8

Wie immer war die Bergmannstraße in Kreuzberg überfüllt; Nachtschwärmer tranken ihr Einstimmungsbier, bevor sie weiterzogen in Clubs, junge Berlinbesucher trafen feiernd auf ältere Studenten und hippe Mittdreißiger. Café reihte sich an Kneipe an Gasthaus, dazwischen fanden sich ein paar jener - um diese Uhrzeit geschlossenen - Geschäfte, die man in einem Herzstück des alternativen Lebens erwarten konnte, wie der Bergmann-Kiez in zahlreichen Reiseführern angepriesen wurde: vom Klamottenladen mit Lack und Leder über gehobenen Trödel bis hin zu einer gemütlichen Krimibuchhandlung mit toten Pinguinen im Schaufenster und einem T-Shirt mit Mord-ist-mein-Beruf-Aufdruck. Das alternative Berlin für jene Alternative, die inzwischen feste Jobs und ein gutes regelmäßiges Einkommen hatten. Öko, gestylt, hell, freundlich; Schuppen mit rotzigem Punk und billigem Bier suchte man hier vergeblich. Trotzdem mochte Alex die Gegend, auch er wurde älter.

Er saß mit Lisa an einem kleinen Holztisch vor einem orange gestrichenen mexikanischen Café, das leckere Flammkuchen auf der Speisekarte hatte. Nur selten dachte er an Danielle und versuchte, Lisa nicht mit ihr zu vergleichen. Zu verschieden waren die beiden, und ein entscheidender Unterschied war: Lisa war hier, Danielle für immer verschwunden. Er würde nicht sein Leben damit verbringen, einem One-Night-Stand nachzutrauern.

Sie waren beim dritten Bier angekommen, Lisa hatte aus »linientechnischen Gründen« nur einen Salat gegessen und dabei ein amüsiertes Kompliment für ihre Figur von ihm abgestaubt. Dann wollte er wissen, ob sie wirklich Jura studiere, sie wirke gar nicht so.

»Wie meinst du das?«, fragte sie.

»Du lachst zu natürlich«, sagte er, was sie wieder zum Lachen brachte. Laut, aber nicht aufdringlich, einfach ansteckend. Schmunzelnd fuhr Alex fort: »Du redest nicht wie so eine, du scheinst keine Standesdünkel zu haben, willst niemanden über den Tisch ziehen und denkst nicht in Paragrafen.«

»Du hast ein ziemlich mieses Bild von Juristen, kann das sein?« Sie blickte ihm in die Augen. »Aber nicht jeder Anwalt ist gewissenlos, nicht jeder Richter rechts und korrupt, und darüber hinaus wird nicht jeder Jurist Anwalt oder Richter. Gesetze sind die Spielregeln, nach denen eine Gesellschaft funktioniert, und ich dachte, es ist gut, sie zu kennen.«

»Es sind die Regeln, keine Frage, aber eine Gerichtsverhandlung ist kein Spiel. Da sollte es um Gerechtigkeit gehen, nicht ums Gewinnen um jeden Preis.«

»Nicht um jeden Preis. Aber das ganze System funktioniert doch nur, wenn jeder Anwalt seinen Mandanten bedingungslos unterstützt und zu gewinnen versucht. Die Gegenseite fährt ihm schon in die Parade, und das Urteil fällt ja der Richter, der selbst nicht gewinnen kann. Natürlich gibt es Fälle ...« In diesem Moment klingelte ihr Handy. »’tschuldige.«

»Kein Problem.« Alex nickte, dann sah er weg. Er wollte sie nicht anstarren, während sie telefonierte, wartend und drängend, auch wenn er sie gern betrachtete. Die Haare glänzend rot und hochgesteckt, auch die Lippen rot, die grünen Augen waren voller Leben. Auf der linken Hand, gleich unterhalb des Daumens, hatte sie zwei kleine blasse Leberflecke.

Er hörte, wie Lisas Stimme ernst wurde, »Was?«, fragte und »Echt?« und schließlich sagte: »Das kann er doch nicht machen.«

Dabei ließ er den Blick über die anderen Gäste, den belebten Fußweg und die schmale Straße schweifen. Noch immer waren es bestimmt 20 Grad, kein noch so schwacher Wind regte sich. Die meisten waren im T-Shirt unterwegs. Es ging bereits auf 23 Uhr zu, doch Alex hatte das Gefühl, dass es gar nicht richtig dunkel wurde. Er konnte die Gesichter auf der anderen Straßenseite deutlich erkennen, obwohl dort die Straßenlampe ausgefallen war. An den kleinen Kerzen auf den Tischen der Cocktailbar konnte es schlecht liegen. Er musste irgendeine Lampe übersehen haben, doch auch aus den Fenstern der Bar fiel nur wenig Licht.

Er blinzelte.

Unsinn, niemand konnte plötzlich besser sehen. Vielleicht ging einfach seine Uhr vor. Oder er bildete sich ein, dass alles heller war, weil er das Date genoss und merkte, wie er sich langsam verliebte.

Er konnte nicht sagen, weshalb er sich verliebte, das konnte er nie. Darum ging es ja gerade, dass es nicht mit dem Verstand fassbar war. Dass es mehr war als das Lachen, die Augen, die Schlagfertigkeit, die Intelligenz, der Geruch des anderen oder seine Leidenschaft für das, was er tat. Mehr, als jeder Analyseversuch zutage förderte. Es ging um das, was er nie benennen konnte, wenn er gefragt wurde: »Was liebst du am meisten an mir?«

Veronika hatte nie verstanden, dass er mit einer solchen Frage überfordert war und nicht spontan eine ganze Liste von Eigenschaften und körperlichen Merkmalen runterrattern konnte.

Er ließ den Blick über die Straße wandern. An der kaputten Laterne lehnte ein großer drahtiger Mann in schwarzer Hose und schwarzem Hemd, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt waren. Die oberen drei Knöpfe standen offen, und da, wo der Hals in die linke Schulter überging, zeichnete sich eine frische rote Narbe ab. Auf dem linken Unterarm hatte er ein verschlungenes Symbol tätowiert, irgendein schwarz-rotes Tribal. Mit kalten braunen Augen musterte er die Umgebung.

Als er bemerkte, dass auch er beobachtet wurde, wandte er sich Alex zu und starrte ihn an. Drei, vier, fünf Sekunden lang, Augen wie ein Hai. Ein hungriger Hai. Dann flackerte der Blick des Mannes überrascht. Kaum merklich nickte er Alex zu. Es war kein freundliches Nicken, und es wurde von einem Zucken im Mundwinkel begleitet.

Kannte der Typ ihn? Alex konnte sich nicht erinnern, ihn je getroffen zu haben. Aber als DJ sprach er mit mehr Leuten, als er sich merken konnte.

»Ich komme«, sagte Lisa in diesem Augenblick und legte ihr Handy ab. Zerknirscht sah sie Alex an: »Es tut mir schrecklich leid, aber ich muss gehen.«

Langsam wandte er den Blick von dem Mann ab, es dauerte einen Moment, bis er begriff, was sie gesagt hatte. Dann stotterte er: »Was? Sorry. Schade, ja, tut mir auch leid ... Ist was passiert?«

»Sandy. Meine Mitbewohnerin, die Freundin von letzter Woche, du erinnerst dich? Sie hat Ärger mit ihrem Ex.«

»Schlimm?«

»Ja. Ich muss wirklich ... Können wir uns in den nächsten Tagen noch mal treffen?« Sie klang tatsächlich enttäuscht. Entweder war sie eine gute Schauspielerin, oder der Anruf war ein echter Hilfeschrei gewesen, kein unter Freundinnen abgesprochenes Telefonat, das als rettende Ausrede zur Befreiung aus einem langweiligen Date diente.

Alex nickte und winkte den Kellner herbei, Lisa ging noch einmal auf die Toilette. Neugierig sah er zu der Laterne hinüber, doch der Typ war verschwunden. Was für ein schräger Vogel, sogar ein wenig unheimlich.

»Gute Wahl«, sagte plötzlich eine tiefe Stimme, und der Mann, der eben noch an der Laterne gelehnt hatte, stand neben seinem Tisch.

»Was?«

»Gute Wahl.«

Alex starrte ihn an, dann sein leeres Bierglas. Instinktiv erhob er sich, auch wenn es nicht ganz reichte, um auf gleiche Augenhöhe zu kommen.

»Hier in Berlin teilen wir halbe-halbe, denk daran. Du bist Gast.« In den kalten Hai-Augen regte sich nichts. Waren die Augen wirklich der Spiegel zur Seele, dann besaß dieser Fremde keine.

»Halbe-halbe?«, wiederholte Alex irritiert. Was und mit wem sollte er überhaupt teilen? Und wessen Gast sollte er angeblich sein?

Plötzlich packte ihn das Gefühl, etwas verteidigen zu müssen - sein Revier, seine Frau, seinen Stolz, was auch immer. Abgrundtiefe Abneigung gegen diesen Spinner wallte in ihm auf, ja fast schon Hass. Er fühlte sich von ihm stärker bedroht als von allen anderen Spinnern, denen er je begegnet war, und ihn packte der starke Impuls, ihn wegzustoßen. Etwas in Alex wollte ihn mit aller Gewalt zusammentreten, bis er blutend im Rinnstein lag, aber er riss sich zusammen. Natürlich riss er sich zusammen. Er war noch nie der Typ gewesen, der sich ständig prügelte, doch dieser Kerl reizte ihn einfach durch seine Anwesenheit, seine arrogante Haltung, die kalten Augen und das dumme Geschwätz. Sein Aftershave roch nach frisch aufgeworfener Erde, nach Kompost, und irgendwas schwang darin mit, das Alex beinahe ausrasten ließ.

Was war nur los mit ihm?

Erst bei Danielle und jetzt das hier. Zähneknirschend riss er sich zusammen.

»Halbe-halbe«, wiederholte der Hagere und nickte, ihre Gesichter waren nur zwei Handbreit voneinander entfernt. Plötzlich zitterten seine Nasenflügel, seine Stimme klang aufgeregt: »Nephilim ... Du riechst nach Nephilim. Ist sie eine? Das kann doch nicht sein, oder?«

»Nein«, knurrte Alex, ohne nachzudenken. Dabei starrte er unverwandt in die Haiaugen und erwartete, dass der Typ ein Messer ziehen würde, eine Pistole, vielleicht auch einen Morgenstern oder eine Giftspritze. Er war eindeutig verrückt.

»Du verdammter Glückspilz!« Wieder flackerte der Blick des Hageren. »Ein Nephilim. Wir brauchen einen, weil... Egal, wir brauchen einfach einen, hier in Berlin. Was ist mit deinem?«

»Hey, Mann, ich weiß nicht, was du von mir willst.« Alex atmete schwer, er ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Adrenalin pumpte durch seinen Körper.

»Deinen Nephilim. Hast du ihn ...?«

Wenn Alex schnell zuschlug, könnte er ihm die Nase brechen, so dass das Blut über den ganzen Fußweg spritzte ...

Er kannte niemanden, der sich nach den biblischen Nephilim nannte. Der Typ war einfach neben der Spur. Eine Fahne konnte Alex nicht riechen, aber was hatte das schon zu bedeuten. Er musste ihn loswerden, sofort, sonst gab es eine Schlägerei. Also sagte er: »Ich weiß nicht, wo er ist.«

»Du hast ihn also entkommen lassen?« Die Haiaugen stierten ihn voller Abscheu und Geringschätzung an. »Das gibt’s doch nicht! Aus welchem Kaff kommst du denn? Solltest du das Glück haben, noch mal auf ihn oder einen anderen zu stoßen, gibst du uns Bescheid, ja? Wir wissen, was man mit ihnen tut. Auch das ist in Berlin so üblich.«

»Ja, mach ich«, sagte Alex, um den Kerl loszuwerden, bevor er ihm mit Vergnügen in die Eier treten und immer weiter auf ihn eindreschen würde. »Aber er war nicht in Berlin.«

Der Hagere nickte, dann beugte er sich langsam vor, fuhr mit seiner Nase schnüffelnd wie ein Hund über Lisas Jacke, die über dem Stuhl hing, und richtete sich lächelnd auf. »Sie ist wirklich keine.«

Die Gäste an den Nachbartischen waren inzwischen verstummt, sie starrten in ihr Essen oder in die milde Nacht, lauschten und schielten kurz herüber, gebannt von dem Schauspiel, das ihnen geboten wurde. Irgendwo kicherte eine Frau, ein Mann prustete in sein Bier.

»Das hab ich doch gesagt«, knurrte Alex.

»Ja. Aber woher soll ich wissen, dass du nicht lügst?« Er lächelte kalt. »Dann hab noch schöne Tage in Berlin. Und denk immer dran: halbe-halbe.« Mit einem anzüglichen Grinsen wandte sich der Mann ab und schlenderte zwischen den anderen Nachtschwärmern davon.

Alex starrte ihm nach, voller Hass und erfüllt von einem völlig irrationalen Triumphgefühl, den anderen vertrieben und sein Revier verteidigt zu haben. Sein ganzer Körper kribbelte. Tief sog er die Nachtluft ein, den Geruch der Stadt, genoss das Verblassen des Moderdufts des Fremden. Erst als er von ihm nichts mehr sehen und riechen konnte, klang die Abscheu langsam in ihm ab.

Einen Augenblick später tauchte Lisa wieder auf und zog sich die Jacke über. Alex war noch so in Gedanken, dass er es versäumte, ihr hineinzuhelfen. Was hatte der Irre nur mit halbe-halbe und gute Wahl gemeint? Das Bier wohl eher nicht ...

»Es tut mir wirklich leid«, sagte Lisa eindringlich, die seinen abweisenden Gesichtsausdruck falsch deutete.

»Ich bring dich noch heim«, sagte er.

»Das ist nicht nötig.«

»Doch, ist es!« Es klang nachdrücklicher als geplant. Vielleicht war er ja paranoid, aber irgendwas stimmte mit dem Typen nicht, ganz und gar nicht. Gute Wahl... halbe-halbe... Sollte der Lisa anquatschen, wollte Alex nicht, dass sie allein war.

Lisa zog die Augenbrauen hoch, setzte sich aber wieder und wartete, bis er bezahlt hatte.

»Dann haben wir wenigstens noch einen kleinen Spaziergang zusammen«, sagte er, als sie sich auf den Weg machten. Er bemühte sich um ein Lächeln. »Und eine wahnsinnig romantische U-Bahn-Fahrt.«

Sie lachte. »Und ich dachte schon, du willst mich beschützen.«

»Wäre das so lustig?«

»Nein.« Kurz sah sie ihn irritiert an, dann hängte sie sich bei ihm unter. »Aber ich bin schon ein großes Mädchen. Ich finde allein nach Hause.«

»Das glaube ich. Aber ich ... Ach, vergiss es, ich bring dich einfach heim.« Er wollte ihr nicht von dem Spinner erzählen oder über mögliche Belästigungen und Vergewaltiger reden. Wahrscheinlich steigerte er sich auch nur in etwas hinein, es gab keinen Grund, sie zu beunruhigen. Schließlich kannte sie den Weg, und den Spinner konnte er nirgends mehr entdecken. Er war bestimmt schon sonst wo und quatschte andere Leute voll.

In der Bahn standen sie dicht aneinandergedrängt, weder in der U7 noch der U8 fanden sie einen Sitzplatz. Alex hielt ihre Hand, und sie amüsierte sich über all die ach so romantischen Dinge, die sie sahen. Beschmierte Fensterscheiben, drei harte, herausgeputzte Jungs, deren Handy laut und scheppernd einen Hiphop-Song spielte, zu dem zwei betrunkene Mädchen, die sich an der grauen Stange im Türbereich festhielten, mit den Ärschen um die Wette wackelten. Müde Gesichter, die vor sich hinstarrten, ein junger Mann mit Aknenarben im Gesicht und einer Totenkopftätowierung auf dem Unterarm, der in ein Buch mit dem Titel Geil auf Gewalt vertieft war. Eine Frau, die in einer fremden Sprache in ihr Handy keifte und dabei zu flüstern versuchte.

»Seit drei Tagen meldet er sich nicht«, beschwerte sich ein Mann mit Dreitagebart bei zwei Freundinnen und erntete ausweichendes Verständnis und beruhigende Sätze wie: »Vielleicht hat er einfach nur zu viel zu tun.«

»Aber eine SMS, eine kurze SMS. Wie viel Zeit kostet das denn?«

Die Frauen schwiegen, und eine legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.

»Da haben wir ja den richtigen Wagen für eine romantische Fahrt erwischt. Du solltest wirklich Romantikreisen organisieren«, kicherte Lisa. »Damit könntest du reich werden. Du hast ein unglaubliches Gespür dafür.«

»Ich würde die U-Bahn mit Kamin und Bärenfell einführen.« Alex lachte und streichelte mit dem Daumen
über Lisas Handrücken. Er musste sich unheimlich zusammenreißen, um sie nicht einfach zu küssen, ihre roten Lippen und den langen, schlanken Hals.

Er nahm nichts mehr um sich wahr, durch die stickige Luft roch er nur noch Lisas luftiges Parfüm und darunter ihren eigenen Duft. All seine Sinne fokussierten sich auf sie. Es war, als erwache in diesem Moment der Trieb in ihm, der Höhlenmensch. Er wollte sie einfach packen und vögeln. Mit einem Mal war alle Zärtlichkeit aus seinen Gedanken verschwunden, alles fröhliche Lachen, er wollte sie besitzen, sie haben, sie unterwerfen, gleich hier auf dem Boden oder draußen gegen irgendeine raue Hauswand gepresst oder unter den Bäumen im nächsten Park. Jetzt! Er wollte sie schmecken, und nur mühsam konnte er sich zurückhalten, ihr nicht über den Hals zu lecken, an ihr zu knabbern. Er biss die Zähne aufeinander, bis sie knirschten, und dachte: Nein!

So viel hatte er doch gar nicht getrunken. Erst wollte er sich prügeln, dann Lisas Hals lecken, über sie herfallen wie ein Tier. Die Hand, mit der er ihre hielt, zitterte.

Sie grinste ihn an.

Spürte sie seine Erregung? Amüsierte sie das?

Er hatte das Gefühl, er könne ihren Herzschlag über das Gemurmel der Fahrgäste und die scheppernde Musik hinweg hören. Oder war es nur die Schlagader ihrer Hand, deren Pochen er fühlte, wenn er über sie hinwegstrich? Egal, ihr Puls ging auf jeden Fall schneller.

»Was meinst du, warum sie das machen?«, fragte Lisa unvermittelt und deutete auf die etwa handgroßen eingravierten Brandenburger Tore, die die Fensterscheiben der U-Bahn zierten. Eines neben dem anderen, über die gesamte Fläche hinweg. »Soll das verhindern, dass irgendwer etwas ins Glas ritzt?«

»Möglich. Vielleicht ist es aber einfach nur eine Form von Lokalpatriotismus. Oder der Hersteller der Scheiben ist ein Bruder des BVG-Chefs, der ihm so die Einnahmen der erhöhten Fahrpreise zugeschanzt hat, während er die vergangenen Streiks für die Erhöhung verantwortlich macht.« Alex starrte auf die eingravierten weißen Tore, die abwechselnd richtig herum und auf dem Kopf angeordnet waren. Die Säulen lagen sich gegenüber wie die gebleckten Zahnreihen eines aufgerissenen Mauls. Lange gerade Hauer, bereit zuzubeißen. Diese Assoziation war von der BVG sicher nicht beabsichtigt.

»Wir müssen raus«, sagte Lisa in der Bernauer Straße und stieg aus der Bahn. Seine Hand ließ sie dabei nicht los. Langsam und immer langsamer schlenderten sie eine schmale Straße entlang.

Alex war noch nie zuvor hier gewesen, zumindest erinnerte er sich nicht. Lisa sagte nicht mehr viel, aber sie lachte über jeden von Alex’ Versuchen, lustig zu sein. Er wollte lustig sein, er wollte sie zum Lachen bringen, wollte so seinen Trieb übertönen, weil er wusste, es würde heute nichts mehr passieren.

»Wir sind da«, sagte Lisa irgendwann leise und blieb vor der beige gestrichenen Tür eines vierstöckigen Altbaus stehen. An den Ecken blätterte bereits die mattgraue Farbe ab, und auf der Hauswand fanden sich eine Handvoll Tags. Eines dieser typischen Häuser, in denen ein Drittel oder mehr Wohnungen Studenten-WGs waren oder Studienabbrecher-WGs.

»War wirklich nicht weit.«

»Ja.« Sie sah ihn an, trotz der Dunkelheit konnte er erkennen, wie ihre Augen brannten. »Ich kann dir leider nichts zu trinken anbieten, Sandy ist gerade wirklich nicht gut auf Männer zu sprechen.«

»Beim nächsten Mal nehme ich dann einen Kaffee.« Er grinste. Nur immer locker, lustig, lässig.

»Sollst du dann auch kriegen«, sagte Lisa und machte keine Anstalten, hineinzugehen. Stattdessen blieb sie gegen die Tür gelehnt stehen, wartete und hielt dabei noch immer seine Hand. Das war der Moment, in dem er sie küssen sollte, ja musste.

Doch er tat es nicht.

Wie sie da vor ihm stand, der Mund leicht geöffnet, brennende Augen und die obersten Knöpfe der bordeauxroten Kunstlederjacke geöffnet, so dass die Ansätze der Brüste zu sehen waren, der obere Rand des engen, tief sitzenden Tops, sah sie plötzlich so klein aus, jung und schwach, so leicht zu haben - und leicht zu verletzen. Natürlich war sie zehn Jahre jünger, aber bislang hatte sie nicht so zerbrechlich auf ihn gewirkt. Doch in diesem Moment fühlte er sich um so vieles stärker, sie ein kleines Mädchen, und er, er ...

Er küsste sie nicht.

Wenn er sie jetzt küsste, würde er sich nicht mehr bremsen können. Es wäre kein sanfter Abschiedskuss, er würde sie gegen die Tür drücken, sie mit der Zunge küssen, natürlich, sie war trotz allem schön, aber dann würde er ihr in die Lippen beißen wollen, in den Hals. Wie schon gestern bei Danielle dachte er, dass Küssen zu wenig sei. Aber was hieß schon zu wenig?

Sie war klein und zerbrechlich, und er wollte sie zur Strecke bringen. Als ginge es hier nicht um Sex, sondern um Jagd. Er dachte daran, ihr in den Hals zu beißen, bis ihr Blut über die schmale Schulter floss und zwischen den Brüsten hinab. Sie hatte die Haare hochgesteckt, der Hals war so nackt und frei, hieß das denn nicht, dass sie es auch wollte? Weshalb sollte sie ihm ihren Hals sonst so darbieten? Er war sicher, ihre Erregung riechen zu können - sie wollte ihn, obwohl Sandy oben wartete.

Nein! Reglos blieb er stehen und küsste sie nicht.

Noch immer sah sie ihn wartend an, doch ihre Finger hielten seine Hand nicht mehr ganz so fest, und ihre Augen flackerten unsicher.

Alex atmete schwer. Erregung riechen? Was für ein Schwachsinn. Und wie kam er auf den Gedanken, sie zu beißen, bis sie blutete? Ihm war, als könne er den Geschmack von Blut auf der Zunge spüren, seine Lippen zogen sich zusammen, als hätte er in eine Zitrone gebissen, und doch war der Geschmack so herrlich süß. Seine Zunge tastete danach, er wollte mehr davon, und zugleich wollte er ihn ausspucken, doch natürlich tat er das nicht vor ihren Augen, er schluckte den Geschmack einfach hinunter. Angewidert und gierig zugleich.

Nein, er wollte nicht die Kontrolle verlieren. Nicht dass er Angst davor hatte, mit ihr im Bett zu landen, ganz im Gegenteil, und wenn Sandy die ganze Nacht in ihr Kissen weinen würde, während sie ihnen durch die dünnen Zimmerwände hindurch zuhören musste und abwechselnd alle Männer und ihre treulose Freundin Lisa beschimpfen würde, die lieber mit einem Typen ins Bett stieg, als für sie da zu sein, wenn sie Trost und Beistand brauchte - es wäre ihm egal. Vollkommen egal, er kannte Sandy nicht.

Doch er wusste nicht, wo es enden würde, und er wollte Lisa nicht beißen, ihr nicht den Hals aufreißen, ganz egal, was er eben gedacht und einen dunklen Augenblick lang gewünscht hatte.

Irgendwas stimmte nicht mit ihm. Er konnte sich selbst nicht trauen, er musste hier weg, sofort!

»Dann also bis dann«, murmelte er und versuchte ein Lächeln, um nicht ganz so abweisend zu klingen. »Ich hoffe, das mit Sandy und ihrem Ex kommt wieder in Ordnung. Oder sie kommt damit klar.«

»Danke.« Sie ließ seine Hand los und kramte fahrig den Schlüssel aus der Tasche.

Er trat zwei Schritte zurück, brachte Abstand zwischen sich und ihren herrlichen, bloßen Hals, und wartete, bis Lisa im Haus verschwunden war. Bevor sie die Tür ins Schloss fallen ließ, drehte sie sich noch einmal um. Alex winkte unbeholfen. Seine Beine wollten ihr hinterherspringen, doch er blieb stehen, zwang sich mit aller Gewalt dazu. Sie lächelte schüchtern und verunsichert.

Dann drehte er sich um und schlenderte zurück zur U-Bahn. Als ihm eine Frau mit klackenden Absätzen entgegenkam, wechselte er die Straßenseite und starrte stur zu Boden, die Hände in den Hosentaschen. Anders konnte er nicht sicher sein, dass er sie nicht anfiel.

Grübelnd lief er an dem großen blauen U der Haltestelle und der Treppe vorbei. In den Bahnen waren zu viele Menschen, wie konnte er wissen, dass er nicht einfach einen von ihnen biss? Den Drang, sich umzubringen, hatte er seit Jahren im Griff, aber das war neu. Er traute sich einfach selbst nicht - es war wohl besser, wenn er zu Fuß nach Hause ging. Länger als eine oder anderthalb Stunden würde das nicht dauern, die grobe Richtung kannte er, und er hatte heute Nacht nichts mehr vor und genug Stoff, über den er nachdenken konnte.

Jedoch brachte er keine Ordnung in seine Gedanken, alles ging durcheinander. Er wollte mit jemandem reden, tastete nach seinem Handy und ließ es dann doch in der Tasche stecken. Was sollte er Koma denn sagen?

Ich habe Lisa nicht geküsst, weil ich Angst hatte, ihr den Hals aufzureißen?

Koma wusste von Alex’ Selbstmordgedanken, er hörte sich jeden Schwachsinn an, ohne zu verurteilen, auch betrunkenes Gejammer. Aber das? Das war schon ziemlich daneben.

Zu Alex’ Linken erstreckte sich inzwischen der Mauerpark, hier kannte er sich wieder aus, er hatte nicht gedacht, dass der so nah war. Er hörte das Lachen der Feiernden und Musik, weiter von der Straße weg brannte ein kleines Feuer. Doch er ging einfach weiter und sah zum Himmel hinauf, ob da ein Vollmond zu finden war, den er für seine kranken Gedanken verantwortlich machen konnte, schließlich war diese Nacht besonders hell. Doch über den Hausdächern zu seiner Rechten hing nur ein bleicher Halbmond.

Solche Gedanken, solche Wünsche hatte er noch nie gehabt. Gut, gestern hatte er Danielle schlagen wollen und sie auch in den Hals gebissen, aber nur ganz leicht, das war spielerisch gewesen, vielleicht auch ein lustvoller Kampf, aber er hatte doch nicht richtig zugebissen. Schließlich war kein Blut geflossen! Oder doch? Nein, nur ein wenig aus seiner alten, neu aufgekratzten Narbe, aber darum ging es jetzt nicht.

Okay, als Kind hatte er an seinen Wunden gelutscht, hatte probiert, wie sein Blut schmeckte, hatte es sicherlich auch mal geschluckt. Aber in dem Alter tat das doch jeder. Vielleicht hatte er auch eine Schürfwunde am Knie mehrmals wieder aufgekratzt, um über Wochen hinweg immer wieder daran zu nuckeln, aber mit elf oder zwölf machte man eben seltsame Dinge.

Und mit siebzehn hatte er seiner ersten Freundin in den Hals gebissen, aber das war ein Versehen gewesen und nicht wirklich fest, auch sie hatte nicht geblutet. Damals hatte er gelesen, dass Küsse auf den Hals erotisch waren, also hatte er sie vor dem Sex eben auf den Hals geküsst. Nicht zurückhaltend, sondern möglichst leidenschaftlich, er wollte ihr zeigen, dass er ein Mann war, der zupacken konnte, er war angetrunken gewesen, und ... Soweit er sich erinnerte, war es eher peinlich gewesen. Sie hatte »Au« geschrien und: »Spinnst du?« Er hatte sich entschuldigt, und alles war wieder gut gewesen. Zumindest für den einen kurzen, verregneten Sommer.

Das heute war anders gewesen. Keine kindliche Neugier, keine Unbeholfenheit, sondern das absurde Gefühl, dass Beißen mehr war als Küssen. Beißen als Steigerung von Küssen war doch Quatsch! Als wäre Würgen oder Rippen brechen die Steigerung einer Umarmung. Das hatte doch nichts miteinander zu tun. Was war da nur in seinem Kopf vorgegangen? Leidenschaftliches Küssen sollte zu Sex führen, nicht dazu, dem Partner den Hals aufzureißen. Aber hatte er in ihr überhaupt eine Partnerin gesehen? Er hatte sie einfach haben wollen in diesem Moment, so etwas kam vor, doch es war anders gewesen als sonst. Nicht einfach der Wunsch nach Dominanz, sondern ...

»Anders, ja, ja«, motzte Alex vor sich hin. Was sagte das schon aus! Er musste konkreter werden, wenn er verstehen wollte, was in ihm vorging.

Hatte er nur daran gedacht, sie zu verletzen, oder hätte er auch ihr Blut trinken wollen, wirklich trinken? Er wusste es nicht, und es machte ihm Angst, dass er den Durst nach Blut nicht mit Sicherheit von sich weisen konnte. Durst nach Blut, wie das schon klang! Nach Vampir, natürlich, aber das war albern. Schließlich gab es keine Vampire, sie waren Fantasieprodukte und alter Aberglaube. Trotzdem betastete er seinen Hals, ob er irgendwelche Bisswunden spüren konnte. Doch da war nichts. Hätte ihn irgendwer gebissen, würde er sich ja auch daran erinnern. Außerdem war er heute schon in der prallen Sonne gewesen.

Mit Koma konnte er nicht darüber reden, mit keinem seiner Freunde, und zu einem Psychologen wollte er erst recht nicht.

Herr Doktor, ich würde gern jungen Frauen die Kehle aufheißen und ihr Blut trinken. Oder zumindest verschütten. Küssen ist mir irgendwie zu soft.

Die würden ihn doch sofort einliefern!

Und könnten Sie mir noch einen guten Augenarzt empfehlen? Ich sehe neuerdings in der Nacht besser und weiß nicht, warum.

Die Nacht war nicht plötzlich heller, es war inzwischen Mitternacht, und nicht überall konnten mehr oder stärkere Straßenlaternen leuchten als sonst. Natürlich war es großartig, besser zu sehen, aber wenn es keinen Grund dafür gab, war es auch unheimlich. Gab es Krankheiten, die mit einer Verbesserung der Sehkraft begannen und trotzdem zum Tod führten? Krankheiten, die übertragen wurden, wenn man kein Kondom benutzte?

Unsinn, so ein hirnverbrannter Unsinn, dachte Alex. Darüber würde er sich erst mal keine Sorgen machen, besser zu sehen war momentan wirklich das kleinere Problem. Er überquerte die belebte Schönhauser Allee, taxierte die Nachtschwärmer und sah nicht kurzen Röcken hinterher wie sonst, sondern freien Hälsen. Speichel lief ihm im Mund zusammen, doch der Drang zuzubeißen war schwächer ausgeprägt als vorhin bei Lisa. Dennoch war er vorhanden.

An der roten Ampel stand er hinter drei jungen Frauen, schloss so weit auf, wie er konnte, ohne sie zu berühren. Die in der Mitte hatte kurze blondierte Haare und einen freien Nacken. Erregt sog er ihr Sandelholz- und-Rosen-Parfüm ein, sie hatte geschwitzt, war gerannt oder hatte getanzt. Mit ihren Freundinnen sprach sie über irgendeine Fernsehserie, kichernd und mit Begeisterung. Als die Ampel auf Grün schaltete, wartete Alex einen Moment, hielt zwei, drei Schritte Abstand. Doch es half nichts, sie liefen in die Danziger Straße hinein, weiter vor ihm her, schon vier oder fünf Schritte voraus, und er starrte ihnen weiter auf die freien Nacken, allen dreien. Kurzentschlossen beschleunigte er und überholte, aus den Augenwinkeln sah er, dass sie hübsch waren. Die linke mit den schwarzen Locken trug eine Sonnenbrille.

Er lief weiter, doch natürlich wimmelte es auf der Danziger nur so von schönen Hälsen. Eigentlich musste er der Straße folgen, aber das würde er nicht schaffen, nicht ohne doch noch jemanden anzufallen oder über den Gedanken daran auszurasten. Er bog rechts in die Knaack-Straße ein, weg, nur weg von den Partyhorden. Er fiel in einen Laufschritt und bog bei nächster Gelegenheit links ab, in eine dieser schmalen Straßen, die parallel zur Danziger verliefen, nur wenige Kneipen oder Cafés aufwiesen und entsprechend kaum Passanten.

Schwer atmend blieb er stehen und spuckte aus. Wie wurde er diese verdammten Gedanken wieder los? Sie saßen wie Fremdkörper in ihm fest und lechzten danach, die Kontrolle zu übernehmen. Wütend schlug er mit der Faust gegen eine Hauswand, so fest, dass er zu Boden rieselnden Putz zu hören vermeinte.

»Autsch«, knirschte er. Schmerz stach ihm in die Fingerknöchel, er hätte nicht so fest zuschlagen sollen. Instinktiv hob er die Hand an den Mund, er schmeckte Blut, warmes, bitteres Blut. Sofort riss er sie wieder fort.

Vielleicht hatte ihm jemand was ins Bier getan, irgendeine Pille, etwas, das die Sinne verstärkte, schließlich hatte er ja auch geglaubt, Lisas Erregung zu riechen. Er fühlte sich zwar einigermaßen klar im Kopf, nicht so breiig wie nach zu viel Alkohol, nicht breit wie nach einer Tüte, aber gerade synthetische Drogen hatte er nicht genug probiert, um seine wirren Wünsche irgendwo zuordnen zu können. Natürlich, das war eine Möglichkeit - vielleicht rührte seine plötzliche Begeisterung für aufgerissene Hälse und Blut von irgendeinem Stoff her. Er würde einfach bis morgen abwarten, erst mal schlafen, dann würde er ja sehen, ob er noch immer so kranke Ideen im Kopf hatte oder nur einen fetten Kater und Brummschädel.