehen, um aus ihm einen verantwortungsvollen Erwachsenen zu machen, oder zumindest das, was sie unter verantwortungsvoll und erwachsen verstanden: einen Familienvater. Beide hatten sie gepredigt, jeder müsse an sich arbeiten - und woran er arbeiten müsse. Doch sie hatten nie daran gedacht, an ihren Vorstellungen von ihm zu arbeiten. Veronika war inzwischen Vergangenheit, doch weder sein Alter noch achthundert Kilometer Entfernung schützten ihn vor mütterlichen Ratschlägen, sie konnte nicht aus ihrer Haut.

»Du hättest mit ihr glücklich werden können«, sagte sie leise. »Sie wäre dir eine gute Ehefrau geworden. Auch eine gute Mutter.«

»Lass uns das wann anders ausdiskutieren, Mama. Ich muss noch arbeiten, ja? Da wartet noch ein Radiobeitrag auf mich.« Arbeit war das sicherste Argument, seine Mutter friedvoll abzuwürgen. Es war zu früh, um zu streiten.

»Arbeite nicht zu viel, geh auch mal raus an die Sonne, ein wenig frische Luft schnappen.«

»Mach ich.«

»Und pass auf dich auf.«

Er beendete das Gespräch, atmete durch und starrte ein paar Sekunden auf seine CD-Regale, die von Schwarz dominiert wurden. Viel Gothic, Postpunk, Darkwave, EBM, Punk, melancholischer Hardcore und auch düsterer Metal aus den 8oern und 9oern, dazu all die Promoscheiben, die er zu Rezensionszwecken zugesandt bekommen hatte. Kurz dachte er daran, Shock Therapys Knaller Pain einzulegen, aber das Album war nicht an seinem Platz, und sich durch die hohen Stapel neben der Anlage zu wühlen, hatte Alex keine Lust.

»But I’m not one of you, I’ll never be one of you«, murmelte er Passagen des Songs vor sich hin und schlurfte in die Küche. Die Bierflasche nahm er mit und stellte sie zu den anderen neben die Spüle, auf der sich das Geschirr von zwei Tagen stapelte. »A new day is upon me. A new day is upon me. I won’t ever let this pain control me! I won’t ever let this pain control me! I won’t ever let this pain control me! I won’t ever let this pain control me!«

Langsam zog er die Jalousie einen Spalt hoch, nicht weiter, es war einfach zu hell draußen, trotz Erdgeschoss und Hinterhof. Er warf die Kaffeemaschine an und schaltete das Radio ein, den alternativen Sender motor fm; gerade liefen die 13-Uhr-Nachrichten. Irgendwo auf der Welt war wieder was explodiert, acht Tote und zwei Dutzend Verletzte. Und aus einem Berliner Krankenhaus waren zahlreiche Blutkonserven entwendet worden, ein Zivildienstleistender und eine junge Krankenschwester wurden der Tat verdächtigt. Von den Konserven fehlte jedoch noch jede Spur, die beiden bestritten die Tat.

»Verrückte Welt«, brummte Alex, während er nach dem Zucker suchte und der Sprecher im Radio zu Blutspenden aufrief, um die Vorräte wieder aufzufüllen. Anschließend erzählte er was von Sonnenschein in den nächsten Tagen, und endlich kam Musik. Netter Britpop, der vor sich hinplätscherte und niemandem etwas tat. Alex hatte den Zucker gefunden und schaufelte drei Löffel in den großen schwarzen Pott Kaffee. Keine Milch. Dann starrte er vor sich hin und ließ den Kaffee abkühlen.

Pass auf dich auf. So beendete seine Mutter jedes Gespräch mit ihm. Ihr war Berlin noch immer unheimlich, sie vermutete überall Verbrechen und Gewalt, und zwar so viel, als wäre die ganze Stadt, der Moloch, ein Krisengebiet. Bis heute verstand sie nicht, warum er hierher gezogen war, warum er nach dem Studium geblieben und nicht wieder heimgekommen war. Als fühlte er sich in Niederbachingen zu Hause! Das tat er nirgendwo.

Selbstverständlich liebte er seine Mutter, aber es war gut, dass die ganze Republik zwischen ihnen lag. Sie wollte einfach nicht akzeptieren, dass er gern selbstständig arbeitete, keinen Chef über sich, keine Kollegen, die er Tag für Tag acht Stunden lang sehen musste, jeden Morgen dieselben Witze, jede Mittagspause denselben Kantinenfraß und heuchlerische Freundlichkeit bis in die letzte Überstunde hinein.

»Du hast Vorurteile«, erwiderte seine Mutter stets darauf. »Du hast es nie richtig ausprobiert. Es gibt auch nette Kollegen. Dein Vater arbeitet seit fünfunddreißig Jahren im selben Betrieb.«

Natürlich hatte er Vorurteile, so wie jeder Mensch, doch Vorurteile hin oder her, den Feierabend verbrachte sein Vater auf der frisch gepolsterten Couch vor dem Fernseher, um vom Stress des Tages runterzukommen. Geplagt von der Angst, bei der nächsten Stellenkürzung auch betroffen zu sein, weil er in zwei Jahren sechzig wurde und die ganze Welt nach Jugend schrie. Erfahrung war nur noch am Computer gefragt.

Seine Mutter wollte einfach nicht verstehen, dass sich Alex als selbstständiger Journalist und DJ genauso sicher fühlte wie in einer Festanstellung, aber freier. Ihr machte die Vorstellung von unregelmäßigem Verdienst zu viel Angst, doch Alex kannte es gar nicht anders.

Auch mit den Frauen war es immer dieselbe Feier. Es war ja nicht so, dass er nie jemanden kennenlernte, aber er würde sicher nicht mit seiner Mutter über One-Night-Stands reden, auch nicht über die sporadischen Drei-Wochen-Beziehungen. Das hatte er beim ersten und zweiten Mal gemacht, seither konnte er ihre Fragen nach jeder Trennung nicht mehr hören, dieses sorgenvolle und unterschwellig vorwurfsvolle Nachbohren, ob es ihm gutginge und wer oder was denn schuld gewesen sei, als ginge es im ganzen Leben nur um das Zuweisen der Schuldfrage. Ob sie zu jung oder er zu irgendwas gewesen sei?

Dieses Irgendwas betraf meist seine Lebensweise, seine fehlende Festanstellung oder angebliche Bindungsunfähigkeit, als müsse man nach drei Wochen bereits das Zusammenziehen planen. Manchmal war irgendwas auch nur eine Kleinigkeit, die sie gerade an seinem Vater störte. Dabei zogen sich diese telefonischen Befragungen länger hin, als die Beziehungen gedauert hatten, und wurden garniert mit gut gemeinten Ratschlägen und der Feststellung, man müsse in Beziehungen auch etwas investieren, man müsse darum kämpfen und sich bemühen, man müsse Kompromisse eingehen und dürfe nicht zu früh aufgeben!

»Nein, Mama«, murmelte er über seine dampfende Tasse hinweg. »Man muss nicht krampfhaft versuchen, etwas vierzig Jahre zu erhalten, das nach zwei Wochen schon nicht mehr funktioniert. Was der Mensch zusammengefügt hat, das darf er auch trennen.«

Vorsichtig nahm er einen ersten Schluck, dann holte er sein Handy aus dem Flur. Sollte seine Mutter doch sagen, was sie wollte, gestern erst hatte ihm eine junge Frau ihre Nummer gegeben. Eine Studentin, fünftes Semester Jura und trotzdem ungekünstelt. Hübsch, lebendig und mit großen dunkelgrünen Augen. Ihr helles Lachen hatte ihn sofort begeistert, die doppelten Grübchen und das schelmische Strahlen der Augen. Sie kam aus dem Rheinland und hatte den Karneval vehement gegen alle anwesenden Berliner, Schwaben und Bayern verteidigt: »Das hat nichts mit eurem Fasching zu tun, das ist eine Mischung aus Loveparade und altrömischen Saturnalien.«

Alex flirtete gern und oft, doch gestern hatte er dabei ein Kribbeln im Bauch gespürt, das seinen ganzen Körper erfasst hatte, als sie ihm ihre Nummer gegeben hatte.

Mit einem lockeren Spruch und süß-debiler Verwirrung im Hirn hatte er die Nummer gespeichert, aber jetzt war ihm ihr Name einfach entfallen ... Das konnte doch nicht wahr sein! Sein Schädel pochte, er starrte auf das kleine Display, aber ihm wollte einfach nichts einfallen. Wie hatte sie nur geheißen? Er konnte jetzt doch nicht alle Namen durchklicken, dafür hatte er zu viele im Speicher.

Fluchend trank er noch einen Schluck Kaffee. Langsam wurde er wach, doch der Kopf blieb schwer und leer. Ihre Freundin hatte Sandy geheißen, daran konnte er sich noch genau erinnern. Solche ostdeutschen Namen fielen ihm als Wessi noch immer auf.

»Lisa!« Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Lisa, klar! Wie hatte er das nur vergessen können? An das ganze Gespräch mit ihr konnte er sich noch erinnern, oder zumindest an so viel, wie der Alkohol zuließ. An jedes Lachen und Lächeln. Nüchtern hätte er alles behalten, auch ihren Namen.

»Lisa«, murmelte er noch einmal, dann klingelte erneut das Telefon.

Niemand, der ihn kannte, rief ihn vor 14 Uhr an, auch nicht an einem Mittwoch. Na ja, niemand außer seinen Eltern.

»Wehe, das ist ein Telefonanbieter oder eines dieser Sie-haben-garantiert-gewonnen-Bänder«, brummte er, stapfte ins Wohnzimmer und nahm das Telefon aus der Station. Oder eine Umfrage, die ihn garantiert nur eine Minute Zeit kosten würde. Er sollte sich endlich ein Gerät kaufen, das die Nummer des Anrufers anzeigte.

»Ja? Gruber«, meldete er sich und schlurfte zurück zu seinem Kaffee.

»Hab ich dich geweckt? Hier Salle.«

Alex hatte ihn an seiner weichen Stimme und dem jovialen Tonfall sofort erkannt. Vor Jahren hatte er mit Salles damaliger Freundin und heutigen Exfrau Birgit studiert, seitdem standen sie in losem Kontakt. Inzwischen fast ausschließlich beruflich.

»Ich sitz schon beim Kaffee ... Was gibt’s?«

»Ich hätte was für dich. Wir bräuchten bis Freitag einen längeren Artikel über Satanisten in der Gothic-Szene, etwa neuntausend Anschläge.« Erwin Salzgruber, Salle, war Feuilleton-Redakteur der Berliner Allgemeinen und schusterte Alex hin und wieder einen Auftrag zu. Wenn es um dunkle Musik, dunkle Bücher, dunkle Filme oder dunkle Comics ging, oder eben die dazugehörigen Jugendkulturen. Für ihn war Alex der freie Mitarbeiter fürs Dunkle. »Einfach eine Handvoll Beispiele aus den letzten zehn, zwanzig Jahren zusammenfassen, ein paar Verbindungen ziehen. Es soll keine komplexe Analyse der Szene werden, nur das Wesentliche anreißen, vor allem das Dramatische ihrer Taten betonen, du weißt schon: Von der Teufelsanbetung über Tieropfer auf dem nächtlichen Friedhof bis hin zum Ritualmord. Du kennst dich da ja besser aus als ich, sollte ein Klacks für dich sein. Wenig Recherche, leicht verdientes Geld.«

»Ich schreib eigentlich ungern, ohne zu recherchieren«, erwiderte Alex brummig, weil ihm Salles lockerer Tonfall auf die Nerven ging.

»Natürlich. So war es ja auch nicht gemeint. Hab nur Spaß gemacht. Natürlich darfst du so gründlich arbeiten, wie du willst.«

»Und weshalb gerade dieses Thema?« Alex rieb sich nebenbei den letzten Schlaf aus den Augen und rührte im Kaffee. An Silvester hatte er sich geschworen, nie wieder unüberlegt einen Auftrag anzunehmen, egal, wie lukrativ er auf den ersten Blick erschien.

»Wegen der Geschichte in Schöneberg. Wir wollen in der Wochenendausgabe ein bisschen Hintergrund liefern, es nicht bei den Schlagzeilen der Boulevard-Kollegen belassen.«

»Das war diese blutige Ritualgeschichte? Wo die junge Frau nackt auf den Wohnzimmertisch gefesselt wurde, weil die Spinner keinen Altarstein hatten?«

»So ungefähr.«

»Und jetzt willst du von mir einen Artikel, der belegt, dass das Ganze kein Einzelfall, sondern der Satanismus eine ganze Jugendbewegung oder zumindest Teil einer bestimmten Subkultur ist. In diesem Fall der Gothic-Szene, nicht der Black-Metal-Szene.«

»So in etwa, ja.« Salle klang zögernd, wahrscheinlich konnte er mit dem Begriff Black Metal nichts anfangen.

»Was ist mit Fotos?« Alex versuchte, möglichst beiläufig zu klingen. »Soll ich da auch welche von ein paar scharfen Gothic-Chicks liefern, die wenig anhaben und gefährlich posieren?«

»Danke, haben wir schon.«

»Dachte ich mir.« Alex lachte. »Jetzt aber mal im Ernst, weshalb rufst du an? Der Artikel ist doch ein Scherz, oder?«

»Nein, kein Scherz. Ich ruf wegen des Artikels an. Ehrlich.«

»Komm schon, Salle, du kannst doch nicht erwarten, dass ich ein paar alte 8oer-Jahre-Klischees ausgrabe und Gothics als Buhmänner darstelle, damit ihr Bilder von halbnackten Mädels abdrucken könnt. Gerade hast du gesagt, ihr wollt euch von den Boulevard-Schmierern abheben.«

»Mach mal halblang. Die Satanisten von Schöneberg waren nun mal Gothics.«

»Mag sein. Aber ihr Opfer auch. Und du willst von mir keinen Artikel über die Gothics der letzten zwanzig Jahre, die Opfer von Satanisten wurden.«

»Alex, du weißt, dass das Unsinn ist ...« Trotzdem klang Salle irritiert.

»Ja. Genau wie der Satanisten-Artikel. Du erstellst ja auch keine Liste von Giftmörderinnen, die Tina Turner hören. Ich schreib dir aber gern was über den konkreten Fall in Schöneberg, wenn du mir ein wenig Zeit gibst, mich da einzuarbeiten.«

»Tut mir leid, da sitzt schon wer dran.« Allzu bedauernd klang es nicht. »Ich dachte einfach, du könntest den Auftrag und das Geld gut gebrauchen.«

»Ja, kann ich. Du weißt, dass ich dankbar für Aufträge bin. Aber doch nicht so was!«

»Ach, komm schon. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Niemand nimmt einen solchen Artikel richtig ernst.«

»Warum druckt ihr ihn dann? Welchen Sinn haben Artikel, die niemand ernst nimmt? Ich denke, du bist Journalist und nicht Rahmenschreiber für Nacktbilder.«

»Mensch, Alex, mach doch jetzt keine Grundsatzdiskussion daraus. Es geht hier nicht um Weltpolitik. Die Leute wollen das, und ich hab Kinder zu ernähren.«

»Welche Leute wollen das? Werd’ doch mal konkret.«

»Willst du jetzt den Artikel oder nicht?«, fragte Salle scharf.

»Nein. Ich will, dass man meine Artikel ernst nimmt! Wenigstens mein Redakteur!«

»Ich nehm dich ernst, verdammt, und das weißt du! Ich wusste nur nicht, dass du so ein Prinzipienreiter bist. Ich dachte einfach, du brauchst Geld.«

Zwei Sekunden lang sagte niemand etwas, und Alex fragte sich, warum die ganze Welt dachte, dass er Geld brauche. Seit zwei Jahren schon zahlte er seine Miete pünktlich.

»Sorry«, entschuldigte er sich. »Ich bin erst bei der ersten Tasse Kaffee, und du weißt, was für ein Morgenmuffel ich bin. Und meine Mutter hat auch schon angerufen.«

»Schon okay. Ich melde mich einfach wieder, wenn ich was anderes hab. Frühstück noch schön.«

»Danke.« Alex verkniff sich gerade noch die jahrelang üblichen Grüße an Birgit und legte auf. Von Salle würde er trotz der letzten Beteuerung wohl eine Weile nichts mehr hören.

Natürlich hätte er gegen das Geld nichts einzuwenden gehabt, und jetzt schrieb irgendwer den Artikel, vielleicht ein ahnungsloser Praktikant, der alle Klischees und Details reißerisch und mit gespielter Betroffenheit ausschlachtete, der weder Satanismus noch Gothic differenziert betrachtete. Wahrscheinlich interessierte es in drei Wochen tatsächlich niemanden mehr, bis dahin waren Satanisten out und sonst wer der Untergang der Zivilisation. Vielleicht wieder einmal Amokläufer, und die bösen Computerspiele standen deswegen unter Generalverdacht. Vielleicht hätte er den Artikel einfach schreiben, das Geld kassieren und auf die Vergesslichkeit der Menschen bauen sollen, aber das konnte er nicht. Unter solches Geschmier wollte er seinen Namen einfach nicht setzen.

Alex bezeichnete sich nicht als Gothic, er fühlte sich keiner Szene zugehörig, egal, wie oft er schwarze Hosen und Lederjacken trug. Aber Salle wusste, dass er Freunde in der schwarzen Szene hatte, dass er den halben Tag lang Musik aus der Szene oder Verwandtes hörte, dass er oft genug bei schwarzen Partys auflegte, dass er hin und wieder für ein Szenemagazin schrieb. Wie war er nur auf die Idee gekommen, Alex würde so etwas mal schnell rausrotzen?

Noch so ein Telefonat, und er brauchte kein weiteres Koffein, um wach zu werden. Trotzdem schenkte er sich noch eine Tasse ein. Vielleicht hätte er ganz diplomatisch sagen sollen, er habe keine Zeit für den Artikel; mit dem Radiobeitrag zu Edgar Allan Poe und seinen modernen Erben hatte er ja noch einen Auftrag in Arbeit. Wozu so ein Jubiläumsjahr alles gut war, auch noch Monate nach Poes zweihundertstem Geburtstag.

Alex beobachtete eine Fliege, die über seinen hellen Küchentisch aus eng gemasertem Fichtenholz mit leicht rötlichem Schimmer lief, dabei ständig die Richtung änderte auf der Suche nach letzten Bröseln der Pizza, die er gestern noch schnell vor der Party runtergeschlungen hatte. Seine Gedanken wanderten zu Lisa. Denn egal, was er seiner Mutter bei jedem Telefonat erzählte – er war einsam.

Da saß diese gefräßige schwarze Leere in ihm, ein Loch, als wäre er unvollständig, als hätte er etwas verloren. Eine Leere, die sich wie ein Parasit jedes Gefühl der Nähe einverleibte, die ihn immer daran erinnerte, dass er allein war, egal, wie viele Freunde er hatte, egal, ob er gerade in einer kurzfristigen Beziehung steckte oder nicht. Nicht einmal Veronika hatte dieses Gefühl der Einsamkeit in ihrem ersten Jahr verschwinden lassen können. Vielleicht in den besten Augenblicken, aber die waren immer seltener geworden, je länger sie zusammen gewesen waren. Die ersten Tage und Nächte, in denen es nur um den Moment ging, die ersten Wochen, in denen man einfach gedankenlos genoss, hatten ihn manchmal die Leere vergessen lassen. Sie hatten sie nicht gefüllt, aber verdrängt.

Als irgendwann die Fragen aufgekommen waren, wohin das alles führen sollte, als die Routine eingesetzt hatte, waren diese Augenblicke immer seltener geworden. Trotzdem hatte er sich an sie geklammert, bis Veronika ihn verlassen hatte.

Er war ein Idiot gewesen.

Jetzt klammerte er nicht mehr und war überzeugt, dass jeder Mensch allein war und mit der Schwärze in sich leben musste. Und trotzdem hoffte er bei jeder Frau, die er kennenlernte, dass seine Theorie nicht stimmte. Dass in ihrer Gegenwart seine innere Leere verschwinden würde, nicht nur im Rausch der Nacht, sondern den ganzen Tag lang. Er erträumte sich keine heile, flauschig pinke Puppenhauswelt, nur dass er sich nicht mehr ständig einsam fühlte, selbst wenn er mit einer Frau, die er liebte, durch eine milde Sommernacht lief.

Er dachte an Lisa, an ihre lachenden grünen Augen, und spürte wieder diese irrationale Hoffnung in sich aufsteigen. Er wusste nicht, warum er sie auf einen anderen Menschen übertrug, doch wie sollte man Einsamkeit sonst besiegen? Allein wohl kaum.

Er konnte sich nicht erinnern, wie es war, nicht dieses nagende Gefühl in sich zu spüren, dass da etwas fehlte. Vielleicht war es vor der Pubertät anders gewesen, in der Grundschule, aber das war zu lange her, die Erinnerungen daran verschwommen.

Nach der dritten Tasse Kaffee wollte er duschen und mit der Arbeit beginnen, aber dann rief er doch bei Lisa an. Eigentlich hatte er das erst am Wochenende tun wollen, um nicht übereifrig zu erscheinen, um sie nicht zu vergraulen, aber je länger er an sie dachte, umso weniger wollte er taktieren. Er wollte sie einfach wiedersehen.

»Ja? Hallo?«, meldete sie sich. Gestern war ihm gar nicht aufgefallen, wie sexy ihre Stimme klang.

Instinktiv bemühte er sich, männlich tief zu sprechen. »Hi. Hier ist Alex.«

»Alex?«, fragte sie. Im Hintergrund waren Straßengeräusche zu hören, irgendwer sprach, irgendwer lachte.

»Ja. Wir haben uns gestern ...«

»Ach, der Alex! Schön, dass du dich meldest.«

»Dafür hast du mir die Nummer ja gegeben. Und ich dachte, ich ruf am besten gleich an, bevor du mich vergisst.« Er versuchte, lässig ironisch zu klingen. »Vielleicht können wir uns ja treffen?«

»Ja?«

»Ich dachte ans Wochenende. Freitag vielleicht?«

»Eigentlich gern. Aber ich bin gerade am Bahnhof und bis Freitag weg.«

»Schade. Was hältst du dann von Samstag?«

»Ich ruf an, wenn ich zurück bin. Okay?«

»Okay. Ich freu mich.«

Sie legte auf. Zwei Sekunden lang starrte Alex das Handy an und wusste nicht, was er von dem kurzen Gespräch halten sollte. Dann ging er duschen. Er würde wohl erst am Wochenende rausfinden, ob sie sich wirklich mit ihm treffen wollte.

Jeder ist allein.