27
Kaum hatte Danielle Alex die Tür geöffnet, fiel er ohne ein Wort der Begrüßung über sie her. Er wollte es nicht, er wollte Lisa retten, doch er konnte nicht anders, er war seiner Gier vollkommen ausgeliefert.
»Nein, keine Zeit«, keuchte Danielle, während sie ihn dennoch umklammerte, ihn begierig küsste und mit ungeduldigen Fingern an seinem Gürtel zerrte. Sie trieben es schnell und wild, im Flur gegen die Wand gepresst, aber diesmal gingen wenigstens keine Möbel zu Bruch.
»Hast du was rausgefunden?«, fragte Alex danach. Noch immer keuchend knöpfte er sich die Hose zu und setzte sich an den Küchentisch, um was zu trinken.
»Nein«, antwortete Danielle und ging auf die Toilette. Sie ließ die Tür offen. »Es gibt viel zu viele Wege ins unterirdische Berlin, zu viele Kellerräume, zu viele verlassene Bunker und U-Bahntunnel, ganz zu schweigen von der verzweigten Kanalisation. Wir brauchen Tage oder Wochen, wenn wir auf gut Glück suchen.«
Alex hörte nicht richtig zu. So viel Zeit hatte Lisa nicht mehr, keine Tage, und schon gar keine Wochen. Vielleicht hatte sie nicht einmal mehr Stunden. Erschöpft stützte er den Kopf in die Hände und dämmerte weg.
Kaum hatte er die Augen geschlossen, träumte er von Rom, dem historischen Rom. Eine bunte, prachtvolle Stadt im heißen Sommer, lebendiges Gewühl auf den abendlichen Straßen, preisende Händler, Handwerker auf dem Weg in die Taverne, Sklaven auf dem Botengang, verhangene Sänften und eilige Kutschen.
Über allem thronte der kaiserliche Palast, und in ihm wurde Nero von einer wunderschönen Frau verführt, umgarnt, geküsst und berührt. Danielle. Sie flüsterte mit vollen Lippen in das Ohr des Herrschers, er müsse die Blutmutter töten, und dafür müsse er sie verbrennen. Nur die verzehrende Flamme könne der Blutmutter ein Ende bereiten.
Aber wo ist diese Blutmutter denn?, fragte Nero, halb wahnsinnig vor Verlangen.
Ich kann dir das Viertel nennen, aber mehr weiß ich nicht, hauchte Danielle und bestieg den Kaiser. Aber es bliebe nicht viel Zeit. Die Blutmutter sei Rom, sie sei das Wurzelgeflecht unter der Stadt, eins mit der Heimaterde.
Dann will ich auf Nummer sicher gehen, stöhnte Nero, rief kopulierend seinen Leibsklaven herein und befahl ihm, das ganze genannte Viertel niederzubrennen. Die Holzbuden am Circus Maximus wären ein wundervoller Brandherd. Und Danielle lächelte ein irres, intrigantes Lächeln, ihre Augen glommen vor Zerstörungslust.
Während Nero und Danielle es weiter trieben, ging vor dem Fenster die Sommersonne unter. Glühend roter Schein loderte zwischen den Straßen auf, Schreie wurden laut und Flüche, Menschen flohen, brannten, trampelten sich in Panik nieder und ...
»Alex!« Danielle rüttelte ihn am Arm. »Hey! Alex!«
Er schreckte hoch. »Was ist? Was?«
»Was tust du da?«
»Ich bin kurz eingenickt.«
»Eingenickt? Jetzt? Wie kannst du jetzt schlafen?«
»Ich weiß nicht, ist mir vorhin schon mal passiert.« Alex erzählte ihr, wie er auf der Flucht von plötzlicher Müdigkeit und einem Alptraum gepackt worden war, wie er unvermittelt gestolpert war und seine Augen nicht mehr hatte öffnen können, wie die Wände auf ihn eingestürzt waren. Von dem neuen Traum erzählte er nichts, darüber wollte er erst nachdenken.
Was, wenn es zwar Vampire gab, und seinetwegen auch Nephilim, aber keine Blutväter, und Danielle einfach wahnsinnig war? Eine Pyromanin, die mit größtem Vergnügen andere zur Mittäterschaft anstiftete, einfach weil sie sehen wollte, wozu sie die ihr verfallenen Männer treiben konnte? Wenn sie Sodom grundlos niedergebrannt hätte, wie auch Rom, und nun ihn dazu bringen wollte, Berlin abzufackeln? Das klang ziemlich schräg, aber er wusste noch immer nicht, wie weit er ihr vertrauen konnte. Bislang zumindest hatte er sie bei keiner Lüge ertappt. Das eben war nur ein Traum gewesen, ein dummer, harmloser Alptraum.
Danielle riss den Küchenschrank auf, holte eine Packung Kaffee heraus und drückte Alex einen Löffel in die Hand. »Iss!«
»Was?«
»Das hält dich wach. Was Besseres hab ich nicht da, kein Koks, keine Amphetamine, kein Ephedrin, ich brauch das ja nicht.«
Alex nahm einen Löffel Kaffeepulver in den Mund. Es schmeckte widerlich bitter, und er spuckte es sofort ins Spülbecken. Er spuckte und spuckte, bis alles Pulver draußen war. Dabei stellte er fest, dass sein Speichel kaum schwarz war, abgesehen vom Kaffee.
»Ich koch mir den Kaffee lieber«, brummte er.
»Mach ihn aber stark. Drei Löffel pro Tasse, und das langt nicht.«
»Ja, ja.«
»Er erwacht«, sagte Danielle. Ihre Stimme klang müde, als sie wiederholte, was sie ihm schon einmal erklärt hatte: »Blutväter senden üblicherweise Träume ohne Ziel in die Nacht, dunkle Nachtmahre. Geboren aus dem Blut und den Tränen, die sie trinken, eine Art unsichtbarer Nebel, der jeden befällt, der gerade anfällig dafür ist. Jeden einsamen, betrogenen, verängstigten, trauernden Schlafenden. Alpträume, die wache Menschen oder Vampire mit in ihre Welt zerren können, treten erst dann auf, wenn der Blutvater langsam erwacht. Seine Vampire sind hinter dir her, und somit auch seine Alpträume.« Sie wartete einen Moment, doch als er schwieg, fuhr sie fort: »Ich weiß nicht, wie die Träume dich finden, ob sie dazu die Augen eines Vampirs brauchen, aber sie werden alles tun, dich in den Schlaf zu zerren.«
Das klang absurd, trotzdem warf er gleich noch einen gehäuften Löffel Kaffee mehr in die Maschine. Betrogene und Verängstigte gab es in einer Stadt wie Berlin genug. Genügend Futter für einen Blutvater. »Dann erwacht er jetzt? Willst du dann nicht endlich andere Nephilim zu Hilfe rufen wie damals in Sodom?« Warum hatte er nicht früher daran gedacht? Warum hatte sie nicht daran gedacht?
»Nein, ganz im Gegenteil, ich habe alle gewarnt, die ich kenne und erreicht habe. Je mehr Nephilim in Berlin sind, umso leichter fällt es ihnen, das Blut eines Nephilim zu vergießen.«
»Und was war in Sodom? Da hast du dir keine solchen Gedanken gemacht!«
»In Sodom war der Blutvater bereits erwacht.«
»Aber das geschieht hier doch gerade! Wären wir mehr, könnten wir die verdammten Vampire einfach überrennen! Uns ihnen stellen, ich hätte nicht vor dreien davonradeln müssen!«
»Und irgendwer von uns stirbt dabei oder wird auch nur verletzt, und sein Blut versickert in der Erde, und der Blutvater erwacht. So ein Kampf hilft ihm doch nur! Das ist doch genau das, was er will!«
»Soll er doch erwachen! Erschlagen wir ihn einfach im Freien und nicht unter der Erde! Das macht doch keinen Unterschied.«
»Du hast keine Ahnung.« Danielle setzte sich und hielt sich die Hände vor das Gesicht, rieb sich die Augen. Dann hob sie den Kopf und sah ihn an. »Du hast keine Ahnung, wie groß er ist. Die ganze Stadt ist damals niedergebrannt. Willst du das? Drei Millionen Tote, wenn wir ihn besiegen. Mit viel Glück nur zwei.«
Alex starrte sie an und schüttelte stumm den Kopf.
Drei Millionen Tote.
Lisa, Koma, Jens, Mela und so weiter. Ihm wurde übel. Erst jetzt, als sie die Zahl ausgesprochen hatte, wurde ihm wirklich bewusst, was sie hier versuchten. Drei Millionen Menschen, das war verrückt. Das war eine Zahl, die man sich nicht vorstellen konnte.
Alex hatte plötzlich Bilder von beiden Weltkriegen im Kopf, fallende Bomben und Rauchwolken in Schwarz-Weiß, eine mittelalterliche Miniatur der Pest und dieses berühmte Gemälde mit der Frau, die auf einem Monster ritt. Den Vesuvausbruch. Kein Bild von einem Brand.
Nein, es müssten mehr überleben, so schnell breitete sich kein Feuer aus, die Leute müssten fliehen können. Heutzutage war doch alles viel weiter entwickelt als damals in Sodom, es gab eine professionelle Feuerwehr und Pläne für jede Art Notfall. Ein ausgeklügeltes Warnsystem. Man musste die Stadt vorher evakuieren! Sein Mund war trocken, als er sich die erste Tasse Kaffee einschenkte, er brachte nur ein Wort heraus: »Evakuieren.«
»Und wie? Mal eben bei der Polizei anrufen und sagen, da erwacht ein gigantisches bluttrinkendes Wesen unter Berlin. Wir würden es gern stoppen, und zwar mit Feuer. Könnten Sie bitte schon mal die Evakuierung der Stadt einleiten? Besten Dank.«
Alex konnte nicht lachen, Traumbilder vom brennenden Rom spukten durch seinen Kopf, brennende Menschen, verkohlte Leichen, unkenntlich, und doch wusste er genau, welcher seiner Freunde sich hinter den reglosen, schwarzen Stümpfen verbarg.
»Und wenn du auch gehst?«, fragte Alex. »Wenn du sofort verschwindest, so dass kein einziger Nephilim mehr in Berlin ist? Dann gibt es kein Nephilimblut, und er kann überhaupt nicht erwachen.«
»Wir sind Einzelgänger«, erinnerte ihn Danielle. »Es ist nicht so, dass ich von allen eine Handynummer gespeichert habe oder dass wir irgendwo ein schwarzes Brett mit Aushängen haben. Ich weiß nicht, ob sich gerade nicht doch noch ein Nephilim in Berlin aufhält, oder ob nicht einer vorhat, nächste Woche herzukommen. Es ist ’ne tolle Stadt zum Vögeln.«
»Verdammte Vögelei«, brummte Alex und rührte in seiner Tasse herum. Auch wenn er sonst nie Milch nahm, jetzt schon; das kühlte den Kaffee schneller ab, und je früher er das Koffein intus hatte, umso besser. Und viel Zucker, Zucker gab Energie.
»Wenn seine Vampire schon auf der Suche nach einem Nephilim sind, gibt es kein Zurück mehr. Zur Not suchen sie auch in anderen Städten, fahren mal schnell nach Hamburg, Warschau oder Prag, ist ja alles nicht weit. Irgendwann finden sie einen«, ergänzte Danielle. »Nein, wir müssen ihn jetzt stoppen, und zwar schnell. Schon jetzt treiben seine Träume jede Nacht jemanden in den Tod, der Blutdurst seiner Vampire wächst, und das wird nicht weniger werden.«
»Kann man denn nicht anhand der Verbrechen herausfinden, wo sein Herz ist? Da, wo das meiste Blut in der Erde versickert?«
Danielle verneinte. Der Blutvater war nicht für alle Verbrechen verantwortlich, viele geschahen ohne sein planendes Eingreifen, er ernährte sich nur von ihnen und bereitete weiteren den Boden. Wenn jemand durch ihn von Wut oder Rachefantasien übermannt wurde, dann tötete er sein Opfer da, wo es sich gerade aufhielt. Sicherlich konnte es Fälle geben, in denen der Blutvater regelrecht gefüttert wurde, doch wie sollten sie diese Taten voneinander unterscheiden können?
Alex nippte vorsichtig an der Tasse, verbrannte sich die Lippen, pustete und trank noch einen Schluck. Er spürte das Koffein durch seinen Körper kribbeln, aber das Gefühl verebbte rasch wieder. Er nahm einen weiteren Schluck, und dann noch einen. Danielle erklärte ihm, dass sie auch in der Berliner Historie nichts gefunden hatte.
»Manchmal wurde in den Anfangstagen einer Stadt ein Opfer dargebracht oder ein Verbrechen begangen. Dieser erste Tote kann so etwas sein wie der Grundstein des Blutvaters, wenn er ohne Begräbniszeremonie in der Erde verscharrt wird, namenlos und ohne dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden. Angehörige, die vergeblich nach Rache schreien, ihre Tränen und das Blut des Toten - diese Mischung führte nicht selten zur Geburt eines Blutvaters. Blutige Kämpfe um den Herrschaftsanspruch, eine tödliche Fehde unter den ersten Siedlern oder ein vergessenes Schlachtfeld unter den Steinen der ersten Häuser. Bei Berlin habe ich nichts Entsprechendes gefunden. Die Stadt ist aus sieben unabhängigen Städten und zahlreichen Landgemeinden und Gutsbezirken zusammengewachsen. Unter welchen soll ich da suchen, in welchen Annalen? Das meiste aus der frühen Zeit im 13. bis 15. Jahrhundert ist nicht überliefert, und ich habe mich damals viel weiter im Süden herumgetrieben, ich erinnere mich an nichts. Außerdem ist die gesamte Gegend seit zehntausend Jahren besiedelt, vielleicht stammt er noch aus einem germanischen Dorf, da können wir uns in der Berliner Geschichte totsuchen.«
Enttäuscht kaute Alex auf seiner Unterlippe herum. Beiläufig schaltete er das Handy wieder ein und trank seine Tasse leer. Der Kaffee war pappsüß, verdammt stark und doch zu schwach. Schließlich kämpfte er nicht gegen gewöhnliche Müdigkeit. Er hatte Angst vor weiteren Träumen. Drei Millionen Tote!
Und er jammerte hier herum, weil das Kaffeepulver zu bitter schmeckte. Was war er für ein erbärmliches Weichei! Entschlossen löffelte er das feuchte warme Pulver aus dem Filter der Maschine und spülte es mit Kaffee runter.
»Bäh!« Er schüttelte sich, sein Magen rumorte, aber er zwang sich, sich nicht zu übergeben. Nicht jetzt - vielleicht später, wenn das Koffein in der Blutbahn angekommen war. Er würgte, stieß auf und schluckte alles wieder hinunter. Es blieb ein widerlich bitterer Geschmack nach Kaffee und Galle.
»Es gab in letzter Zeit eine Handvoll Verbrechen, bei denen außergewöhnlich viel Blut vergossen wurde, bei denen das Opfer richtig ausgeblutet wurde, doch sie fanden in unterschiedlichen Vierteln statt. Er trinkt einfach überall«, fuhr Danielle fort, während Alex feststellte, dass sich sein Herzschlag stark beschleunigte und Koma angerufen hatte.
Ruf mich zurück. Es ist dringend.
Vielleicht ging es um die tote Ratte, vielleicht hatte Koma ja noch irgendwas bemerkt, das ihnen jetzt weiterhelfen konnte. Also rief er zurück. Doch Koma war angetrunken und erzählte etwas von einer Razzia im Last Cathedral, bei der Polizisten nach Satanisten gefahndet hatten.
»Wo bist du? Lass dir helfen!«, forderte Koma noch, aber Alex wiegelte ab, sagte, es habe sich alles geklärt, niemand sei mehr in Gefahr. Koma war ein Mensch, ihm würde ein Vampir ohne Anstrengung das Genick brechen können. Das würde Alex nicht zulassen, er würde keinen Freund hineinziehen, der sich nicht wehren konnte.
Als er aufgelegt hatte, wurde ihm bewusst, dass er zum ersten Mal nicht mehr von sich als Mensch gedacht hatte.
Drei Millionen mögliche Tote, ihm war kotzübel von dem Kaffeepulver, und für Lisa war wohl alles zu spät, wahrscheinlich war sie bereits ein Vampir, eine blutsaufende Dienerin des Berliner Blutvaters, eine Ameise aus einem anderen Staat. Arbeiterin oder Kriegerin des wie eine Königin in der Erde thronenden Blutvaters. Bei ihrem nächsten Aufeinandertreffen würde sie ihn töten wollen. Sein Herz schlug wie wild, und er schmetterte die Tasse gegen die Wand, so dass sie in tausend Splitter zerbarst. Das tat gut.
»Hey!« Danielle zuckte überrascht zusammen.
»Was ist?« Alex spie die Worte aus, er wollte irgendwen zur Sau machen.
»Nichts«, sagte Danielle mit leiser Stimme und hob beschwichtigend die Hände. »Ich hör mal drüben Radio, ob sich irgendwas tut, und wühl mich noch mal durch die Websiten der Berliner Zeitungen.«
»Ja, mach das!«, motzte er ihr hinterher.
Drei Millionen.
Diese verfluchte Zahl lähmte ihn. Lisa zu retten, war eine klare Sache gewesen, etwas, dem er sich gewachsen fühlte, und selbst da hatte er wohl schon versagt, aber drei Millionen?
Drei Millionen waren unvorstellbar.
Drei Millionen, das wären die Opfer, wenn sie den Blutvater stoppen konnten, nachdem er erwacht war. Und was, wenn sie ihn gar nicht stoppen konnten? Wie viele würden dann sterben?
Er sprang zur Spüle und übergab sich. Bitterer Speichel und galliges Kaffeepulver schwappten ins Becken, vermengt mit halbverdauten Essensresten. Irgendwen musste er jetzt zur Sau machen, es half nichts. Er rief Salle an.
»Ja?«, meldete der sich. Er klang verschlafen, wahrscheinlich hatte Alex ihn aus dem Bett geholt. Gut! »Weißt du, wie spät es ist?«
»Ja, weiß ich! Weißt du, was im Last Cathedral geschehen ist?«
»Was für ein Kassidrel?«
»Last Cathedral! Die Bar in Mitte. Eine Razzia!«
»Was?« Salle räusperte sich, er klang noch immer nicht wacher, nur verwirrter.
»Bullen haben den Laden geschlossen, weil sie nach Satanisten gesucht haben! Eine harmlose kleine Bar! Und wer hat mir gepredigt, den Artikel mit den Gothics und den Satanisten nimmt doch keiner ernst? Alles unwichtig, es gehe doch nur um halbnackte Mädels, Verkaufszahlen, ein bisschen scheinheilige Empörung bei irgendwelchen Omas, und darum, die eigenen Kinder zu ernähren! Warum druckst du Artikel, wenn du meinst, dass die keiner ernst nimmt! Was haben solche Artikel denn für einen Sinn?«
»Mach langsam, bitte«, quengelte Salle. »Ich versteh gar nichts. Was ist los? Die haben wirklich eine Gothic-Kneipe gestürmt?«
»Meinst du, ich ruf zum Spaß an?« Es tat so gut zu schreien. Mit hämmerndem Herzen ging er in der Küche auf und ab. Das Blut raste durch seine Adern, der linke Wadenmuskel zitterte wie nach sportlicher Überanstrengung.
»Aber eine Satanisten-Razzia in einer geöffneten Kneipe ist doch Schwachsinn.« Noch immer klang Salle verwirrt. »Wer tut so was?«
»Vielleicht will sich irgendein Staatsanwalt nach der ganzen Medienhetze profilieren. Den Namen in der Zeitung sehen.«
»Hetze ist ein bisschen viel ...«
»Ach ja?«
Stille am anderen Ende. Salle atmete tief durch, dann sagte er: »Okay. Ich setz mich morgen dran und schau mal, was ich schreiben kann. Irgendeinen Kommentar online, und dann einen Artikel für die Printausgabe. Ich rück das wieder gerade. Gleich neben dem Artikel zu dieser Zivigeschichte, du weißt schon.«
»Ja, ja.« Was interessierten ihn irgendwelche Zivis? Klang jetzt nicht nach dem besten Platz, aber es war nur darum gegangen, Dampf abzulassen. Wen interessierte ein solcher Artikel schon, wenn die Stadt abbrannte? »Ich muss weiter. Bis dann.«
»Tschau. Und danke.«
Das war das erste Mal, dass sich jemand bei Alex dafür bedankte, dass er ihn angemotzt hatte. Sollte er vielleicht öfter machen. Zumindest hatte es seine innere Sperre gelöst. Noch immer drohten die drei Millionen ihn zu lähmen, zu zerreißen, ihn in zahllose hysterisch gackernde Stückchen zu zerbrechen. Doch er würde sich nicht wahnsinnig machen lassen, er würde Danielle helfen, irgendwie würden sie den Ort herausfiltern, der ...
Die Zivigeschichte! Natürlich!
Der Zivi, der das Blut gestohlen hatte. Das war kein Mitglied eines Organhändlerrings, kein Bluthändler, sondern er hatte das Blut tatsächlich verschüttet, wie er behauptete. Das war keine Reue über seinen Diebstahl gewesen, sondern eine Gabe an den Blutvater, und wenn irgendwer seine Tat direkt über dessen Herzen begangen hatte, dann dieser Zivi. Er hatte sich das Blut geholt und dort verschüttet, wo der Blutvater es gefordert hatte, so musste es gewesen sein. Wo sollte er es sonst verschütten, wenn nicht direkt über dem Herzen? Welche andere Anweisung sollte er im Traum erhalten haben?
»Danielle!« Mit überschnappender Stimme raste er zu ihr und erzählte von seinem Verdacht, und sie gab ihm Recht. Hier hatten sie wirklich einen Ansatz. Das Problem war nun, dass ihnen die Zeit davonlief und der Junge in U-Haft saß. Wenigstens ließ sich im Netz schnell herausfinden, in welchem Gefängnis er saß: Moabit.
»Kannst du ihm keinen Traum schicken?«, fragte Alex ratlos, weil sie erzählt hatte, dass Nephilim das konnten.
»Was soll das bringen?«
»Ich weiß auch nicht. Ich dachte, du kannst irgendwie in seinen Kopf reinsehen oder so.«
»Nein, kann ich nicht. Ich könnte dem ganzen Gefängnis schöne Träume bringen, aber das hilft uns nicht weiter.« Sie lächelte, drückte sich an Alex vorbei und lief ins Schlafzimmer. »Aber wozu brauchen wir auch feuchte Träume, wenn uns echter Sex viel weiter bringt?«
»Wir hatten doch gerade ...«
»Sorry, aber gerade eben dachte ich nicht an Sex mit dir«, kam es aus dem Schlafzimmer.
»Du willst den Zivi vögeln? Das bringt doch nichts! Wenn du bei ihm bist, solltest du mit ihm reden ...« Alex stolperte ihr hinterher. Es passte ihm überhaupt nicht, dass sie mit anderen Männern ins Bett wollte.
»Nicht den Zivi. Das Wachpersonal im Gefängnis. Damit es uns reinlässt.« Sie zerrte einen schwarzen Ledermini aus dem Schrank und eine enge weiße Seidenbluse. »Was meinst du? Dazu noch Stiefel. Hat was Strenges, da stehen so Uniformträger doch drauf.«
»Nicht nur die«, murmelte Alex und gaffte, während sie vor dem Spiegel in den Rock schlüpfte. »Meinst du wirklich, wenn man so leicht in ein Gefängnis käme, hätte sich noch niemand freivögeln lassen oder ein paar Drogen reinbumsen?«
»Vielleicht tun die das ja?«
»Ja, ja, schon klar. Die Knäste wären leer, wenn man nur eine Prostituierte anrufen müsste, um ...«
»Willst du mich jetzt mit einer x-beliebigen Prostituierten vergleichen?« Danielle sah ihn mit hochgezogenen Brauen über die Schulter hinweg an, die glänzende Bluse noch in der Hand.
»Ähm, nein, natürlich nicht«, stammelte er. »Aber kein Mensch ...«
»Kein Mensch, genau.«
Er dachte an die drei Millionen und schluckte seine kindische Eifersucht herunter. Vielleicht hatten sie wirklich eine Chance. Sie und damit auch Lisa.
Morgen dürften die Boulevardzeitungen dann titeln: Die Sex-Retter von Berlin! oder Flammentod von Millionen mit Sex abgewendet!
Er strich ihr über den Hintern und drückte kurz zu. »Du siehst fantastisch aus.«
»Danke. Pack den Kaffee und deinen Löffel ein, ich schminke mich unterwegs.«
Fünf Minuten später saßen sie nebeneinander auf der Rückbank eines Taxis, und Danielle zog sich die Lippen knallrot nach. Seine Hand lag auf ihrem nackten Oberschenkel, gedankenverloren strich er mit dem Daumen hin und her.
»Die haben dort sicher Uberwachungskameras«, flüsterte er ihr ins Ohr. Der Fahrer hatte vorn das Radio laufen, er würde nichts hören.
»Mmh.«
»Wenn dich da einer drauf sieht, wie du mit dem Wächter ... dann schlägt er Alarm.«
»Nein. Wenn wir den Laden stürmen, dann ja. Aber er haut keinen Kollegen in die Pfanne, nur weil er während der langweiligen Nachtschicht eine kleine Nummer schiebt.«
»Aber was, wenn er seinen Kollegen hasst? Oder der Kollege, mit dem du zugange bist, ist mit seiner Schwester verheiratet?« Alex merkte, dass er Unsinn plapperte, einfach weil er nervös war. Das war nicht seine Art, aber vielleicht hatte er zu viel Kaffee intus. Sein Herz schlug viel zu schnell.
»Das Risiko müssen wir wohl eingehen. Aber wahrscheinlich schlägt er auch dann nicht Alarm, sondern holt sich erst einen runter. Keine Angst, ich wirke auch auf einem Monitor.«
»Und wenn es gar kein Er ist, sondern eine Sie? Am besten so eine überkorrekte?«
»Ich hatte auch schon Sex mit Frauen.« Sie kratzte sich mit dem Fingernagel Lippenstiftspuren vom oberen Schneidezahn, die dank eines Schlaglochs dort gelandet waren, und ihre Augen blitzten ihn herausfordernd an. Er versuchte, nicht an Sex zu denken. Das Letzte, was sie jetzt brauchen konnten, war eine wilde Rammelei, bei der sie ein Taxi zerlegten und den Fahrer so erschreckten, dass dieser das Auto an eine Laterne oder in den Gegenverkehr lenkte. Kurz blickte er zum Fahrer nach vorn, ob dieser wirklich nichts von ihrem Gespräch verstand. Wenn, dann ließ er sich nichts anmerken, er blickte stur durch die Windschutzscheibe hinaus.
Irgendwo heulte eine Sirene.
»Wenn wir von Blutvätern aus der Erde zu dem gemacht werden, was wir sind, woher kommt dann ihr Nephilim? Seid ihr wirklich die Frucht aus der Liaison von Göttersöhnen mit menschlichen Frauen, wie es in der Bibel heißt?«, fragte Alex, um das Thema zu wechseln. Er war zu unruhig, um einfach in die Nacht zu starren, und tippte mit beiden Füßen im Takt des dämlichen Schlagers aus dem Radio.
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wer mein Vater ist. Meine Mutter war ein einfacher Mensch, ja.« Sie sah aus dem Fenster, direkt an Alex vorbei, das Gesicht wie gemeißelt.
»Und sie hat nie über ihn gesprochen?«, bohrte er nach. Seine Lippen berührten fast ihr Ohr, doch ihre Gesichter waren zu ernst, als dass man sie für ein turtelndes Paar hätte halten können.
»Nein. Meine nicht. Sie war verheiratet, und ich habe erst mit dreizehn oder vierzehn erfahren, dass ich nicht die Tochter ihres Mannes war. Da hatte ich bereits herausgefunden, wie man ihn und alle Jungs im Dorf um den Finger wickelt, einen nach dem anderen, und wurde schließlich als Schlampe davongejagt.« Auch wenn sich noch immer kaum eine Regung auf dem glatten makellosen Gesicht zeigte, in ihren Augen schimmerten nun Trauer und Wut. Alex konnte nur ahnen, wie sehr sie die Geschichte tatsächlich mitgenommen hatte, noch Jahrtausende später schwelte sie unsichtbar in ihr, verdeckt von einer Maske aus überirdischer Schönheit. Ihre Stimme zitterte nicht, doch in ihr schwang eine kriechende Kälte wie hartes Eis mit, die ihm unter die Haut kroch. Daran änderte auch ihr Bemühen um einen lockeren Tonfall nichts.
Der Taxifahrer warf einen kurzen missmutigen Blick in den Rückspiegel, sagte jedoch nichts. Sollte er doch gaffen, wie er wollte. Sie flüsterten nur, sie kotzten ihm nicht den Wagen voll.
»Und dann? Hast du ihn nicht gesucht?«, wollte Alex wissen.
»Natürlich. Vor allem später, als ich endgültig merkte, dass ich kein normaler Mensch war, dass ich nicht alterte wie alle um mich herum, dass ich irgendwann keinen Schlaf mehr brauchte. Ich habe meinen Vater gesucht, wie es alle Nephilim tun. In der Bibel werden wir von Göttersöhnen gezeugt, in anderen Mythen zeugen zahlreiche Götter Nachfahren mit Menschen, und auch in Troja, Babylon und dem Athener Umland wurden Nephilim geboren, überall, auf jedem Kontinent. Zeus ist wahrscheinlich der größte Casanova der Antike gewesen, wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was ihm nachgesagt wird. Aber keines seiner angeblichen Kinder weiß wirklich, ob es von ihm abstammt, ob er wirklich existiert hat.
Ich habe in Tempeln gesucht und an jedem heiligen Ort, von dem ich gehört habe. Ich habe mit Menschen gesprochen, die die Stimme Gottes vernommen haben wollen, ich habe mit Priestern und Eremiten geredet, habe angebliche Eingänge zur Unterwelt aufgesucht und zahlreiche Schamanen. Ich war vor Alexander in Indien, und das zu Fuß, aber gebracht hat es nichts. Jeder Mythos behauptet, dass etwas Göttliches oder wenigstens etwas von einem Engel in uns steckt. Aber ich habe auf der ganzen Welt kein göttliches Wesen gefunden, nicht eine Spur davon, außer mir selbst und den meinen. Euch Vampire lass ich jetzt mal außen vor.
Oft genug wurden wir auch als Wechselbalg bezeichnet, als Kuckuckskind erkannt, was die Männer unserer Mütter nicht wahrhaben wollten, denn stets waren wir das schönste Kind im Haus. So schön, dass sie uns behalten wollten.
Bis sie die Wahrheit akzeptieren konnten, und das mussten dann die Mütter ausbaden, gesteinigt oder verstoßen als Ehebrecherin. Und waren sie nicht verheiratet, hätten sie sowieso nicht schwanger werden dürfen, und ihr Ruf war ebenso ruiniert. Also haben die meisten geschwiegen oder es nur ihren erwachsenen Kindern anvertraut, wenn ihr Gatte tot war. Sie haben von der schönsten Nacht ihres Lebens gesprochen, oft voller Wehmut und Sehnsucht, manchmal voller Hass und Wut, weil dieser Mann nach einer einzigen Nacht verschwunden war. Manche haben sich von da an vor ihrem Gatten und der Berührung aller anderen Männer geekelt, andere wurden nymphoman, jagten seit dieser Nacht einem vergleichbaren Erlebnis nach, wieder und wieder und immer vergeblich.
Ich habe meinen Vater jahrhundertelang gesucht, bin besessen jedem Hinweis nachgegangen, jeder Ahnung. Jeder Nephilim tut das, doch keiner von uns hat je einen Engel gefunden oder einen Gott. Keiner. Irgendwann habe ich nur noch beiläufig gesucht, mit jedem Jahr schwand die Hoffnung ein bisschen, doch ganz konnte ich nie aufgeben. Ich kann es nicht. Bis heute muss ich jeder Spur nachgehen, nur verspreche ich mir inzwischen von den meisten Hinweisen nichts mehr.
Ich meine, der Kerl hatte mehrere Jahrtausende, um sich zu melden, wenn er gewollt hätte. Wir wissen nicht einmal, ob wir alle denselben Vater haben oder ob es mehrere gibt. Er oder sie verstecken sich vor uns. Nicht eine einzige Nachricht wurde je einem Nephilim hinterlassen, und auf einen solchen Vater scheiße ich. Eine Zeit lang habe ich ihn nur gesucht, um ihm in die Eier zu treten, nicht mehr aus Neugier auf ihn. Vielleicht stirbt ein solcher Vater auch nach dem Liebesspiel wie bei irgendwelchen Insekten, wer weiß das schon, und ich bin wütend auf einen Toten. Ist das bei Gottesanbeterinnen so? Oder bring ich da was durcheinander?
Egal. Aber warum sollten wir derart langlebig sein, wenn es unsere Väter und Mütter auch nicht sind? Ich weiß es nicht, und nachdem ich meinen unsichtbaren Vater eine Ewigkeit lang gehasst habe, ist er mir jetzt eigentlich egal. Ich bin es ihm schließlich auch.«
Sie warf ihm einen Blick zu, aus dem alle Arroganz und jedes Verlangen verschwunden war. Er erkannte eine Einsamkeit darin, die von keiner der Nächte voller Leidenschaft gestillt werden konnte, die tiefer reichte als seine innere Leere. Ewige Einsamkeit, die Danielle ebenso durchs Leben trieb wie der Hunger nach menschlicher Lust. Ihre Unnahbarkeit rührte nicht von Schönheit und Arroganz her.
»Am Ende wurden unsere Mütter alle von Aliens entführt und künstlich befruchtet, und ihre angeblichen Erinnerungen an unsere Väter und die schönste Nacht ihres Lebens sind nichts weiter als experimentell hervorgerufene Träume. Dann müsste ich irgendwo hinter dem Jupiter suchen.« Sie stieß ein schnaubendes Lachen durch die Nase, doch ihr Blick blieb traurig. »Ich versuche einfach, nicht an ihn zu denken. Manchmal würde ich gern wissen, mit wie vielen Nephilim ich verwandt bin, ob ich Halbbrüder und Halbschwestern unter ihnen habe, aber eigentlich ist das auch nicht wichtig, wir sind Einzelgänger, daran würde auch irgendeine Verwandtschaft nichts ändern. Es wurmt nur, nicht zu wissen, wer man ist, was man ist.«
Alex strich ihr vorsichtig durchs Haar, langsam und zärtlich. Sekundenlang wusste er nichts zu sagen, dann fragte er: »Vielleicht war er einfach ein Nephilim? Du hast doch selbst gesagt, dass du auch nach einer Nacht verschwindest.«
»Ist eine lange verworfene Theorie. Kein Nephilim, den ich kenne, hat je ein Kind gezeugt. Ich selbst war nie schwanger. Wir Nephilim sind unfruchtbar. Wie Maultiere.«
Stumm strich er ihr mit der Hand über den Oberschenkel. Er glaubte weder an Götter noch an Engel, aber bis vor zwei Wochen hatte er auch nicht an Vampire geglaubt.
Nur eines wusste er - wenn es wirklich Engel waren, die die Nephilim zeugten und allein ließen, dann wären sie nicht das personifizierte Gute.
»Ich erzähl’s dir später mal genauer, wenn du magst«, flüsterte Danielle und blinzelte die Dunkelheit aus ihrem Blick. »Aber jetzt sag mir, dass ich gut aussehe. Ich muss schließlich einen deutschen Beamten während der Pflichterfüllung verführen.«