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Lisa saß ganz am Rand der Holzbank, die Hände im Schoß ineinandergeklammert, sie konnte nicht mehr weiter von Günni abrücken. Dafür hätte sie aufstehen müssen, und sie wusste nicht, ob ihre Beine sie tragen würden, sie fühlten sich so schwach an, die Knie zitterten schon im Sitzen. Außerdem hatte Sandy gesagt, sie solle sich setzen, möglicherweise hätte Günni sie also zurück auf die Bank gedrückt, wenn sie aufgestanden wäre, und sie wollte auf keinen Fall von Günni berührt werden. Sie hatte die irrationale Angst, seine innere Schwärze würde auf sie abfärben. Sie vermied es, die Luft einzuatmen, die er ausatmete, sie fühlte sich so schneidend an wie der kalte Ostwind, der im Februar über Berlin hinwegfegen konnte. Sie wurde den Gedanken nicht los, innerlich zu erfrieren, wenn sie es täte.
Einen kurzen Moment lang hatte sie die Hoffnung, jemand würde ihre Schuhe auf der Straße finden und irgendwen benachrichtigen oder selbst hier herunterkommen und sie herausholen. So wie sie auf der Straße lagen, mussten sie doch verdächtig wirken. Doch dann wurde dieser Gedanke davongefegt. Niemand kümmerte sich in Berlin um fremde Schuhe, keiner würde sie beachten.
Günni versuchte nicht mehr, ein Gespräch mit ihr zu beginnen, er saß einfach reglos wie ein Toter neben ihr, und nur als der Junge in die Nische hereingesehen hatte, hatte er ganz langsam den Kopf geschüttelt. Da war der Junge wieder abgezogen.
Er war vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt und recht groß. Sportlich schlank, trainierte Arme, doch die Schultern hochgezogen, mit kurzen blondierten Haaren und gehetzten blauen Augen. Seit Minuten stand er nun an dem Pfeiler direkt vor ihrer Nische und hängte das inzwischen siebte Foto auf, Lisa hatte mitgezählt. Wie viele weitere er in seiner Hosentasche mit sich führte, konnte sie nicht sagen. Jedes Bild hatte er mit einem schwarzen Edding bearbeitet, dabei hatte er den Stift mit der ganzen Faust derart fest umklammert, dass die Adern seines Unterarms hervortraten. Anschließend hatte er auf jedes Bild gespuckt, sein Speichel war blutig rot. Irgendwas murmelte er dazu, doch seine Stimme war ein heiseres Zischen, das Lisa nicht verstand. Sie wollte es auch nicht verstehen.
Der Glatzkopf an der gegenüberliegenden Wand zerrte noch immer an seiner Kette, die gierig hervorquellenden Augen stur auf Lisa gerichtet. Wie ein tollwütiger Kettenhund, der etwas gewittert hatte - einen Eindringling oder Beute. Lisa war nichts anderes als Beute für ihn. Er keuchte und knurrte, hatte noch kein einziges klar artikuliertes Wort von sich gegeben.
»Halt die Klappe, Jo!«, rief der Junge mit hoher Stimme und zog ein achtes Bild aus der Gesäßtasche. »Du wirst später gefüttert.«
Gefüttert. Wie ein Tier. Warum steckte dieser Kerl nicht in einer Psychiatrie? Stand er unter irgendwelchen besonders harten Drogen, oder war er auf Entzug? War diese Anlage hier ein Testlabor irgendwelcher Drogenerfinder? Lisa wusste nicht, wie man die Leute korrekt nannte, die neue synthetische Rauschmittel herstellten. Aber hier schien es gar nicht um so was zu gehen.
Seit sie hier saß, fragte sich Lisa, wie Sandy diese Leute als neue Freunde bezeichnen konnte. Im schlimmsten Fall hatte Lisa mit einer obskuren Sekte gerechnet, Ökos mit Jesuslatschen und lauter furchtbar gutmenschigen Labereien, einem leicht entrückten Ich-habe-die-Erleuchtung-mit-Löffeln-gefressen-Schimmern in den Augen, Trottel, die brav alles schlucken, was ihr Guru oder Gruppenleiter ihnen vorsetzt. Aber das hier war doch Wahnsinn! Diese Gestalten waren doch alle irrsinnig. Wie konnte Sandy nur davon ausgehen, dass gerade sie die Richtigen waren, um ihr zu helfen?
Das sind keine Menschen, dachte Lisa, doch sofort verwarf sie diesen Satz wieder. So etwas wollte sie nicht denken, so etwas konnte nicht sein, doch wenn sie ehrlich zu sich selbst war, glaubte sie genau das. Aber was sollten sie sonst sein?
Das sind keine Menschen, dachte sie noch einmal ganz bewusst, um den Gedanken zuzulassen. Sandy hatte sie über das verlassene Industriegelände geschleift wie eine Puppe. Lisa wusste, dass Sandy nicht so viel stärker war als sie, oder zumindest früher nicht. Eben war sie unmenschlich stark gewesen. Stärker, als irgendwelche Drogen oder Dopingmittel sie machen konnten.
Alex und diese andere Frau hatten beim Sex eine Wohnung zerlegt. Auch das war nicht normal gewesen.
Aber wenn die Leute hier und Alex und diese Frau alle keine Menschen waren, was waren sie dann?
Ich will, dass du eine von uns wirst, hatte Sandy gesagt. Wenn er erwacht, musst du zu uns gehören, das ist sicherer für dich.
Aber sie wollte nicht so werden wie der kalte schwarze Günni neben ihr, nicht wie der spuckende Junge mit dem gehetzten Blick am Pfeiler, der nach der Anzahl der aufgehängten, mit Kritzeleien verfluchten Fotos offenbar jeden in seinem Umfeld zu hassen schien, und schon gar nicht wollte sie so werden wie dieser Jo, der knurrend an seiner Kette zerrte und sich mit den Füßen immer tiefer in die feuchte Erde grub. Was hieß da schon sicherer, wenn man an einer Kette leben musste?
Sie war immer zu feige gewesen, in einen der Züge mit unbekanntem Ziel einzusteigen, als sie zum Bahnhof gegangen war, hatte nur davon geträumt, ihnen bei der Abfahrt sehnsüchtig hinterhergesehen und war doch nach Hause gegangen. Hatte brav das Abi abgewartet, um endlich auszuziehen und weit weg von ihrer mechanischen Mutter und deren Walther zu studieren. Ganz sicher wollte sie nicht an einer Kette leben, sie wollte endlich frei sein.
So frei wie diese Frau gewirkt hatte, die Alex gevögelt hatte. Die wäre in den erstbesten Zug gestiegen, der über eine Grenze fuhr, da war sich Lisa sicher. Sosehr sie Alex für das, was er getan hatte, hasste, so sehr verstand sie ihn. Niemand stieß eine solche Frau von der Bettkante, vielleicht würde es nicht einmal Lisa tun, die sich noch nie körperlich zu einer Frau hingezogen gefühlt hatte, und dafür hasste sie sie. Sie hatte das Gefühl, ihr gegenüber vollkommen wehrlos zu sein, und sie wollte nie wieder wehrlos sein.
Auch sie ist kein Mensch, dachte Lisa, doch sie war anders als die Gestalten, die hier unter der Erde lebten, sinnlich, frei, selbstbewusst, ganz anders als das sabbernde Kettending Jo und der kalte Abgrund in Menschenform an ihrer Seite.
Wie viele Menschen waren denn überhaupt menschlich? Wenn Lisa den Gedanken zuließ, dass das hier keine Menschen waren, obwohl sie so aussahen, woher sollte sie dann wissen, wie vielen echten Menschen sie auf der Straße täglich begegnete, und wie vielen falschen?
Die feuchte Erde unter Lisas nackten Füßen schien ganz leicht zu vibrieren, und das Vibrieren stach wie kleine Nadeln in ihre Sohlen. Sie hob die Beine auf die Bank, um den Kontakt zu unterbrechen.
Günni dagegen grub die Zehen möglichst tief in den Boden und lächelte. Jo heulte auf und warf sich noch wilder in die Kette, und der Junge am Pfeiler unterbrach seine Schmierereien und rührte sich nicht, stand einfach da und zitterte.
Lisa wollte heulen, aber sie konnte nicht, hatte keine Tränen in sich.
In diesem Moment kam Sandy zurück, endlich. Sie strahlte, und Lisa begann trocken zu schluchzen. Sandy war nackt und vollkommen mit dunkler Erde beschmiert, die an ihr klebte wie eine zweite, borkige Haut. In ihrem Gesicht fanden sich darüber hinaus Spuren von getrocknetem Blut, die Lippen schienen aufgeplatzt, Blut war bis aufs Kinn hinabgetropft, aber Sandy lächelte dennoch unentwegt. Sie kam in die Nische, nahm Lisas Gesicht in die kalten dreckigen Hände und küsste sie kurz und sanft auf die Lippen. Das hatte sie noch nie getan.
Lisa schmeckte Blut und Erde, und auch wenn sie den Geschmack ausspucken wollte, tat sie es nicht. Es war, als würde eine kühle Kraft in dem Kuss stecken, der ihren Wunsch zu weinen verdrängte. Das tat gut.
»Er ist einverstanden, auch wenn du nicht ganz allein hergefunden hast.«
Wieder fragte sich Lisa, wer dieser Er denn war, von dem Sandy dauernd sprach.
»Er weiß jetzt, an wem du dich rächen willst, und das ist gut. Er will dir helfen, deine Rache zu bekommen.«
Mechanisch nickte Lisa. Wieso war Sandy nackt und voller Erde und Blut? War dieser Er doch ein perverser Gangsterboss, der Herr eines Drogenrings, der Frauen schlammcatchen ließ, wenn er ihnen einen Wunsch erfüllen sollte? Hatte Sandy sich dabei die Lippen aufgeschlagen? Doch beim Kuss hatten ihre Lippen nicht verletzt gewirkt. War das etwa fremdes Blut? Es trocknete auf ihren Lippen, auf ihrem Kinn, und hier und da entdeckte Lisa weitere Spritzer. Und wer wusste schon, was die schwarze Erde noch alles verdeckte.
Das sind keine Menschen, dachte Lisa wieder, und so seltsam es war, es erschien ihr viel plausibler als die alberne Vorstellung von einem Gangsterboss mit einem Faible für Schlammcatchen. Auch dieser Er war kein Mensch, da war sie sicher.
»Du wirst eine von uns. Ist das nicht fantastisch?« Trotz dieser Begeisterung blieben Sandys Augen kalt.
»Aber wenn ich ...«
»Alles wird gut, mach dir keine Gedanken.« Sandy strich ihr durchs Haar und sah ihr in die Augen. »Irgendwann hättest du eh hergefunden. Ich weiß, was Alex dir angetan hat. Glaub mir, du wärst gekommen, und jetzt bist du eben früher am Ziel.«
»Bist du dir sicher?«, fragte Lisa und wusste nicht, was genau sie damit meinte.
»Aber ja. Und jetzt bereiten wir alles vor. In einer Stunde bist du eine von uns.«
»Gratuliere.« Günni legte Lisa die Hand auf die Schulter, und sie erstarrte. Auch wenn sich keine Kälte in ihr ausbreitete, hatte sie kurz das Gefühl, der Arm würde verdorren. Sie wagte nicht, die Hand abzuschütteln, und es schien ewig zu dauern, bis er sie endlich wieder wegnahm.
Jo raste.