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Erwin Mitreski schaltete den Motor ab und blieb einfach sitzen, die Linke noch immer auf dem Lenkrad. Er starrte durch die Windschutzscheibe auf den überquellenden orangefarbenen Mülleimer neben dem Parkplatz, auf die zwei kleinen Jungen, die sich einen abgewetzten Ball zukickten, und hinüber zu dem frisch gestrichenen Plattenbau mit den bunten Fröschen über der Eingangstür. Seufzend kurbelte er die Dachluke zu und stieg aus. Er wusste nicht, wie lange er seinen Job noch behalten konnte. Heute hatte die betriebsbedingte Kündigung seinen Kollegen Achim Fandel erwischt, mit dem er seit dreizehn Jahren zusammenarbeitete.
»Es wird nicht mehr so viel gebaut in Berlin, die Zeiten sind schlecht«, hatte die lapidare Begründung gelautet. Es hatte Achim und drei weitere erwischt, die vor acht Jahren versucht hatten, einen Betriebsrat zu gründen. Niemand glaubte an einen Zufall, doch keiner wollte sich beschweren. Wo auch? Es wurde schon von weiteren Entlassungen gemurmelt, da ging man doch nicht zum Chef, um sich zu solidarisieren.
Es war zum Kotzen. Erwin schämte sich für sein Schweigen, doch er musste schließlich Ruth und Marc ernähren. Wenigstens hatte er Achim gesagt, er solle anrufen, wenn er etwas brauche.
Er stapfte an den beiden Jungen vorbei und durch die Froschtür in den stickigen Schatten des Hauses. Heute nahm er die Treppe in den achten Stock, er hatte es nicht eilig heimzukommen.
Als er die Wohnung betrat, roch es noch nicht nach Essen. Aus dem Zimmer seines Sohns Marc drang laute Musik, aber Erwin hatte jetzt nicht den Nerv, ihn anzumotzen. Langsam schlüpfte er aus den dreckigen Halbschuhen und ging auf Socken in die Küche.
Ruth saß mit verweintem Gesicht am Tisch, auf dem Brett vor ihr lagen zwei dunkelrote Stück Fleisch, daneben das große Fleischermesser, die scharfe Klinge exakt parallel zur Tischkante ausgerichtet. Edelstahl, ein teures Messer, das Erwin selbst jedes Wochenende pflegte und schliff. Ein Fleischermesser war das einzig wirklich männliche Küchengerät, fand er, und seit sie in der Stadt lebten, hatte er keine eigene Werkstatt mehr.
»Bist du auch entlassen worden?«, fragte Ruth mit zitterndem Kiefer und bangem Blick, bevor er irgendwas sagen konnte.
»Nein. Sie haben Achim entlassen, aber woher weißt du, dass es ...«
»Es kam vor wenigen Minuten im Fernsehen.« Ruth schniefte. »Ich habe Marc noch nichts gesagt, ich konnte einfach nicht.«
»Es kam im Fernsehen?« Was hatte die Entlassung von vier Arbeitern eines mittelständischen Bauunternehmens im Fernsehen zu suchen? So etwas passierte doch jeden Tag.
»Ja. Achim hat wohl euren Chef beschimpft und ist anschließend nach Hause gedüst, wo er sich betrunken und mit Marianne gestritten hat. Sie hat ihn dann im Affekt erstochen. Erstochen! Angeblich weil sie schwanger war und sie jetzt nicht mehr genug Geld hätten, die Kinder aufzuziehen. Sie hatten sich gerade für das Auto verschuldet, haben sie im Fernsehen gesagt. Kannst du das glauben?«
»Achim ist tot?« Erwin begriff es erst jetzt. Alles drehte sich um ihn, er tastete nach der Wand, nach Halt. Das konnte doch nicht sein, der alte Kämpfer Achim. »Marianne hat Achim ...«
»Ja. Und euer Dr. Claußen hat gesagt, es wäre eine schreckliche Tragödie.«
»Scheiß auf Claußen!« Erwin starrte auf das große blanke Messer, das neben Ruth auf dem Tisch lag. Die Klinge spiegelte das Sonnenlicht von draußen und schien darauf zu warten, benutzt zu werden. Er sah in Ruths verquollenes Gesicht, in die verwirrten Augen. Dann sank er am Türrahmen in die Knie und begann zu weinen, Tränen tropften auf den neuen Teppich und wurden von ihm aufgesogen.
»Er hätte sie nicht heiraten dürfen, Marianne hat immer mehr vom Leben gewollt als er«, sagte Ruth. »Marianne hat immer auf sich geschaut.«
Erwin blieb einfach hocken und weinte. Wieso hatte Marianne das getan? Sie war ein Hausdrache, keine Frage, und er hatte nie verstanden, was Achim an ihr geschätzt hatte, aber das? Achim hätte schon einen neuen Job gefunden, ein Kämpfer wie er. Und ein neu angeschafftes Auto konnte man wieder verkaufen.
Ruth ging vor ihm in die Knie. »Ich würde das nicht tun, weißt du? Ich liebe dich. Ich würde das nicht tun, auch wenn sie dich entlassen.«
»Ich weiß«, schniefte Erwin, auch wenn er nicht wusste, warum sie das so betonte. Er war nie auf die Idee gekommen, dass sie so etwas tun könnte. Warum sollte er auch so etwas denken? Hatte sie? Nein, das Messer auf dem Tisch war für das Geschnetzelte bestimmt. »Ich liebe dich auch.«
Sie küsste ihn auf die Stirn und wischte seine Tränen weg.
»Wann gibt’s Essen?«, brüllte Marc aus seinem Zimmer.
»Dauert noch!«, rief Ruth, klammerte sich an Erwin und begann zu schluchzen.