35

Sandy saß auf dem Boden und wippte mit dem Oberkörper vor und zurück. Dabei wiederholte sie wieder und wieder, dass sie einen Bruder getötet habe und Er ein strenger Vater sei. Lisa sah ihr bestimmt seit einer Minute dabei zu, vielleicht auch seit zwei oder fünf, und vermied es, den toten Jo anzublicken. Doch immer wieder musste sie zu der schwarzen Tür hinüberschauen.

Dahinter lauerte er, der Vater aller Vampire, jedenfalls hatte sie es so verstanden. Der, der Sandy zu dem gemacht hatte, was sie jetzt war, besessen von Rache und Blutdurst. Er wusste, was Sandy getan hatte, und er wollte sie dafür strafen. Er war so mächtig, dass die starken Vampire vor ihm zitterten. Warum kam er dann also nicht aus dieser Tür getreten? Wartete er darauf, dass Sandy als gehorsame Tochter zu ihm hineinkam, um sich ihre Strafe abzuholen? Oder war es tatsächlich möglich, dass er von alleine nicht herauskonnte?

Lisa starrte auf die schwarze Tür, die vielleicht zwei Meter fünfzig oder drei Meter hoch war und nicht viel breiter als eine normale Wohnungstür. Nach Sandys Worten war er gigantisch, lebte unter ganz Berlin, natürlich passte er nicht durch diese Tür.

»Sandy?«, fragte sie.

»Ich hab ihn umgebracht. Ich hab ihn umgebracht«, murmelte diese ohne Unterlass. Sie reagierte nicht auf Lisa, achtete nicht auf sie oder sonst irgendwas.

Jetzt war ein guter Zeitpunkt zur Flucht, der perfekte Zeitpunkt, aber wieder hielt Lisa irgendetwas zurück. Sie musste Sandy mitnehmen, er würde sie sonst töten, hatte Sandy gesagt.

Aber hatte Sandy nicht auch gesagt, dass er noch nicht erwacht war? Dass seine Zeit erst kommen würde?

Das klang wie das typische Geschwätz eines religiösen Fanatikers oder Irren. Nur hatte Lisa noch nie die Fantasiegebilde eines Irren leibhaftig vor sich gesehen, Vampire inzwischen jedoch schon. Sie schielte zu der schwarzen Tür hinüber, behielt sie im Blick und wartete darauf, dass sie sich öffnete. Doch nichts geschah. Seit Minuten war Jo tot, und nichts geschah.

»Ich habe ihn getötet. Ich habe ihn getötet.« Sandys Murmeln setzte sich in Lisas Ohren fest, bohrte sich in ihr Hirn. Es machte sie beinahe ebenso wahnsinnig wie Jos Knurren zuvor.

»Sandy! Ich geh jetzt.« Lisa erhob sich und machte einen Schritt in Richtung Ausgang.

»Ich habe ihn getötet. Ich habe ihn getötet ...«

»Verdammt! Sandy!«

»Ich habe ihn getötet...«

Lisa ballte die Hände zu Fäusten, schrie, um Sandys Gemurmel zu übertönen, und trat ihr ins Kreuz.

»Autsch!«

»Reiß dich zusammen!«

»Aber ich hab ihn getötet.« Diesmal sah Sandy sie an, starrte nicht mehr wie tot vor sich hin. Bedauern, Entsetzen, Furcht und Verwirrung lagen in ihrem Blick.

»Er wollte mich töten, und er wollte dich töten. Er war wahnsinnig!«

»Er war mein Bruder, und er war durstig«, murmelte Sandy. Sie würgte und beugte sich vor, als wollte sie sich übergeben.

Sofort ging Lisa neben ihr auf die Knie und hielt ihr die Haare aus dem Gesicht, hielt sie fest, wie ihre Mutter es immer getan hatte, als sie klein gewesen war, murmelte beruhigende Worte.

Sandys Stirn war kalt. Sie würgte und würgte, doch sie brachte nichts heraus außer zähen, schleimigen Speichel, durchsetzt mit etwas, das kleine Brocken dunklen getrockneten Bluts sein konnten, soweit Lisa das im schwachen Licht der Halle erkennen konnte. Wahrscheinlich hatte Jo sie mit einem Schwinger irgendwie verletzt.

»Geht’s wieder?«, fragte sie.

Sandy nickte und wischte sich mit der Hand über den Mund. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ist doch alles egal. Er wird uns töten.«

»Das hast du schon gesagt. Aber bis jetzt ist er nicht herausgekommen aus seiner schwarzen Tür.«

»Das muss er nicht. Nicht bevor er erwacht ist«, sagte Sandy und spuckte wieder aus, als hätte sie noch einen widerlichen Nachgeschmack auf der Zunge.

Von seinem Erwachen hat sie eben schon geredet, dachte Lisa. Darüber hinaus hatte Sandy gesagt: Der Blutvater ist nicht nur hier, er ist überall unter Berlin. Aber wenn sie ihn dort draußen in Brand stecken, können sie ihn nicht töten.

Plötzlich waren diese Sätze in Lisas Kopf und ließen sie nicht mehr los. Wenn sie es richtig verstand und es stimmte, dann blieb ihnen tatsächlich Hoffnung. Sandy hatte betont, dass man ihn dort draußen nicht töten konnte. Bedeutete das nicht auch, dass dies im Gegensatz dazu hier gelingen konnte? Hier unten, hinter dieser Tür.

»Und wenn wir ihn zuerst töten?«, fragte Lisa. Ihre Stimme klang leise, piepsig und verloren in der riesigen Halle.

Sandy starrte sie entsetzt an. »Ihn töten? Er ist mein Vater, und in wenigen Minuten wird er deiner ...« Ihre Stimme wurde mit jedem Wort leiser, als glaubte sie nicht mehr daran.

»Er will dich töten, verdammt noch mal!«, brauste Lisa auf. »Du sagst, ich soll Alex nicht schonen, weil er mich wie Dreck behandelt hat, weil er über mich redet, als hätte ich nicht mehr Hirn und Seele als eine gebrauchte Gummipuppe, aber du zögerst bei jemandem, der dich töten will?«

»Er ist nicht irgendjemand, er ist mein Vater, mein Blutvater, er hat mir gezeigt, wie ...« Alle weiteren Worte gingen in Würgen unter. Sandy krümmte sich auf Knien, spuckte und spuckte, und ihr Speichel war fast schwarz.

Lisa war nicht mehr sicher, ob das wirklich getrocknetes Blut war, auf jeden Fall sah es nicht gesund aus. Widerliche, dunkle, zähflüssige Batzen.

»Er will dich töten, verdammt«, sagte sie, während sie Sandy wieder hielt und ihr über den Rücken strich. »Du kannst doch nicht warten, bis er dich holt. Das sprichwörtliche Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird. Das bist du doch nicht.«

»Aber ... ich kann nicht, ich kann ihn nicht töten.« Es klang verzweifelt.

»Wenn du deinen Bruder töten konntest, dann kannst du auch deinen Vater töten!« Lisa bereute diese Worte sofort, doch sie waren heraus.

»Aber es reicht doch, einen Bruder zu töten! Ich muss ja nicht weitermachen!«, schrie Sandy. Sie sprang auf, packte Lisa und presste sie gegen den nächsten Pfeiler. Lisas Hinterkopf schlug schwer gegen Stein, so dass ihr kurz schwindelte. »Du warst doch immer gegen das Töten!«

»Und du für Rache! Er hat Jo zu dem gemacht, was er war. Er ist schuld, dass Jo dich angegriffen hat! Er ist an seinem Tod schuld, nicht du. Du hast dich nur verteidigt! Dich und mich.«

Sandy brüllte und schlug ihre Faust neben Lisas Kopf gegen den Pfeiler. Dumpf traf Fleisch auf Stein. Dann sank sie zusammen, presste die Arme an den Bauch, würgte und spuckte. Wieder und wieder, während Lisa sie von hinten umarmte, festhielt und wie ein Mantra murmelte: »Lass es raus. Nur raus damit.«

Ein schwarzer Klumpen nach dem anderen klatschte auf den feuchten Boden. Kein Mensch konnte so viel Speichel produzieren. Es war, als würde Sandy eine ganze Raucherlunge heraushusten. Lisa wusste nicht, was das war, aber sie war sicher, dass es raus musste. So etwas konnte nicht gesund sein. War das Blut einer inneren Verletzung? Hoffentlich starb Sandy jetzt nicht, nicht in ihren Armen, auch nicht später.

Langsam beruhigte sich Sandy. Sie rappelte sich auf und murmelte: »Du bist verrückt.«

»Verrückt?«

»Weißt du, wie mächtig er ist?«

Lisa lächelte. Sie erkannte den Tonfall der Frage, erkannte in ihm die alte Sandy wieder, oder zumindest eine Andeutung von ihr. »Nein, weiß ich nicht. Wahrscheinlich wäre ich sonst schon längst abgehauen, als ich vorhin die Gelegenheit hatte.«

Sandy lächelte. Es sah gequält aus, aber wenigstens nicht mehr kalt.

»Sieh es einfach so«, sagte Lisa, die von einem plötzlichen Hochgefühl erfasst wurde, einer völlig irrsinnigen Euphoriewelle. »Wir sind zu zweit, und er ist ganz allein.«

»Sagte die eine Maus zur anderen, als sie sich gemeinsam auf den Tiger stürzten.«

»Du bist keine Maus«, sagte Lisa. »Und wir wissen, dass er durch Feuer verwundbar ist, oder?«

Sandy nickte und sah sie erstaunt an. Die Kälte war fast aus ihrem Blick gewichen. »Du weißt wirklich mehr, als ich dachte.«

Dann eilten sie durch die weitläufige Halle, trugen alle Fackeln, Kerzen und Laternen herbei, sammelten sie vor der schwarzen Tür und zündeten jede an, die nicht brannte. Dabei erklärte Sandy Lisa, dass sich hinter der Tür nur ein einziger übersichtlicher Raum befand und dass sie den Blutvater erst mit einem Pfahl im Boden festnageln mussten, bevor sie ihn in Brand setzen konnten.

»Einem Pfahl? Aus Holz?«

»Das ist egal. Lass uns irgendeine Fackel nehmen, am besten eine von diesen langen mit dem Metallrohr. Das Material spielt keine Rolle, Hauptsache, wir kriegen es durch ihn durchgerammt.«

Lisa nickte schweigend, langsam verblasste die Euphorie. Sie holten die Bank aus der Nische, auf der sie gesessen hatte, und brachen sie entzwei. Das alte, trockene Holz würde ausgezeichnet brennen.

»Wie wollen wir an ihn rankommen?«, fragte Lisa und ließ den Blick über die Laternen schweifen. Ihre Flammen waren so hilflos klein.

»Ich bring dich einfach zu ihm, gefesselt, als wäre nichts geschehen.« Sandy zerrte Jos Hose von seinen Beinen und riss sie in Streifen.

»Und dann?«

»Hoffen wir, dass wir ihn lange genug ablenken können, bis wir bei seinem Herz angelangt sind.«

»Wir hoffen ...?«, murmelte Lisa.

»Ja. Mehr als hoffen bleibt uns nicht.«

»Und was ist mit ihm?« Lisa nickte in Richtung Jo, vermied aber, ihn anzusehen.

»Keine Ahnung. Wir erwähnen ihn gar nicht.«

»Ich denke, er hat seinen Tod gespürt?«

»Ja. Aber vielleicht irritiert unser selbstverständliches Schweigen ihn lange genug, bis wir zuschlagen können.«

»Vielleicht.« Lisa nickte und biss sich auf die Lippe. Das war mit Sicherheit kein sonderlich raffinierter Plan, aber es klang vielversprechender, als schreiend und mit brennenden Fackeln in den Händen hineinzustürzen.

Lisa fragte nicht, warum Sandy jetzt doch bereit war, ihren Blutvater zu töten. Sie befürchtete, dass sie ihre Meinung wieder ändern könnte, wenn sie darüber nachdachte, dass sie ihre Loyalität wiederentdeckte oder ihre Angst vor ihm.

»Ich hab dich belogen«, sagte Sandy leise, als sie alles zusammengetragen hatten.

»Belogen? Lässt du mich jetzt doch im Stich?«

»Unsinn. Du hast mich vorhin gerettet, du bist meine Freundin und nur meinetwegen hier. Nein, wegen Alex hab ich dich belogen. Er hat nichts von dem gesagt, was ich dir erzählt habe. Er ist sicher nicht normal im Kopf, aber auf irgendeine verquere Art liebt er dich. Was das mit dieser Nephilim vor deinen Augen sollte, weiß ich nicht, aber er hat so einen seltsamen Rettertick dir gegenüber, er wollte dich vor mir warnen. Vor uns Vampiren. Ich kann dir nicht sagen, was er genau für dich empfindet, nicht einmal, was er ist. Er ist kein Mensch, das ist klar, aber auch kein richtiger Vampir. Vielleicht ein Vaterloser, aber ich weiß doch selbst viel zu wenig, ich war ja nur ein paar Tage ...« Sandy zuckte mit den Schultern. »Das ist jetzt alles egal. Ich wollte nur sagen, dass ich dich angelogen habe.«

»Warum ...?«

»Weil ich wollte, dass du eine von uns wirst.«

»Nein. Warum sagst du es mir jetzt?«

»Weil ich nicht sicher bin, ob ich nachher noch kann. Besser, ich werde das los, bevor wir uns in den Tod stürzen. Das war die letzte sichere Gelegenheit dazu. Du solltest es einfach wissen. Es tut mir wirklich leid.«

»Schon gut.« Lisa atmete schwer durch. Darüber würde sie nachher nachdenken, sofern es ein Nachher gab. Nein, nicht sofern. Es würde eins geben, es musste einfach. »Wir werden nicht sterben.«

»Ich hoffe es. Aber ich weiß nicht, was mit mir geschieht, wenn mein Vater stirbt.«

Lisa krampfte es Herz und Magen zusammen. An diese Verbindung hatte sie noch gar nicht gedacht. Sie klappte den Mund auf, brachte jedoch kein Wort heraus, sah Sandy einfach nur flehend an und schüttelte den Kopf, als könnte sie damit den Gedanken aus der Welt wischen.

»Jetzt komm schon. Wir werden es herausfinden«, sagte Sandy und bemühte sich um einen leichten, lässigen Tonfall. »Dreh dich um, gib mir deine Hände.«

Noch immer bedröppelt von der Vorstellung, Sandy würde sterben, ganz egal, wie dieser Kampf ausging, gehorchte sie. Sandy packte ihre Hände und fesselte sie mit Streifen von Jos Trainingshose an eine mannshohe verlöschte Fackel, die bis vor kurzem noch am Kopf der Halle in der Erde gesteckt hatte. Sie zog das Seil nicht fest, machte nur einen schwachen Knoten, und doch fühlte sich Lisa plötzlich hilflos. Angst kroch ihr unter die Haut.

Was, wenn Sandy ihre Entscheidung doch wieder umwarf und Lisa einfach ihrem Blutvater übergab, wie sie es die ganze Zeit vorgehabt hatte? Möglicherweise hoffte sie, ihn so zu besänftigen und sich ihr Leben zu erkaufen. Wenn sie bei einem Sieg über ihren Vater tatsächlich starb, wäre das ihre einzige Hoffnung zu überleben.

Lisas Mund war trocken, sie wusste nichts zu sagen. Es war ohnehin zu spät. Wenn das hier keine List gegen den Blutvater war, sondern die perfide Vorbereitung auf das Ritual, gegen das sie sich die ganze Zeit gewehrt hatte, oder wenn er ihre List sofort durchschaute, dann stand sie in wenigen Sekunden gefesselt und wehrlos vor ihm. Das Eisen der Fackel lag kühl auf ihrer Haut, die Pulsadern in ihren Handgelenken pochten wild, und die locker gebundenen Stoffstreifen schienen schwer zu sein wie die Kette um Jos Hals.

»Ist es zu fest?«, fragte Sandy.

Lisa schüttelte stumm den Kopf.

»Gut. Dann wollen wir.«

Lisa versuchte, sich innerlich zu wappnen. Trotz aller hastiger Beschreibungen von Sandy wusste sie nicht, was sie erwartete, wusste nicht, wie der Blutvater aussah. Ein Wesen, das unter ganz Berlin lebte, konnte kaum menschliche Formen haben, konnte nicht aussehen wie seine bluttrinkenden Kinder. Mehr Zeit für Erklärungen blieb jedoch nicht, er konnte jederzeit erwachen, sobald Sandys Geschwister die Nephilim erwischt hatten. Jederzeit konnten die ersten Vampire zurückkehren, oder es konnte einer auftauchen, der die Erschütterung gespürt hatte, jedoch nicht wusste, wo Alex und die Nephilim zu jagen waren, und sich deshalb einfach hierher begab.

Mit einem grimmigen Nicken öffnete Sandy die Tür, und Lisa folgte ihr durch einen kurzen Flur in einen Raum, der vielleicht zehn oder fünfzehn Meter durchmaß. Die Wände waren einfach aus der Erde gegraben und hielten ohne jede sichtbare Stütze, auch die Decke rieselte nicht herab. Wahrscheinlich wurden sie von einem dichten Wurzelgeflecht gehalten oder von einem vergrabenen Gestänge. Vier Laternen hingen in den Ecken und tauchten alles in ein schwaches Licht.

Nichts erinnerte an einen kultischen Raum, wie Lisa ihn aus Kirchen, Tempeln oder dem Fernsehen kannte, es gab weder einen Altar noch irgendwelche Schriftzeichen oder Bilder an den Wänden. Nichts, was der Verehrung oder Huldigung des Blutvaters diente. Dies war viel weniger ein Kultraum als die Halle, aus der sie kamen. Er war nicht für ihn errichtet worden, sondern für seine Kinder, damit sie zu ihm gelangen konnten. Er war der Boden des Raums.

Es sah aus, als wäre dort ein Wesen mit dem Bauch nach oben vergraben worden, das an eine riesige Spinne mit unendlich langen Beinen erinnerte und zugleich an eine runzlige, schwarze Krake. Der Boden hob und senkte sich langsam, als würde er atmen. Aus ihm wuchsen zahlreiche Gliedmaßen, die an haarige Beine erinnerten, an die schlangengleichen Arme eines Tintenfischs oder die knorrigen Wurzeln eines alten Baums. Die meisten gruben sich neben dem Wesen in die Erde, zwei oder drei führten quer durch den Raum in die Decke hinauf, dicker als das Bein eines Elefanten, und einige kürzere ragten einfach nur reglos in die Höhe und schienen zu warten. Ein bizarres Durcheinander aus endlosen, teils zuckenden, teils reglosen Gliedmaßen.

In der Luft hing ein leises Schlürfen und Saugen, ein Schmatzen und Gurgeln. Leise, ganz leise, wie ein fernes Echo, die Ahnung vergangener Geräusche, die sich in der schweren, modrigen Luft festgesetzt hatten.

Es legte sich wie eine Eisschicht auf Lisa. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht zu schreien, so kalt und lähmend war diese eingebildete Berührung eines Geräuschs. Das atmende Ding im Boden strahlte so viel Wut, Hass, Trauer und Rachedurst aus, dass Lisa nicht weiterlaufen wollte. Ihre Füße blieben einfach stehen, doch Sandy stieß sie grob voran.

Am hinteren Ende des Raums ragte ein flacher Kopf aus der Erde, der Charakteristika von Käfer, Mensch und Hammerhai vereinte und dessen Augen ein Narbengewulst aufwiesen, als hätte ihnen jemand die Lider abgeschnitten. Es waren menschliche Augen ohne Iris und Pupillen, leblose weiße Flächen von Tellergröße. Der Kopf steckte auf einem langen Hals. Vier Zangen wie von Spinnen oder einem grotesken Käfer umgaben das breite Maul, das mit mehreren Reihen spitzer weißer Zähne gespickt war.

Aus der Decke hingen Wurzeln und wurmartige Dinge, die sich ihnen zuwandten, als sie den Raum betraten. Lisa verfluchte sich, dass sie nicht einfach davongerannt war. Sie wusste nicht, ob sie mehr Ekel oder Angst empfand.

»Vater, hier ist die Neue!«, intonierte Sandy, und Lisa hoffte verzweifelt, dass es wirklich die besprochene List war.

Sie durfte keine Angst haben, sie durfte nicht. Immer wieder sagte sich Lisa das lautlos vor. Sie durfte sie nicht zeigen, sich nicht von ihr lähmen lassen. Sie musste bereit sein zu handeln. Nur darauf kam es an. Ihre Knie waren so wacklig, dass ihre Beine einzuknicken drohten. Plötzlich war die Fackel, die an ihre Hände gefesselt war, unendlich schwer und drückte sie beinahe zu Boden.

»Ja, sie ist gefesselt«, antwortete Sandy auf eine Frage, die nur sie gehört hatte. »Sie hat sich plötzlich gewehrt, ein unvorhersehbarer Sinneswandel. Als Jo ausgerastet ist, wollte sie fliehen.«

Lisa vernahm nichts außer dieser Ahnung eines Schlürfens und spürte wachsenden Druck auf den Ohren. Blut rauschte in ihnen, irgendwas presste auf ihren Gleichgewichtssinn. Trotzdem tippelte sie einen winzigen Schritt weiter in den Raum hinein. Sie hatte das Gefühl, von jeder Wurzel und jedem Wurm beobachtet zu werden, gemustert wie ein sorgsam angerichtetes Buffet.

»Ich weiß nicht, warum. Es tut mir leid, Vater.« Sandy hatte den Kopf gesenkt und machte einen weiteren Schritt nach vorn, drängte Lisa weiter auf den bizarren Kopf mit den Insektenscheren zu. »Er ist tot, ja. Es musste sein, er hätte uns beide getötet, und es schien mir sinnvoller, dass Ihr nur ein Kind verliert und nicht zwei. Ich habe alles versucht, um ihn zur Vernunft zu bringen.«

Wieder einen winzigen Schritt voran, und noch einen. Eine der Scheren öffnete sich, eine Wurzel verfing sich in Lisas Haar, sie wanderte über ihre Kopfhaut wie der tastende Rüssel einer Fliege, nur war die Wurzel um vieles größer. Lisa schrie nicht, doch sie konnte nicht verhindern, dass sie zusammenzuckte.

Immer mehr Wurzeln und wurmartige Dinger, dünn wie Schnürsenkel oder dick wie ein Schiffstau, tauchten aus der Erde in den Raum, schwangen um sie herum wie ein neugieriger Schwarm, betasteten sie.

Lisa achtete nicht mehr auf das, was Sandy sagte, sie versuchte alles zu verdrängen, um nicht auszurasten und irr sabbernd zu Boden zu stürzen. Sie konzentrierte sich nur auf das, was sie zu tun hatte. Der atmende Boden unter ihren Füßen fühlte sich an wie die schuppige Haut eines Reptils, sie versuchte nicht daran zu denken, über was sie da schritt. Sie spürte sein Auf und Ab, das Vibrieren und das Schlagen eines Herzens. Immer deutlicher konnte sie es wahrnehmen, es war unangenehm, genau darauf zuzulaufen. Sein Herzschlag setzte sich in ihr fort wie ein Schlag, den man auf den Musikantenknochen erhielt. Ihr ganzer Körper vibrierte stechend im Rhythmus seines Herzens.

Das Maul erwartete sie, alle vier Scheren waren nun geöffnet, waren bereit, sie zu umarmen. Lisa ließ die Furcht nicht an sich heran, achtete nur auf das Pochen unter ihren nackten Fußsohlen.

Und dann, als sie das Herz des Blutvaters überquert hatte, als sie gerade einen halben Schritt darüber hinweg war, umklammerte sie mit beiden Händen die Fackel, sprang hoch und zog die Beine an.

In den toten weißen Augen der dämmernden Kreatur zeigte sich keine Reaktion, doch die Scheren schnappten zu, dem Maul entwich ein Zischen.

Zu spät.

Die Spitze der Fackel, mit der sie bis vor kurzem noch in der Erde gesteckt hatte, traf auf die Brust der Kreatur, direkt über dem Herzen. Mit aller Kraft hielt sich Lisa fest, legte all ihr Gewicht in den Stoß mit diesem improvisierten Speer. Sie schrie auf, als die Fackel auftraf und das Seil in ihr Fleisch schnitt. Sie brüllte und wünschte nichts sehnlicher, als dass sich die Fackel durch seine Haut bohren mochte, hinein in sein Herz. Ein Herz, das eigentlich aus Stein sein müsste.

Auch Sandy hatte zugegriffen und drückte den Eisenpfahl mit aller Macht auf die schuppige Haut oder den Panzer der Kreatur. Es knackte, und die Fackel drang hinab, bohrte sich in das schlagende Herz. Zähflüssiges Blut spritzte heraus, ergoss sich heiß und beißend über Lisas gefesselte Hände und ihren Rücken. An die Fackel gebunden, sackte sie mit ihr hinab, saß schließlich auf dem Boden, dem Bauch des Blutvaters, und zerrte an dem lockeren Knoten, riss sich die Stoffstreifen von den Händen und mit ihnen ein paar Hautfetzen. Der Pfahl war gesetzt, sie musste raus zum wartenden Feuer. Der Boden atmete, das Blut auf ihren Händen brannte. Panik packte sie, sie wollte weg, fort von hier. Sie kämpfte sich auf die Beine, Reste der Fesseln noch um das rechte Handgelenk geschlungen.

Die bizarren, saugenden Wurzeln und die wurmartigen Gliedmaßen schlugen nach ihr, peitschten ziellos und wild umher. Die Kreatur zuckte und schrie. Sie schrie, dass es die ganze Stadt im Mark erschüttern musste, so viel Schmerz und Wut, Leid und Hass steckten in dem Schrei. Hunderttausend Tode und zahllose Alpträume steckten in diesem Schrei, ein Schrei wie ein Sturm, und er traf Lisa mit ungeheurer Wucht. Sie wurde von ihm umgerissen und hatte das Gefühl, ihr Kopf müsste platzen. Vollkommen benommen lag sie auf dem Boden, der noch immer atmete, sich noch immer hob und senkte und nicht sterben wollte.

Irgendwas schlug nach ihr, riss ihr die Kleider in Fetzen und Striemen in die Haut, die Haut vom Fleisch und Haar vom Kopf. Ihr ganzer Körper fühlte sich taub an, sie konnte sich nicht wehren, nur alles über sich ergehen lassen.

Sie wurde gepackt und über den Boden geschleift, der mit jedem Augenblick heftiger atmete. Etwas zerrte sie zum Ausgang, etwas anderes schlang sich um ihren Knöchel und hielt sie fest. Sie strampelte, schlug um sich, konnte das Ding um ihren Knöchel abschütteln, presste die Hände auf die Ohren und schrie ebenfalls. Auch wenn ihre Brust zu bersten schien, klang ihr Brüllen furchtbar dünn und leise.

Und dann war sie endlich draußen. Sie wusste nicht, wie und warum, doch der Schrei des Blutvaters verebbte, und die Taubheit fiel von ihr ab. Keuchend kämpfte sie sich auf die Knie. Neben ihr brach Sandy zusammen.

»Feuer«, hauchte sie noch.

»Nein«, keuchte Lisa.

»Feuer.« Ganz leise. »Jetzt.«

»Hilf mir«, verlangte Lisa und zog sich an einer Mauerritze auf die Beine, doch Sandy schwieg.

Bring es zu Ende, knurrte etwas in Lisa, bring es erst zu Ende!

Sie packte die nächste brennende Laterne, schmetterte sie durch die offene Tür in den Raum, der der Blutvater war. Dann schleuderte sie eine Fackel hinterher, noch eine und noch eine, und dann die zerbrochene Holzbank. Sie riss Fotos von den Wänden, Papier brannte gut, knüllte sie zusammen, warf sie hinein. Und wieder Laternen und Fackeln, Fetzen ihrer Kleidung, alles, was sie finden konnte.

Zischend fingen die Wurzeln Feuer, die wurmartigen Dinge auch. Qualm drang heraus.

Mit letzter Kraft stürmte sie wieder hinein, drei brennende Fackeln in der einen Hand, zusammengeknüllte Fotografien in der anderen. Alles zusammen warf sie direkt auf das durchbohrte Herz. Das herausströmende Blut der Kreatur fing Feuer, als wäre es Öl.

Plötzlich brach ein riesiger Tentakel durch die Wand, doppelt so dick wie Lisa selbst, und rammte sie zu Boden. Sie rollte sich ab, krabbelte panikerfüllt Richtung Ausgang, hörte, wie das Ding hinter ihr zu Boden klatschte, dumpf und schwer. Und sich nicht mehr rührte.

Flammen prasselten hinter ihr, eine Hitzewelle fuhr über sie hinweg, und Lisa krabbelte keuchend und hustend in die Halle hinaus.

Sandy hatte sich auf den Bauch gewälzt, würgte und brüllte vor Schmerz. Lisa packte sie, umklammerte ihren Bauch und drückte zu. Sandy übergab sich, schwarzer, blutender Moder schwappte aus ihr heraus, der dampfend auf die Erde klatschte. Er schien innerlich zu glühen wie Magma. Sie würgte und spuckte anderes hinterher, dann brach sie zusammen.

»Sandy!«, keuchte Lisa, doch ihre Freundin rührte sich nicht mehr. »Sandy! Nein!«

Sandy zuckte mit der Hand. Sie lebte!

»Erschreck’ mich nicht so«, knurrte Lisa und packte sie an den Armen, zog sie quer durch die Halle, fort von dem Raum, aus dem immer mehr schwarzer stinkender Qualm drang. Sie mussten weg, bevor das Feuer herausdrang, bevor sie sich eine Rauchvergiftung holten. Meter um Meter schleppte sie sich und ihre Freundin voran, bis hinüber zur Treppe am Ausgang.

»Hier krieg ich dich nicht rauf.« Lisa atmete schwer, beugte sich nach vorn, die Hände auf die Knie gestützt. Sie konnte nicht mehr, es ging nicht mehr weiter, nicht, wenn sie Sandy tragen musste. »Ich bin zu schwach.«

»Danke«, murmelte Sandy.

»Nix danke! Es ist noch nicht vorbei. Wir müssen weiter«, schimpfte Lisa und zerrte an Sandys Arm. »Sonst bringt uns der Qualm um.«

Ganz langsam rappelte sich Sandy auf. Sie schwankte, hielt sich am Geländer fest. Lisa stellte sich hinter sie, gab ihr Halt und schob sie halb die Treppe hinauf. Oben taumelten sie Arm in Arm wie zwei Betrunkene weiter, in Schlangenlinien dem Ausgang entgegen. Voller Dreck und Blut und halbnackt, der größte Teil ihrer Kleidung hatte ja das Feuer gefüttert.

»Geht’s? Brauchst du einen Arzt?«, fragte Lisa.

Sandy schüttelte den Kopf und lachte. »Ich bin ein Vampir. Wir wollen den guten Arzt mal nicht überfordern.«

Zwar begriff Lisa nicht, was das bedeutete, aber sie sparte sich eine Bemerkung und sagte nur: »Dann lass uns heimgehen.«

»Ich lebe!«, schrie Sandy. »Verdammt noch mal, ich bin nicht mit ihm draufgegangen!«

Tränen lachend und keuchend wankten sie weiter. Der nächste Taxifahrer würde sich freuen, sie zu sehen.