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Alex hatte sich seit fünf Minuten nicht von der Stelle gerührt. Er beobachtete seinen Arm, wie die Wunde verkrustete, und konnte spüren, wie sich darunter neue Haut bildete, wie Muskelfasern wieder zusammenwuchsen. Pochend klang der Schmerz ab, Alex spürte, wie das Leben in seinen Arm zurückkehrte. Es ging so schnell, viel schneller als zu Zeiten, als er noch Mensch gewesen war. Gebissen, jedoch Mensch. Nirgendwo war eine Gasleitung explodiert. Aus dem schwarzen Loch in der Erde, wo der Blutvater gehaust hatte, drang kein Rauch mehr, nur noch der Gestank nach Moder und Kompost.

»Wir müssen los«, sagte Danielle zum hundertsten Mal. »Sie werden uns suchen.«

»Ich weiß«, sagte Alex zum ebenfalls hundertsten Mal und rührte sich nicht. Er saß einfach da und betrachtete sie. Sie war verdreckt, Frisur und Kleidung zerstört, angeschlagen, ein Hauch Furcht lag in ihrem Drängen, Erschöpfung, und doch strahlte sie mehr Erotik aus als jeder herausgeputzte Hollywoodstar auf dem roten Teppich, mehr als jede Tänzerin, die er je an einer Stange gesehen hatte. Ihre Schönheit war unmenschlich, sie hatte ihn überhaupt hierhergebracht. Hätte er sie im Gilgamesch nicht angesprochen, wäre er jetzt nicht in diesem Tunnel. Dann wäre er jetzt zu Hause und würde friedlich schlafen.

Oder alpträumen, dachte er. Es hatte keinen Sinn, ihrer Schönheit die Schuld an seiner Lage zu geben. Sie hatte ihn nicht aus einer heilen Welt gerissen. Anstatt friedlich zu schlafen, stünde er viel eher wieder einmal auf einer Brücke, um sich in den Tod zu stürzen, ohne zu wissen, warum, oder woher dieser Drang zum Selbstmord kam. Ein Drang, den sie ihm erklärt und den er seit Tagen nicht mehr gespürt hatte. Seit er die Schwärze in sich mit seinem Speichel ausgespuckt hatte, wieder und wieder. Zwar hatte sie gesagt, man könne nicht alles erklären, was das Vampirische anbelangt, aber das eine glaubte er nun verstanden zu haben: die Schwärze in ihm, Asche wie die Kreatur aus der Scheune, der verbrannte Blutvater von irgendwo.

»Dann komm jetzt!« Sie hielt ihm die Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen. Lange schlanke Finger, in denen so viel Kraft steckte, dreckig und aufgeschürft, doch keiner der vorn weiß lackierten Fingernägel war abgerissen. Stabil wie die Krallen einer Raubkatze.

Zögernd griff er zu und ließ sich auf die Beine ziehen.

»Küss mich«, flüsterte er mit trockenem Mund, als er vor ihr stand, so nah an ihren vollen Lippen, so nah, dass er ihren Duft nach Gewitter und schwülen Sommernächten über den ganzen Gestank hinweg einatmete. Es war ihr Duft, kein Parfüm, wie er anfangs gedacht hatte.

»Mach keinen Unsinn, wir müssen los«, sagte sie mit rauer Stimme, aber sie blieb vor ihm stehen, die Lippen leicht geöffnet.

»Ich weiß«, sagte er und küsste sie. Er konnte nicht anders, dieses Verlangen war gegen jede Vernunft und so rücksichtslos wie seine jahrelange Sehnsucht nach dem Tod. Ihre Zungen berührten sich, und Alex’ Hände wanderten über Danielles Rücken hinab, packten ihren Hintern und pressten sie an sich. Nichts anderes war mehr wichtig. Sollte die ganze Welt in den Abgrund stürzen, er musste jetzt mit Danielle schlafen. Wenn schon Apokalypse, dann wollte er sie mit einem Orgasmus erleben.

Er krallte sich in ihren Rock und zerrte ihn hoch.

»Nicht hier«, stöhnte Danielle und grub die Hände in sein Haar, schmiegte sich an ihn.

»Wo dann?«

»Wenn alles vorbei ist.«

»Das ist kein Ort.«

»Nicht jetzt.« Sie legte ihm die Hand auf die Brust, stieß ihn aber nicht von sich, sondern fuhr ihm mit den Nägeln über die nackte Haut, kniff ihm spielerisch in die Brustwarzen.

»Aber später ist vielleicht zu spät«, flüsterte Alex, die Lippen ganz nah an ihrem Ohr, und presste sie gegen die kalte Wand des Tunnels. Sein Verstand tobte und schrie, sie mussten weg hier, sofort, aber er hatte keine Kontrolle über seinen Körper.

»Nein.« Danielle krallte die Finger in seine Brust, ihre Augen brannten. »Wir haben keine Zeit.«

»Wir können doch ganz schnell machen.« Alex nestelte an seinem Gürtel herum, öffnete die Schnalle und den obersten Knopf seiner Hose.

»Was ist mit... Lisa?«, fragte Danielle. Sie atmete weiter erregt, doch in ihren Blick hatten sich Traurigkeit und Furcht gemischt. Als hätte sie eine Frage gestellt, die sie nicht stellen wollte, eine Frage als letztmögliche Verzweiflungstat.

Welche Lisa?, wollte Alex im ersten Moment ausstoßen, doch dann tauchte ihr Gesicht aus seiner Erinnerung auf, legte sich über Danielles Züge, und sein Herz schlug heftig, es schmerzte und schien zu zerreißen. Ihm wurde flau im Magen, Angst wallte in ihm auf, doch noch immer wollte er Danielle vögeln. Jetzt sofort, schnell und hart. Und zugleich wollte er losrennen und Lisa retten, er wusste nicht mehr, wovor und warum, er konnte nicht denken, nur begehren, alles, was zählte, war der Augenblick, die Gier nach Befriedigung, aber sein Herz schlug anders, seit Lisas Gesicht in seinen Gedanken aufgetaucht war.

»Ich kann nicht, bevor wir nicht ... Und du auch nicht, das weißt du«, keuchte er und schob mechanisch seine Hose nach unten.

»Ja«, sagte Danielle, die über Jahrtausende von Männern und Frauen bis zur Selbstaufgabe begehrt worden war, ohne je selbst einem Menschen zu verfallen, und die nun einem solchen unbekannten, verzehrenden Verlangen hilflos ausgeliefert war. Sie, die tausendfach Vergötterte, die jedoch nie geliebt hatte und nie wirklich geliebt worden war.

Auch Alex wusste in diesem Moment, dass er sie nie lieben würde, immer nur begehren, das jedoch mit jeder Faser seines Körpers. Dass er Lisa liebte, auch wenn er nicht benennen konnte, warum. Und dass dies alles keine Rolle spielte, solange er nicht von Danielle lassen konnte. Er hatte Lisa vor ihren Augen verraten, und er würde es wieder tun, weil er nicht anders konnte. Dafür hasste er sich und Danielle, und er schrie diesen Hass hinaus, dass er von den Tunnelwänden widerhallte.

Er schrie vor Verzweiflung und drang stehend in Danielle ein, ihre Beine hielt er rechts und links seines Beckens auf den Händen. Sie klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende, eine Kämpfende, krallte die Fingernägel tief in seine Haut, bis Blut hervorquoll. Nicht genug, um auf die Erde zu tropfen, aber dennoch. Immer härter und schneller stieß er zu, bis er schließlich kam, bis sie beide kamen, zusammen, wie stets.

Mit dem Orgasmus schwappte die Angst um Lisa wieder über ihm zusammen, die Angst vor den Vampiren, vor dem Erwachen des Blutvaters. Alex hatte einen Teil von ihm gesehen, nur eine Wurzel, eine der Gliedmaßen, und er hatte nicht die geringste Ahnung, wie viele es waren.

»Lisa«, murmelte er. Sein Kopf drehte sich, die Muskeln in seinen Waden und Armen zuckten unkontrolliert. Er atmete heftig.

»Lass mich wenigstens erst runter, bevor du den Namen deiner süßen Kleinen murmelst«, giftete Danielle.

Ohne eine Entschuldigung zu murmeln, ließ Alex ihre Beine los.

Er nahm die gesamte Welt um sich wieder wahr, nicht nur Danielle, erinnerte sich wieder an alles und schämte sich, dass er seiner Lust nachgegeben hatte. Jetzt, danach, verstand er nicht, warum er sich von ihr hatte beherrschen lassen.

Da hörte er schlurfende Schritte ganz in der Nähe und riss den Kopf herum. Konnten die Vampire sie so schnell gefunden haben?

Doch es war kein Vampir, der sich ihnen näherte. Nur ein paar Schritte entfernt tapste ein Mann mit frischer Platzwunde am Kopf und geschlossenen Augen heran. Sein Hemd war blutbesudelt, die Nase gebrochen. Nur langsam kam er näher; er hinkte und zog ein Bein nach. Mit der erhobenen rechten Hand umklammerte er einen rot lackierten Wagenheber wie eine Keule.

Nach einem Augenblick erkannte Alex den Fahrer, der vorhin versucht hatte, sie zu überfahren. Der Mann bewegte sich vorsichtig wie ein Schlafwandler. Er hatte seine tote Frau zurückgelassen und ließ ein kurzes, abgebrochenes Schnarchen hören. Schritt für Schritt kam er auf sie zu, den Wagenheber noch immer drohend erhoben. Sein Gesicht zuckte, als leide er Schmerzen, Tränen liefen ihm aus den geschlossenen Augen über die Wangen.

Wie hatte er sie gefunden?

»Er träumt«, sagte Danielle, als hätte Alex die Frage laut gestellt. Jetzt konnte auch er ein ganz leises Wimmern hören, der Mann war in Alpträumen gefangen.

Langsam wich Alex zurück, Danielle zog er an der Hand mit. Gegen Vampire hätte er kämpfen können, aber nicht gegen diesen bemitleidenswerten Mann. Selbst wenn er sie mit dem Wagenheber erschlagen wollte - er war viel mehr Opfer des Blutvaters als Alex und Danielle.

Danielle löste sich aus seinem Griff. Sie ging dem Fahrer entgegen, bedächtig und selbstbewusst. Sein Atem wurde heftiger, sein Gesicht war nun völlig von Angst, Schmerz und Wut verzerrt.

»Ganz ruhig. Es ist nur ein Alptraum«, sagte Danielle mit sanfter, eindringlicher Stimme.

Doch der Mann holte mit dem Wagenheber aus, hob ihn weit über die Schulter, um mit aller Wucht zuzuschlagen, und Alex rief: »Vorsicht!«

Trotz der geschlossenen Lider ließ der Mann den Wagenheber genau auf Danielles Kopf niedersausen. Ohne Mühe fing sie den Angriff ab, wand ihm das Werkzeug aus der Hand und umarmte ihn. Sie drückte ihn ganz fest an sich und murmelte immer wieder: »Wach auf. Das ist nur ein Alptraum. Wach auf.«

Der Mann zappelte und schlug um sich, er versuchte sogar, sie zu beißen, aber er konnte ihr nichts anhaben. Alex beobachtete, wie immer mehr Tränen flossen, während das Zucken der Gesichtszüge allmählich abnahm. Er schielte kurz nach unten, bemerkte jedoch keine wachsende Ausbuchtung in der Hose des Mannes.

»Pst. Es ist nur ein böser Traum.«

Die Lider des Träumenden zitterten, während Danielle weiter auf ihn einredete, seine Wangen, der ganze Körper schüttelte sich wie unter einem Weinkrampf. Schließlich hoben sich seine Lider und gaben den Blick frei auf ängstlich hin und her huschende Augen, in denen sich kein Erkennen zeigte. Der Mann nahm seine Umgebung nicht wahr, doch er hörte auf zu zittern. Auch die Augen beruhigten sich, und er starrte leer vor sich hin, fast wie ein Blinder. Er konnte nicht blind sein, er war doch eben noch Auto gefahren!

Danielle küsste ihn auf die Wange, dann auf die Lippen. Ganz sanft, nur ein Hauch, dann ließ sie ihn los. Lächelnd sank der Mann zu Boden, setzte sich einfach in den Staub, lehnte sich an die Tunnelwand und schluchzte vor sich hin. Da er dabei nicht aufhörte zu lächeln, wirkte es fast wie Erleichterung.

»Komm mit«, sagte Danielle zu Alex und deutete weiter in den Tunnel hinein.

»Da lang?«

»Irgendwo dort muss eine weitere Haltestelle sein. Oder ein Lüftungsschacht. Wenn er vom Reichstag gekommen ist, dann kommen die Vampire auch von da. Ich habe keine Lust, ihnen in die Arme zu laufen.«

»Und wenn der Blutvater nur will, dass wir das glauben? Wenn es eine List war?«

»Das müssen wir riskieren.« Danielle lächelte vorsichtig. »Aber das glaube ich nicht. Wir haben ihn verletzt, er ist stinksauer, von seinem ganzen Wesen her rachsüchtig. Und er muss schnell handeln, bevor wir verschwunden sind. Da bleibt keine Zeit für ausgeklügelte Pläne.«

»Aber du bist sicher, dass sie kommen?«

»Was würdest du tun, wenn dich jemand anzündet?«

»Ich ...? Okay, laufen wir.« Alex joggte los, weiter in den Tunnel hinein, Danielle an seiner Seite. Er hätte sonst was dafür gegeben zu wissen, wo sie diesen Blutvater erwischen konnten. Zu wissen, wo Lisa jetzt war. Weiter und weiter eilte er.

Lisa.

Unvermittelt blieb er stehen und drehte sich um. Er sah nach vorn und zurück, hin und her.

»Was ist?«, fragte Danielle.

Lisa, dachte Alex. Sie war alles, was jetzt zählte. Er rannte dahin zurück, wo sie hergekommen waren. Lisa hatte keine Zeit mehr. Wenn es noch nicht zu spät war.

»Hey!«, schrie Danielle. »Hast du mir zugehört? Von da kommen die Vampire!«

»Ja. Und nur sie wissen, wo Lisa ist.« Er stürmte weiter.

»Spinnst du?« Danielle hatte ebenfalls kehrtgemacht, er hörte ihre Schritte, wie sie langsam aufholte.

»Sie wissen, wo der Blutvater ist. Wolltest du kämpfen oder dich verstecken?«

»Idiot!«, knurrte sie. Aber sie folgte ihm weiter durch den Tunnel, den Vampiren entgegen.