23
Koma saß in der Horror-Rock-Bar Last Cathedral am Rosa-Luxemburg-Platz, starrte auf die einem Dungeon nachempfundenen Wände, die wie aus Pappmache wirkten, und trank Bier. Jens und Mela waren seit einer Stunde bei ihm, und er erzählte ihnen zum bestimmt zehnten Mal von der erhängten Ratte an Alex’ Wohnungstür: »Es war eine süße weiße Ratte, so schrecklich klein, und ich kriege diese verdammten zerstochenen Augen nicht aus meinem Schädel, die blutigen Stellen, wo sich die Spitzen des Stacheldrahts in den Hals gebohrt haben, wahrscheinlich, als sie verzweifelt gezappelt hat, um freizukommen, verängstigt und voller Schmerz. Ich könnte die Sau umbringen, die das getan hat.«
»Und Alex hat nicht gesagt, warum ...?«, fragte Jens zum ebenfalls zehnten Mal, und erneut schüttelte Koma den schweren Kopf.
»Ich glaube, der will uns da nicht mit reinziehen, der blöde Idiot. Als würden wir uns da nicht selbst einmischen. Einen Freund lässt man doch nicht hängen, wenn ihm jemand eine tote Ratte schickt. Nur weil er sich nicht helfen lassen will, lässt man ihm doch nicht seinen Willen«, brabbelte Koma. Er hatte das sechste oder siebte Bier intus und spürte es deutlich. Von allzu viel Nutzen wäre er heute nicht mehr, aber Alex rief ja sowieso nicht an, um sich helfen zu lassen. Er trank, um die Ratte zu vergessen, und er trank weiter, weil er angefangen hatte und immer schlecht aufhören konnte. Laut sagte er: »Ich liebe Ratten.«
»Vielleicht hat Alex ja gute Gründe, uns nicht einzuweihen«, vermutete Jens, und Mela nickte. »Vielleicht können wir ihm wirklich nicht helfen, sondern würden alles schlimmer machen, wenn wir uns einmischen.«
»Schlimmer machen? Verdammt, wir müssen uns einmischen. Hinter unserem Freund ist ein fieser Rattenmörder her, den kann man doch nicht einfach laufen lassen. Wir müssen die Ratte rächen!«
»Hey, Koma, du hast echt ein bisschen viel getrunken«, sagte Mela sanft.
»Ja und? Was hat das mit dem Rattenmörder zu tun? Da draußen läuft ein Rattenmörder frei rum. Ein Rattenhenker! Ich will doch nur nicht, dass der auch Alex mit Stacheldraht stranguliert.«
»Meinst du, das ist so ernst?« Ungläubig starrte Jens ihn an. Mela legte ihre Hand beruhigend auf Jens’ Arm und schüttelte ganz leicht den Kopf.
»Vielleicht sollten wir die Polizei rufen?«
»Die Ratte hat ausgesehen wie mein Zombiegirl«, sagte Koma, und dann, mit Verzögerung: »Nein, keine Polizei. Nicht, bevor wir wissen, wie tief Alex da drinsteckt. Worin auch immer. Wir müssen ihm so helfen.«
»Aber er hat doch gesagt, dass er ...«
»Ja und?«, maulte Koma. »Wen interessiert das? Was seid ihr denn für Freunde? Bullerei rufen, damit die alles klärt? Das ist doch Bullshit! Das ist keine Freundschaft. Ich ruf ihn jetzt an, basta.«
In diesem Moment brach ein Gewitter aus Geschrei und trampelnden Stiefeln über sie herein. Eine Polizeieinheit stürmte das Last Cathedral, überall waren plötzlich Beamte in Grün und verlangten Personalien, riefen nach dem Chef und konfiszierten die CDs des DJs.
»Was soll das?«, fragte eine Bedienung neben Koma.
»Satanismusverdacht«, brummte ein bulliger Beamter knapp. »Und jetzt bitte den Ausweis.«
»Bitte was?«
»Den Ausweis.«
»Nein. Was für ein Verdacht?«
»Bleiben Sie einfach ruhig und lassen Sie uns unsere Arbeit machen.«
Dann musste auch Koma seinen Ausweis vorzeigen und verstand nichts mehr von dem Gespräch. Fiebrig hoffte er, dass es keinen Ärger gab, wenn sie rausfanden, dass er noch einen zehn Jahre alten Eintrag wegen Drogenbesitzes hatte. Seit acht Jahren rauchte er nicht mehr regelmäßig, aber der Eintrag verfolgte ihn noch manchmal.
Immer lauter dröhnten hier und da die Proteste, am anderen Ende des Raums kam es zu einer kurzen Rangelei, aber es half nichts. Alle Gäste, deren Personalien aufgenommen waren, wurden auf die Straße geschickt, das Last Cathedral wurde für den Rest des Abends geschlossen. Die Hälfte der Polizisten blieb dort, um sich umzusehen.
»Warum nehmt ihr uns nicht alle gleich in U-Haft?«, brüllte ein Betrunkener mit schwarzem Iro. Er hatte eine Flasche mit nach draußen genommen und zerschmetterte sie vor Wut an der Hauswand. Glas splitterte in alle Richtungen, traf aber niemanden.
»Wahrscheinlich steckt da derselbe Staatsanwalt dahinter, der sich damals auch das Videodrom vorgenommen hat«, vermutete eine Rothaarige mit schwarzer Brille.
Ein junger Bursche mit noch spärlichem Flaum und Dreitagebartversuch motzte: »Willst du Scheißbulle vielleicht auch mein Oomphl-Shirt konfiszieren? Es könnte ja vom Teufel besessen sein.«
Sofort waren drei Beamte bei ihm und blafften ihn an. Noch so eine Beleidigung, und sie würden das T-Shirt mitsamt ihm konfiszieren.
Koma sah dem Treiben eine Minute lang zu, dann fiel ihm wieder ein, dass er Alex anrufen wollte, und er zog sein Handy aus der Tasche. Doch es meldete sich nur die Mailbox.
»Ich bin’s, Koma. Ruf mich zurück. Es ist dringend.«
Wo trieb sich der Kerl nur herum? Wie sollte man dem Trottel auch helfen, wenn er sich sogar vor seinen Freunden verbarg?
»Scheiß Rattenmörder«, murrte er noch, dann legte er Jens den Arm um die Schulter und bestand darauf, Alex zu suchen. So groß war Berlin auch wieder nicht.