33
Lisa wurde von Sandy aus der Nische geführt. Sie hielt sich möglichst an der rechten Wand und vermied jeden Blick auf die dort hängenden Fotografien. Links von ihr ging Sandy, die die Hand auf ihre Schulter gelegt hatte. Die Vampire in der Halle begutachteten sie neugierig, sogen vernehmlich ihren Geruch ein, den ihres Bluts, doch Lisa sah nur zu Boden. Sie hatte das Gefühl, zu ihrer Hinrichtung geführt zu werden; unter keinen Umständen wollte sie eine von ihnen werden.
Vielleicht gab es bei diesem Aufnahmeritual ja ein Messer, mit dem sie sich selbst töten konnte. Sie wäre lieber tot als so etwas.
Schritt für Schritt näherten sie sich dem oberen Ende der Halle. Lisa verbarg Abscheu und Angst hinter einer Maske aus zur Schau getragenem Stolz, ihr Gesicht war reglos, wie gemeißelt, niemand sollte sehen, was in ihr vorging. In der hinteren Ecke befand sich eine hohe Tür aus schwarz lackiertem Holz, auf die sie zusteuerten.
Plötzlich lief ein Zittern durch die gesamte Halle, Lisa geriet ins Straucheln und konnte sich nur mühsam halten, indem sie sich mit der Hand an der Wand abstützte. Einige Nägel lösten sich, Fotos trudelten zu Boden, auch eine Laterne fiel herab und zerbarst.
Was war das?, dachte Lisa. In Berlin gab es keine Erdbeben, hatte es noch nie gegeben.
Die Vampire torkelten, schrien auf und hielten sich die Köpfe, der Alte mit der Pickelhaube ging gar auf die Knie, er blutete aus der Nase und hämmerte mit den flachen Händen auf den Boden. Sandy keuchte und krallte die Finger tief in Lisas Schulter, die sie nicht losgelassen hatte. So tief, dass auch sie aufstöhnte.
»Nein«, keuchte Sandy. »Das kann nicht sein … Wie ...? Nein, nicht dieser verfluchte ...«
Jo zerrte brüllend an seiner Kette, warf sich mit aller Gewalt nach vorn, die hervorquellenden Augen drohten zu platzen.
»Wir müssen sie töten!«, schrie irgendwer, und alle stimmten mit ein.
»Töten!«, gellte es von überall her.
»Töten!«
Lisa drückte sich gegen die Wand, die Arme zum Schutz erhoben. Gerade noch hatte sie an Selbstmord gedacht und nun Angst vor dem Tod. Doch niemand stürmte auf sie zu. Nicht sie war jene Sie, die getötet werden sollte.
»Wir werden beide töten! Wir werden ihr Blut gleich am Ort ihrer frevelhaften Tat versprengen! Für ihn! Sein sei das Blut und die Rache!«, brüllte der Alte mit der Pickelhaube und rappelte sich auf. Geifer tropfte aus seinem Mundwinkel. »Sie sind unter dem Reichstag, der Fremde und die Nephilim. Ruft alle an und lauft!«
Die ersten Vampire stürmten bereits auf den Ausgang zu, hechelnd und keifend, da wandte sich der Alte an Sandy: »Du bleibst hier, bei ihr. Warte noch ein wenig mit dem Ritual, nur ein paar Minuten. Wenn du sie jetzt reinbringst, dann trinkt er sie völlig leer. Du hast seine Schmerzen gespürt.«
Sandy nickte.
»Aber warte nicht zu lang. Frisches Blut ist genau das, was er jetzt braucht. Und es ist besser für sie, wenn sie eine von uns wird, bevor wir die Nephilim haben.«
Wieder nickte Sandy, dann eilte der Alte den anderen hinterher, viel zu schnell und geschmeidig für jemanden in seinem Alter. Nur Lisa, Sandy und der irrsinnige Jo blieben zurück. Sein wütendes, gieriges Knurren erfüllte die ganze Halle. Ansonsten herrschte Stille, die Wände hatten aufgehört zu beben.
Lisa sank an der Wand langsam zu Boden. Die Hinrichtung war aufgeschoben, wenn auch nur um wenige Minuten. Zu ihren Füßen lag ein Familienfoto mit zwei Mädchen von etwa zehn, zwölf Jahren. Die Gesichter von Mutter und ältester Tochter waren mit einem Cutter zerkratzt worden, wie auch die Hände des lächelnden Vaters. Zwischen seine Beine war ein Loch geschmort. Die jüngste Tochter war unversehrt, doch sie lächelte nicht.
Lisa schloss kurz die Augen, sie spürte das unangenehme Kribbeln des Bodens unter ihrem Hintern, aber es war egal. Alles war egal, wenn sie nun ein Vampir wurde. Sie hörte, wie sich Sandy neben sie setzte. Jos Knurren versuchte sie zu ignorieren.
»Dann musst du wohl noch ein wenig warten«, sagte Sandy. Sie saßen ganz nah beieinander, wie zwei Freundinnen, die gemeinsam die Zeit totschlugen. Nur dass von ihrer Freundschaft nichts mehr übrig war und sie völlig gegenläufige Erwartungen an das Kommende hatten.
»Warum? Was ist passiert?«, fragte Lisa mechanisch. Jedes Gespräch, das Jo übertönte, war ein gutes Gespräch.
»Alex und diese Schlampe haben ihn angegriffen. Sie haben ihn in Brand gesteckt.«
»Ihn?« Lisa öffnete die Augen und blickte Sandy an. Mit einem kurzen Nicken deutete sie auf die schwarze Tür. »Ich denke, er ist dort drin?«
»Er ist groß. Der Blutvater ist nicht nur hier, er ist überall unter Berlin. Aber wenn sie ihn da draußen in Brand stecken, können sie ihn nicht töten. Diese hirnverbrannten Idioten! Verrecken sollen sie trotzdem. Elendig und langsam!« Mit hasserfüllten Augen starrte Sandy an die gegenüberliegende Wand und spuckte wüste Schimpfworte in die düstere, fast verlassene Halle. »Ich wär’ verdammt gern dabei, wenn sie sie ausbluten lassen. Aber wem sage ich das. Du wärst sicher auch gern dort.«
»Ich?« Lisa schüttelte den Kopf.
»Natürlich. Wir reden von Alex und dieser verdammten Schlampe.«
»Mag sein. Aber ich will doch nicht, dass sie sterben.«
»Warum nicht? Denk daran, was sie dir angetan haben.«
»Sie haben gevögelt, nur gevögelt!« Lisa schniefte, aber sie konnte nicht verhindern, dass ihr eine Träne über die Wange rann. Das hier war alles zu bizarr, zu schrecklich. »Er hat mich verarscht, ja, meinetwegen auch mein Herz gebrochen, aber darauf steht doch nicht die Todesstrafe. Hallo? Wir waren nicht einmal richtig zusammen, er hatte mir keine Zukunft versprochen, wir hatten noch gar keine Zeit, uns Treue zu schwören und all das. Er ...«
»Er hat dich beschissen!«, fiel ihr Sandy ins Wort. »Er hat dich flachgelegt und benutzt. Jetzt verteidige ihn nicht auch noch! Erzähl mir nicht, dass du benutzt werden wolltest!«
»Nein! Natürlich nicht. Aber ich wollte flachgelegt werden!« Lisa atmete tief durch. Hatte sie das wirklich gewollt? Ja, natürlich, aber auch noch viel mehr. »Jetzt hör mir mal zu. Ich wollte ganz sicher nicht, dass er mit einer anderen vor meinen Augen in die Kiste springt. Ich hatte mich verliebt, ich wollte mit ihm ins Bett und am nächsten Morgen gemeinsam aufwachen. Ich wollte mit ihm frühstücken und mit ihm zusammen sein, bis wir uns auf den Geist gehen würden, vielleicht auch für immer, aber so weit habe ich nicht gedacht, ich habe nur gedacht: Ja, das ist es. Ich wollte ihn kennenlernen, ihm zeigen, wer ich bin und was ich am Leben liebe, was mich glücklich macht. Ich wollte herausfinden, was ihn glücklich macht, ich wollte mit ihm ans Meer oder auch einfach in den nächstbesten Zug steigen und schauen, wo wir ankommen. Einmal wirklich einsteigen, und das nicht allein. An dem Abend war ich mir sicher, ich könnte mit ihm glücklich werden. Ich wollte nichts mehr, als das herausfinden. Ich war sicher, dass wir zusammenpassen würden. Und der blöde Arsch hat’s versaut. Dafür könnte ich ihm in die Eier treten, und ich wünsche ihm, dass diese Frau ihn verlässt und sein Herz bricht. Er soll wochenlang unter Einsamkeit leiden, so richtig leiden, im Bett dahinvegetieren und Läuse kriegen. Aber ich will doch nicht, dass er stirbt!«
Sandy sah sie an. In ihren Augen lag ein Schimmer der alten Sandy, zumindest glaubte Lisa, sie seien nicht mehr ganz so kalt und raubtierhaft. »Ach, Lisa, du bist einfach zu lieb für diese Welt.«
»Zu lieb?«
»Ja. Schau dich doch um, das Leben, die Wirklichkeit, alles ist traurig und dunkel. Auch du hast dem Schwein alles Mögliche an den Hals gewünscht. Du hast mit mir die Voodoopuppe aus seinem Shirt gebastelt. Das war dein Instinkt, dein Bauchgefühl, du wolltest deine Rache! Doch jetzt hörst du wieder auf dein anerzogenes schlechtes Gewissen, diese Möchtegernmoral, die nur dazu da ist, uns ruhigzustellen, ein Sedativum für unseren wahren Willen, der Kerker unserer freien Natur. Du bist weich geworden und würdest dich mit Läusen zufriedengeben.«
»Läusen und furchtbarer Einsamkeit«, murmelte Lisa. Als sie an das Voodoo-Shirt dachte, war ihr unbehaglich. Das war ein Scherz gewesen, sie erinnerte sich nicht einmal mehr genau daran, was sie Alex alles an den Hals gewünscht hatte. Wenn es Vampire gab, konnte es sein, dass dann auch Voodoo funktionierte? Hatte sie ihm den Tod gewünscht, und deshalb würden ihn die Vampire jetzt erwischen und töten? Nein, das konnte nicht sein, durfte nicht sein. Nein, nein, sie jagten ihn, weil er ihren Blutvater angezündet hatte. Es hatte nichts mit ihr zu tun.
»Und Einsamkeit, wochenlange Einsamkeit. Meinetwegen«, erwiderte Sandy mit einem verächtlichen Schnauben. »Das ist nicht viel für einen Kerl, der dich grausam betrogen hat und versucht, deinen zukünftigen Vater zu töten.«
»Meinen zukünftigen ... Was? Ach so, ja.« Lisa sah zu Boden und räusperte sich, holte tief Luft. »Aber was, wenn ich wirklich keine von euch werden will? Wir waren doch Freundinnen ...«
»Wir sind Freundinnen!« Sandy starrte sie an. »Warum sollten wir keine mehr sein?«
»Weil du mich mit Gewalt hierhergeschleppt hast!«, fuhr Lisa auf. »Weil du mich zu etwas zwingst, das ich nicht will! Das ist keine Freundschaft!«
»Es ist nur zu deinem Besten.« Sandy legte ihr die Hand auf den Arm. »Du wirst es verstehen, wenn du erst eine von uns bist. Vorher ...«
»Ich will aber nicht! Wie oft denn noch? Ich kann dieses ganze gehirngewaschene Sektengeschwätz nicht mehr hören!«
»Wir sind keine Sekte! Wir sind die Krone der Evolution!«
»Schöne Krone, die nur daran denkt, andere zu töten! Das ist Degeneration, nicht Evolution!« Lisa schrie sich alle Angst und Wut aus dem Körper, schrie sie Sandy ins Gesicht. Sollte diese sie doch deswegen sofort zu dem verfluchten Blutvater hinüberschleifen, aber sie müsste sie schleifen! Lisa würde nicht mehr mitkommen wie ein braves Lamm. Von wegen zu lieb!
Sandys Hand, die noch immer auf Lisas Arm lag, packte schmerzhaft zu und zerrte sie tatsächlich auf die Beine. »Ich denke, es ist genug Zeit verstrichen. Der Boden ist ruhig, er wird dich willkommen heißen.«
»Aber ich ihn nicht!«
»Du wirst! Und dann wirst du auch verstehen!«, beharrte Sandy. Sie schrie und wirkte dabei doch weniger aggressiv als verzweifelt, weil sie nicht erklären konnte, was ihr so wichtig war. Sie atmete durch und fuhr ruhiger fort: »Der Vater hat uns allen den Weg des Bluts gezeigt, einem nach dem anderen, und jeder, wirklich jeder von uns hat ihn verstanden. Du kannst seine Größe erst dann ermessen und begreifen, wenn du Teil von ihr geworden bist. Vorher kannst du doch gar nicht urteilen.«
»Größe ist nicht alles! Und ich will sicher nicht Teil eines blutsaufenden Mobs werden! Das weiß ich, ohne es auszuprobieren!« Lisa versuchte vergeblich, sich loszureißen, doch Sandy schleifte sie einfach weiter. Lisa wusste, dass sie keine Chance hatte, aber es ging nur noch darum, sich zu wehren. Sich nicht zu ergeben. Widerstand bis zum Schluss, und vielleicht würde ja irgendwas geschehen. Irgendwas. Der letzte Funken Hoffnung in ihr wollte nicht erlöschen.
In diesem Moment wurde Jos Knurren lauter, plötzlich klang es überrascht und gierig. Patschende Schritte rasten herbei, eine Kette schepperte über den Boden.
Lisa und Sandy wirbelten herum. Tatsächlich hatte sich seine Kette aus der Wand gelöst, vielleicht war das Beben von vorhin schuld, dass sie sich gelockert hatte, vielleicht hatte auch nur das ständige Ziehen und Zerren etwas bewirkt. Auf jeden Fall stürzte der riesige Vampir jetzt herbei, den Mund gierig aufgerissen, Schaum tropfte von seinen Lippen.
Sandy stieß Lisa weiter auf die schwarze Tür zu, in die äußerste Ecke der Halle, und zischte: »Bleib hinter mir.«
Lisa drückte sich gegen die kahle Wand, ihr Herz schlug wild.
»Halt!«, brüllte Sandy Jo entgegen und baute sich breitbeinig vor Lisa auf. »Sie gehört ihm. Du kannst sie nicht trinken.«
Jo stürmte herbei, bremste keuchend direkt vor ihr ab und schlenkerte mit dem Kopf hin und her, lugte mal links, mal rechts an ihr vorbei, auch über sie hinweg; er war fast einen Kopf größer als Sandy. Gierig stierte er mit seinen hervorquellenden Augen auf Lisa. Sie waren braun wie dunkler Bernstein und doch eisig.
»Durst«, presste er zwischen den rissigen Lippen hervor. Es war das erste klar artikulierte Wort, das Lisa von ihm hörte. Seine Stimme war ein tiefes raues Grollen, dunkler als der langgezogene Donner in einer Gewitternacht. Sie rollte über Lisa hinweg, und Lisa zuckte zusammen, als könnte sie jeden Moment der Blitz treffen.
»Nein. Nicht sie«, erwiderte Sandy. Ihre Stimme zitterte, war jedoch laut und deutlich. Nicht einen Zentimeter wich sie zurück.
»Niemand ist sonst hier. Du darfst sie mir nicht verweigern. Darfst nicht!« Geifer troff aus seinem Mundwinkel. »Sie ist Mensch.«
»Sie wird eine von uns.«
»Nein. Sie nicht. Sie riecht anders. Du darfst sie mir nicht verweigern.« Er leckte sich über die geschwollenen Lippen und reckte den Hals nach Lisa.
Sie wich zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß.
»Nicht sie!« Sandy wurde lauter, doch das Zittern verschwand nicht ganz aus ihrer Stimme.
»Sie ist frei! Ich darf sie trinken. Er erlaubt, dass ich sie trinke.« Mit der Rechten langte er an Sandys Schulter und schob sie zur Seite. Als er Lisa anstarrte, schimmerte unstillbarer Hunger in seinen Augen.
Sie konnte nichts tun als zurückstarren. Das Kaninchen vor der Schlange, erstarrt und aller Hoffnung und jedes Kampfgeists beraubt, ein hypnotisiertes, wehrloses Opfer.
»Nein!« Sandy stieß den Hünen zur Seite und baute sich wieder zwischen ihm und Lisa auf.
»Durst!«, grollte er und blitzte sie an.
»Nein!«
Zweimal schnaufte er tief durch, dann sagte er: »Halbe-halbe.«
Die Erstarrung fiel von Lisa ab. Sie ging in die Knie, tastete auf dem Boden herum, doch sie konnte nichts finden, das sie als Waffe hätte verwenden können. Keinen Stein, nichts. Warum sollten auch irgendwo einfach Waffen herumliegen?
»Nein!« Sandys Stimme klang schneidend. Sie wirkte so winzig im Vergleich zu Jo, doch zugleich entschlossen. »Ich sagte Nein!«
»Durst!«, grollte Jo.
Lisa tastete über die Wand, ob sich irgendwo ein Ziegel lösen ließ. Nichts. Der Mörtel war steinhart, und sie riss sich einen Fingernagel ein. Auf keinen Fall wollte sie in Jos Hände fallen, von ihm ausgetrunken werden und weggeworfen wie eine leere Verpackung. Sie wollte kein Vampir werden, doch genauso wenig das Opfer eines Blutsaugers. So wollte sie nicht sterben, so nicht. Sie wollte überhaupt nicht sterben, aber ganz sicher nicht so.
»Nein!«, keifte Sandy ein weiteres Mal.
Dann ging alles schneller, als Lisa wahrnehmen konnte. Fauchend fielen die beiden Vampire übereinander her, Lisa wusste nicht, wer den Kampf begonnen hatte. Sie wälzten sich ineinander verkeilt über den Boden, stießen sich gegen die Wände und droschen aufeinander ein. Ihre Kleidung wurde zerfetzt, Haut aufgerissen, Verputz staubte von der Mauer, wenn einer von ihnen mit Wucht dagegenprallte. Sandy war um so vieles kleiner, und doch schien sie nicht chancenlos. Nicht völlig. Sie schlug schneller zu als er, trat und kratzte, riss an seinem Ohr und hämmerte die Faust nach seiner Nase, als wolle sie ihm den Knorpel bis ins Hirn hochdreschen. Doch Jo konnte gerade noch ausweichen und schlug ihr den Ellbogen aufs Ohr.
Wie wahnsinnig droschen sie aufeinander ein, aber keiner von beiden biss zu. Als wollte keiner das Blut eines anderen Vampirs vom selben Vater trinken. Das Blut von Schwester und Bruder.
Dann tauchte Sandy zu langsam unter einem Schlag hinweg, und Jo stieß sie um, warf sich auf sie, packte ihren Kopf und drückte ihn auf den Boden. Sandy schlug um sich, krallte ihre Finger in seinen Arm, so dass die Haut aufplatzte und Blut herausspritzte. Doch ihn schien das nicht zu kümmern, er hatte sie fest im Griff. Mit gebleckten Zähnen hob er ihren Kopf und drosch ihn auf die Erde. Wieder und wieder, bis Sandys Hinterkopf eine richtige Kuhle in den feuchten, schweren Boden gedrückt hatte.
Leise schlich Lisa an der Wand entlang. Sie musste hier weg, sofort. Solange die beiden so sehr auf ihren Kampf konzentriert waren, achteten sie nicht auf sie. Sie wusste, wie es hinausging, dort hinten wartete die Tür in die Freiheit.
Jo presste seine Daumen auf Sandys Augen und knirschte: »Durst.«
Verzweifelt schlug Sandy die Fäuste gegen seine Arme, aber er ließ nicht los. Sie schrie, während er sich daran machte, ihr die Augäpfel aus dem Kopf zu pressen.
»Scheiße«, fluchte Lisa. Sandy hatte sich nur für sie auf diesen Kampf eingelassen. Sie war irre und ein Vampir, aber sie war ihre Freundin gewesen und wollte um alles in der Welt verhindern, dass dieser Besessene ihr Blut trank. Und was tat sie? Sich verdrücken.
Aber was sollte sie schon ausrichten? Sie war nur ein schwacher Mensch, sie konnte nichts tun. Zudem wollte Sandy sie zu einem Vampir machen, und wenn sie ihr half, dann ...
»Scheiße«, sagte sie noch einmal und packte die Kette mit den fingerdicken schwarzen Gliedern, die noch immer um Jos Hals hing. Sie war schwer und wäre ihr fast wieder aus den nervösen Fingern geglitten. Dann riss sich Lisa zusammen und legte den Mittelteil der Kette zu einer Schlinge zusammen. Mit aller Kraft und Konzentration warf sie diese um seinen Kopf. Bevor er überhaupt merkte, was ihm geschah, was eben auf seine Schultern geklatscht war, zerrte sie mit Gewalt und Wut am Ende der Kette. Die massiven Eisenglieder zogen sich fest um seinen Hals, gruben sich in seine Kehle.
Überrascht japste er und ließ von Sandy ab, wirbelte herum. Seine kalten Augen erkannten Lisa, und er begann zu grinsen.
»Durst.«
Das langgezogene Wort rollte über sie hinweg, lähmte sie, begrub allen Kampfgeist. Lisa stolperte zurück und verfluchte sich für ihre Dummheit. Warum war sie nicht einfach geflohen?
Jo stürzte sich mit gebleckten Zähnen auf sie. Wie konnten Augen, die so voller Gier brannten, nur gleichzeitig so kalt und tot sein? Das rechte Ohr hing halb abgerissen an seinem geschorenen Schädel, das linke Jochbein war geschwollen. Seine blutbeschmierten Hände waren riesig und kamen immer näher. Hände, die ihr mühelos das Genick brechen konnten.
Kurz bevor seine Arme sie packen konnten, seine Zähne sich in ihre Kehle graben, wurde er zurückgerissen. Die Kette schlang sich enger um seinen Hals, Hautstückchen wurden zwischen den einzelnen Ringen zerrieben, eine Ader platzte.
»Noch sind wir nicht fertig«, zischte Sandy mit heiserer Stimme. Sie hielt das Ende der Kette in den Händen und zerrte wieder daran.
Jo kippte zu Boden, und sie warf sich auf ihn, ohne die Kette loszulassen. Gurgelnd zappelte Jo mit den Beinen, doch er konnte sich nicht mehr befreien.
Lisa sah nicht genau, was geschah, nur Sandys verdreckten angespannten Rücken, der Jos Kopf verdeckte, und ihren mit Erde und Blut verklebten Hinterkopf. Vernahm sein Röcheln und ihr angestrengtes Keuchen.
Irgendwann hörte das Zappeln und Röcheln auf.
Als sich Sandy erhob, schien es Lisa so, als wäre Jos Hals zu einem Brei aus Haut, Fleisch und Blut zermanscht, der Kopf völlig abgetrennt vom Körper, selbst die Wirbel schienen zersplittert und Teil des Matschs. Lisa würgte und wandte sich schnell ab.
»Du hättest fliehen können«, sagte Sandy. Ihre Stimme klang dünn, in ihrem Blick lag nun mehr Entsetzen als Kälte. Zweifel. Sie blutete aus mehreren Wunden, ihre Kleidung bestand nur noch aus Fetzen. Der Hals war gerötet, hier hatte Jo sie gewürgt.
»Ja.« Mehr brachte Lisa nicht hervor. Sie konnte Sandy nicht länger anblicken. Sie hätte nicht nur können, sondern auch fliehen sollen. Jetzt war es zu spät und alles vorbei.
»Danke.«
»Schon gut. Du hast ja für mich gekämpft.«
»Ja.« Sandy sank auf die Knie und starrte ihre Hände an, der linke kleine Finger war unnatürlich verdreht, die rechte Schulter hing tiefer als die linke. Sandys Gesicht war von Kratzern übersät, der rechte Oberarm war klaffend aufgerissen, und unter dem linken Auge bildete sich eine dunkle Schwellung, das Lid des rechten hing halb über das Auge herab und zuckte. Am Hinterkopf quoll noch immer Blut unter dem Haar hervor. Das alles beachtete sie nicht, sie murmelte heiser vor sich hin: »Ich habe einen von uns angegriffen. Ich habe einen von uns getötet. Für einen Menschen.«
»Aber ich soll doch eine von euch werden.«
Sandy lächelte sie mühsam an. Das Blut trocknete in ihrem Gesicht, nur die Oberlippe platzte erneut auf. »Noch bist du es nicht. Ich habe mich gegen die meinen gestellt. Gegen meinen Bruder. Das ist mein Ende. Unser Ende.«
»Es ist niemand hier. Niemand weiß, wie Jo gestorben ist.«
»Doch«, sagte Sandy müde. Sie kniete noch immer auf dem Boden, schien keine Kraft mehr zu haben, sich zu erheben. »Er. Er weiß es. Er weiß alles, was seine Kinder tun. Und er ist ein strenger Vater.« Sie wippte vor und zurück. »Ich habe einen Bruder getötet. Ich habe ihn getötet.«