30
«*
Vor dem Gefängnis zerrte Danielle Alex quer über die breite Rathenower Straße, sie rannten vor den grellen Scheinwerfern eines heranpreschenden Autos hinüber. Der Fahrer hupte, bremste aber nicht.
Alex winkte ihm mit dem Mittelfinger hinterher und riss sich von Danielle los. Er zeigte auf die zweispurige Alt-Moabit auf der anderen Seite der JVA: »Da geht’s zum Reichstag.«
Es war nah genug, um zu laufen, ein paar Minuten vielleicht, wenn man den direkten Weg nahm.
»Und da ist eine Tankstelle.«
»Tankstelle? Willst du jetzt ein Eis oder Bier kaufen oder was?«
»Unsinn. Wir brauchen Benzin. Oder womit willst du das Herz des Blutvaters abfackeln? Mit deinem Feuerzeug?«
Daran hatte er nicht gedacht, ebenso wenig wie an den Namen des Zivis. Er war zu durcheinander und verließ sich einfach auf Danielle. Ständig dachte er an Lisa und die drei Millionen, aber nicht daran, wie sie jetzt vorgehen sollten. Warum nur hatte Danielle ihm diese verfluchte Zahl in den Kopf gesetzt? Sie lähmte ihn.
In der Tankstelle war nichts los. Hinter dem Tresen stand ein
kleiner Mann um die fünfzig, der sich eine
große verspiegelte Sonnenbrille vorn ins blaue Poloshirt gehakt
hatte. Das schwarzgraue Haar war sauber nach hinten gekämmt, auf
den Wangen zeigten sich dunkle Bartschatten. Er starrte auf einen
kleinen Fernseher, in dem ein actionreiches Nachtprogramm lief, bis
er Danielle bemerkte. Dann starrte er sie an.
Sie kauften zwei große leere Kanister und füllten sie mit Benzin, legten noch ein Brecheisen auf die Theke - warum führte die Tankstelle so was eigentlich? -, ein paar Wasserflaschen, saugfähige Wischtücher, die sich gut mit Benzin tränken ließen, und ein paar Feuerzeuge. Dazu zwei leistungsstarke Taschenlampen und eine Handvoll Batterien. Dabei flirtete Danielle mit dem Angestellten, so dass ihm gar nicht auffiel, was er ihnen da für eine Mischung verkaufte. Er lächelte, als wäre es ein Päckchen Kaugummi, während er ihnen das Wechselgeld auf einen Zweihunderter herausgab, obwohl Danielle ihm noch keinen Schein in die Hand gedrückt, sondern es nur behauptet hatte. Schließlich sah er ihr kaugummikauend hinterher, ohne sich darüber zu wundern, mit welcher Leichtigkeit Danielle ihren 20-Liter-Kanister davontrug.
Sie liefen Alt-Moabit hinunter. Leichter Wind kam auf, und am Nachthimmel entdeckte Alex ein paar kleinere Wolken, von denen sich eine langsam vor den schmalen Mond schob. Noch immer hatte er sich nicht daran gewöhnt, wie gut er im Dunkeln sehen konnte; es kam ihm gar nicht vor, als wäre es Nacht. Dank des Koffeins war er nicht müde.
Neben Danielle war er in einen leichten Trab verfallen, das Benzin im Kanister in seiner Rechten schwappte hin und her, doch ihm kamen die zwanzig Kilo leicht wie nichts vor, wie ein Beutel mit zwei CDs, die er vom Einkauf nach Hause trug.
»Wie kommen wir unter den Reichstag? Hast du ’ne Idee?«, fragte Alex. »Wir können ja schlecht fragen, ob sie uns in den Keller lassen.«
»Irgendwo da muss doch der ungenutzte Tunnel der Kanzlerbahn verlaufen«, antwortete Danielle, als sie die breite Unterführung unter den Bahngleisen entlangeilten. »Zur Not verläuft ja überall die Kanalisation.«
»Kanalisation?« Alex starrte sie an und rümpfte die Nase. Er hatte das Gefühl, dass nicht nur seine Sehkraft geschärft war, sondern auch sein Geruchssinn.
In diesem Moment brach plötzlich ein Auto auf der entgegenkommenden Spur aus und bretterte direkt auf sie zu. Der Fahrer hatte die Augen geschlossen wie im Sekundenschlaf, die Gesichtszüge waren vor Angst verzerrt, der Mund stand offen, er schrie. Alex konnte den grellen, hasserfüllten Schrei dumpf durch die geschlossenen Scheiben hören. Wie auch den Schrei der Beifahrerin, deren Augen im wilden Schreck aufgerissen waren. Panisch griff sie dem Fahrer ins Lenkrad, zerrte wie irr daran, doch der Fahrer hielt es mit aller Kraft, verteidigte seinen Kurs direkt auf Alex und Danielle zu. Brüllend gab er sogar noch Gas.
»Malek!«, kreischte die Frau, sie war jung und hatte sich für diesen Abend hübsch gemacht, die Haare waren kunstvoll hochgesteckt. So viel erkannte Alex auf den ersten Blick, und dann war das Auto auch schon heran.
Er und Danielle stoben auseinander, wichen rechts und links zur Seite, Danielle beschleunigte weiter die Straße entlang, und er bremste ab, wich zurück. Zwischen ihnen prallte der silberne Wagen gegen die dunkle Wand der Unterführung.
Die Motorhaube wurde eingedrückt, und der Airbag auf der Fahrerseite reagierte, das weiße Kissen fing den Fahrer auf. Die Beifahrerin krachte durch die Windschutzscheibe, ihre Hände lösten sich mit einem Ruck vom Lenkrad, um das sie vergeblich gekämpft hatten, und sie schmetterte gegen die Mauer. Ihr Kopf schlug mit voller Wucht auf den Stein. Alex war sicher, über all den Lärm hinweg ein Knacken zu hören. Leblos rutschte sie von den Überresten der Kühlerhaube und kam völlig verrenkt vor Alex’ Füßen zu liegen. Blut floss aus den Schnittwunden und der geplatzten Stirn. Der Fahrer regte sich hinter dem weißen Ballon. Er war aus seinem Alptraum erwacht.
Alex starrte auf das Blut am Boden, die sich langsam ausbreitende Lache, und dachte an verschütteten Wein. Dachte daran, auf die Knie zu fallen und über den Asphalt zu lecken, das kostbare Blut nicht einfach verkommen zu lassen. Mit einem Mal war sein Mund ausgedörrt.
»Weiter! Komm!«, rief Danielle von der anderen Seite des Autos her und winkte ihn die Straße hinunter.
»Aber ...« Er schüttelte sich, der Durst war verschwunden, ihm war flau im Magen, und auf der pelzigen Zunge hatte er einen ekligen Geschmack nach Vergammeltem. Er sah das Blut an, die tote Frau, und fühlte Mitleid, keinen Durst. Er wurde wütend.
»Wir haben keine Zeit! Oder meinst du, der ist zufällig auf uns zugerast?«
»Nein, natürlich nicht, aber wir müssen ...«
»Wir müssen den ganzen Wahnsinn stoppen! Ruf den Krankenwagen im Weiterlaufen. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.«
Alex trat fluchend gegen das Auto und zerrte das Handy aus der Tasche. Nur mühsam konnte er den Blick von der Toten lösen, von ihrem aufgeplatzten Kopf. Eine völlig Unbeteiligte, die nichts getan hatte, als im falschen Auto zu sitzen. Warum hat sich die blöde Kuh nicht angeschnallt?, dachte Alex, doch seine Wut richtete sich gegen einen anderen.
»Dafür zahlst du«, knurrte Alex und spuckte auf den Boden. »Du wirst brennen.«
Er wählte den Notruf und lief los. Wusste der Blutvater, wo sie waren? Oder hatte hier nur zufällig ein Alptraum zugeschlagen, einer, der eigentlich ihm gegolten hatte, hätte er inzwischen nicht mehr Koffein in den Adern als Blut?
Eine ruhige Stimme meldete sich bei der Notrufstelle, und Alex gab den Unfallort durch und dass es wohl eine Tote gab und einen Verletzten. Dann beendete er die Verbindung.
Sie überquerten die behäbige Spree, spurteten am Bundeskanzleramt vorbei, das ihn immer an ein Hindernis einer Minigolfanlage für Riesen erinnerte, und eilten auf das nur noch zwei-, dreihundert Meter entfernte Reichstagsgebäude zu, dessen erleuchtete Glaskuppel weithin sichtbar war.
»Und jetzt?«, fragte Alex und überließ damit wieder Danielle das Kommando.
»Da drüben geht’s runter.« Danielle deutete auf eine abgesperrte Rampe und Treppe, die nahe dem Bundestag in die Tiefe führte. Die Wände waren jungfräulich weiß, die Stufen blanker hellgrauer Beton. Rasch blickten sie in alle Richtungen, dann kletterten sie über die Absperrung und stiegen in die Tiefe.
Am Ende der Treppe wandten sie sich nach rechts, wo ihr Weg schon nach wenigen Metern vor einer improvisierten Wand aus dicken Spanplatten endete, in die eine Tür eingelassen war. Mehrere Tags prangten an der Wand. Alex rüttelte vergeblich an der Tür, sie war natürlich verschlossen.
»Lass mich.« Danielle schob ihn zur Seite und setzte das Brecheisen an. Mit einer lockeren Bewegung aus dem Handgelenk hebelte sie das Schloss aus dem Holz und drückte die Tür auf.
Sie schlüpften hindurch und zogen die Tür wieder zu, klemmten sie mit drei Steinchen vom Boden fest, damit auf den ersten Blick nicht auffiel, dass sie aufgebrochen war.
Hinter der Wand war es stockdunkel, Alex sah trotz seiner neuerdings außergewöhnlichen Sehfähigkeit kaum etwas. Mit tastenden Fingern kramte er eine Taschenlampe aus der Tüte und schaltete sie ein. Ein weißer Lichtkreis erschien auf der Betonwand vor ihm, und seine Sicht kehrte zurück. Das Licht der Lampe reichte aus, um auch in den düstersten Ecken etwas erkennen zu können.
»Weiter«, drängte Danielle und eilte die nächste Treppe hinab, die zu den für 2010 oder 2011 oder wann auch immer geplanten Bahnsteigen hinabführte. Ihre Schritte waren schnell und sicher, auch sie schien mit wenig Licht gut auszukommen. Alex klemmte die Lampe in den kurzen Rüssel, der am Kanister festgemacht war, um die Hände frei zu haben für das Benzin und die Tüte, und folgte ihr.
Das Klacken ihrer Stiefel hallte hörbar in der unterirdischen Halle, die den zukünftigen Bahnsteig der Haltestelle bildete. Alex hörte ihren Atem und seinen, das leise Schaben des Kanisters an seiner Jeans und natürlich auch seine eigenen Schritte, obschon die Gummisohlen der schwarzen Chucks viel dumpfer aufsetzten als die kurzen Absätze Danielles. Abgesehen davon herrschte hier unten Stille.
Eine Stille, die man so sonst nicht in Städten zu hören bekam. Die mehrere Meter dicke Schicht aus Erde und Beton über ihren Köpfen schluckte jedes Geräusch von draußen. Lediglich durch den Weg, den sie hereingekommen waren, drangen nächtliche Geräusche, doch auch die waren eher zu erahnen als wirklich wahrzunehmen. Vielleicht wurden sie auch durch irgendwelche Lüftungsschächte hereingeweht, die Alex im ersten Moment nicht entdecken konnte, dennoch war es still, beinahe unheimlich still.
Zahlreiche dicke, grau melierte Säulen stützten die Decke der Station, Lampen in der Form von Viertelkreisen waren um sie in den Beton eingelassen, doch nicht eine von ihnen brannte. Die Luft war kühl und schmeckte nach Baustelle; Alex hatte das Gefühl, als würde sich feinster Staub auf seine Zunge und die Innenwände seiner Nase legen.
Am Rand der tiefer gelegenen Passagen, in denen irgendwann die Gleise verlegt werden würden - sollte Berlin vorher nicht völlig pleitegehen -, waren Absperrzäune errichtet worden, die aus im Boden versenkten Eisenstangen mit Aufhängungen und dort eingeführten roten Eisenrohren als Querstreben bestanden.
Danielle zerrte eines dieser etwa drei Meter langen Rohre heraus und brach es in der Mitte entzwei. »Nimm dir auch eins.«
»Wozu das?«
»Wir müssen sein Herz in der Erde festnageln, bevor wir es verbrennen.«
»Braucht man dazu nicht einen Holzpflock?«, setzte Alex an, doch noch bevor sie etwas erwidern konnte, winkte er selbst ab.
Die Kreatur in der Scheune hatten sie damals mit einer Heugabel festgesetzt, mit Zinken aus Eisen. Unwillkürlich rieb er über seine Narbe, die seit Tagen kaum noch gejuckt hatte.
Was wir damals mit zehn geschafft haben, das wird mir doch als Erwachsener gelingen, dachte er. Aber damals hatten sie keine Angst gehabt, oder nicht mehr als vor einem Hund, und Jochen und Franz hatten ihm einfach nur zur Hilfe eilen wollen. Jetzt hatte Alex Angst, der schnelle Herzschlag stammte nicht vom Koffein allein. Die Kreatur in der Scheune war ein Wesen gewesen, das Danielle für zu klein für Niederbachingen gehalten hatte, ein Wesen, das aus dem Blut eines wenige Höfe umfassenden Weihers gewachsen sein konnte, aus den zwei Einsiedlerhöfen bei den Fischweihern. Und jetzt versuchten sie, den Blutvater Berlins zu töten, der sich von dem Blut und den Tränen von dreieinhalb Millionen nährte. Ganz zu schweigen von Hunderttausenden Touristen.
Wie groß würde er sein?
Alex war flau im Magen, er setzte Kanister und Plastiktüte ab und löste ein Eisenrohr aus der Verankerung. Es war nicht ganz so leicht, wie er gedacht hatte, aber auch keine ernstzunehmende Waffe gegen ein Wesen so groß wie Berlin.
So groß wie Berlin, das war Irrsinn.
Mit dem Rohr in der Hand sprang er in die Rinne für die Bahn hinab, wo er es mit einem Ende auf einen kleinen Sockel legte. Dann trat er mit dem Fuß auf die in der Luft schwebende Mitte und drückte sie zu Boden, knickte so das Rohr in zwei Teile. Er hob sie auf und schwenkte sie misstrauisch durch die Luft.
»Wie groß war der Blutvater von Sodom?«, fragte er, obwohl er es eigentlich gar nicht wissen wollte. So groß wie eine Stadt konnte er einfach nicht gewesen sein.
»Groß«, antwortete Danielle knapp, die offenbar auch nicht darüber reden, sich nicht erinnern wollte. Auch sie wirkte angespannt. Sie reichte ihm beide Kanister und die Tüte sowie ihre beiden Rohre herunter, dann sprang sie zu ihm hinab.
»Ziemlich viel Zeug, was wir da mitschleppen. Auf eine Verfolgungsjagd sollten wir uns nicht einlassen«, versuchte Alex zu scherzen, doch ein Grinsen wollte sich nicht auf seinen Lippen zeigen.
Auch Danielle nickte nur knapp.
»Der rechte Tunnel dürfte unserer sein. Der führt näher an den Reichstag heran«, sagte sie.
Alex leuchtete einmal im Gleistunnel zurück, der Strahl der Taschenlampe tanzte über den blanken Boden und verlor sich irgendwo in der Schwärze Richtung Hauptbahnhof. Auch in dieser Richtung verliefen noch keine Gleise. Niemand war zu sehen.
Dann wandte er sich nach vorn und schloss rasch zu Danielle auf. Feiner heller Staub lag auf dem Boden, und kurz bevor sie die Station verließen, entdeckte er einen verbogenen Nagel an der linken Kante. Anderes Werkzeug oder Überbleibsel von den Bauarbeiten hatte er nirgendwo bemerkt. Der Ort war verlassen und still. Über viele Meter erstreckte sich der Tunnel schnurgerade vor ihnen, bis er in einer sanften Kurve nach links schwenkte. Die nächste Haltestelle lag außerhalb ihrer Sichtweite. Zu zweit wirkten sie hier unten fast verloren, und Alex fragte sich, wie viele Vampire sich wohl beim Herzen des Blutvaters aufhalten mochten. Mindestens vier hatten ihm vor Lisas Wohnung aufgelauert - was würden sie tun, wenn hier zwanzig oder dreißig auf sie warteten?
»Wie wollen wir ihn überhaupt finden?«, fragte Alex.
»Mit unseren Ohren und den Fingerkuppen. Und mit deinem Blut«, antwortete Danielle ohne irgendeine Regung in der Stimme.
»Mit meinem Blut?« Alex klappte der Mund auf.
»Ja. Wir brauchen schließlich einen Köder, um ihn aus der Erde zu locken, und mein Blut geht schlecht. Wir wollen ihn vernichten, nicht erwecken.«
Alex blieb stehen. Einen Köder? Er war der Köder?
»Komm weiter!«, drängte Danielle.
»Bei dir piept’s wohl! Erst sagst du mir, was du mit meinem Blut vorhast!« Er sah sich schon auf dem kahlen Betonboden liegen, beide Handgelenke aufgeschnitten. Blut sprudelte hervor, Danielle kniete über ihm und öffnete die Wunden immer wieder, wenn sie zu verheilen drohten. Oft hatte er sich einen Selbstmord mit aufgeschnittenen Pulsadern vorgestellt, doch jetzt wollte er nicht mehr, er wollte leben.
Drei Millionen.
Verdammte drei Millionen! Er hatte keine Lust, sich zu opfern! Davon war nie die Rede gewesen, stets hatte er gedacht, sie würden kämpfen. Beide, nicht nur Danielle. Die scharfe, begehrenswerte, uralte Danielle, die von sich sagte, niemanden länger als eine Nacht begehrt zu haben - abgesehen von ihm. Wie konnte sie da ihn opfern?
Drei Millionen.
So ein Unsinn! Das war nur eine dahingesagte Zahl, niemand konnte genau wissen, um wie viele Menschenleben es tatsächlich ging. Aber es ging um viele, so viel war klar, und um Lisa. Lisa war keine Zahl, keine schlichte Eins, Lisa war fassbar, oder war es zumindest gewesen. Auch wenn sie seit der einen Nacht unerreichbar geworden war, musste er alles versuchen, sie zu retten. Alles. Sie war keine von ihnen, egal, was Sandy gesagt hatte.
Wenn Danielle ihn küsste, ihm zwischen die Beine griff und sich dann etwas wünschte, würde er es versprechen, das wusste er. Er würde ihr auch nicht abschlagen, den Köder zu spielen.
Aber wenn sie schon einen blutigen Köder brauchten, hätten sie dann nicht einfach den traumbesessenen Autofahrer hinter seinem Airback hervorzerren und mitschleifen können? Er hatte versucht, sie beide zu töten, und hatte seine Frau auf dem Gewissen. Auch wenn es natürlich nicht seine Idee gewesen war.
Alex wusste nicht, ob er ihn oder irgendeinen anderen Menschen wirklich hätte opfern können, mit voller Absicht ausbluten, um den Blutvater anzulocken. Er wusste nur, dass er nicht sterben wollte, auch nicht, um drei Millionen zu retten. Um Lisa zu retten, seine Freunde. Er wollte nicht sterben, verdammt, aber wie konnte er es verweigern, wenn es der einzige Weg war?
»Hallo!« Danielle wurde laut und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. »Danielle an Alex! Hast du mir zugehört?«
»Was? Wie? Nein ...«
»Ich sagte, wir müssen ihn aufspüren und dann mit ein wenig Blut von dir herauslocken. Ein paar Tropfen sollten genügen, mehr wären besser, aber du solltest nicht allzu geschwächt in den Kampf gehen.«
»Ähm, ja, klar.« Ein paar Tropfen also. Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Idiot!
»Und jetzt sei mal still.«
Sie blieben stehen und versuchten, nicht das geringste Geräusch zu machen. Alex hielt die Luft an, um nicht einmal zu atmen. Doch er hörte nichts, absolut gar nichts.
Halt! Irgendwo trippelten ganz fern kleine Füßchen über den
Beton, ein kaum zu vernehmendes Kratzen.
Eine Maus oder Ratte, nicht das, was sie suchten. Vorsichtig atmete
er aus und sog frische Luft in die Lungen. Diese verdammte Stille
machte ihn nervös. Seine Nerven waren bis aufs Letzte angespannt,
er erwartete jeden Moment, dass irgendwo die Wand aufplatzte und
Dutzende Vampire mit gierig aufgerissenen Mündern hervorbrachen.
Das war Unsinn, und dennoch fraß sich diese Vorstellung in sein
Gehirn.
Mit der Zeit vermeinte er ein leises Summen zu hören, ein Vibrieren wie das, was in der Nähe von Spannungswerken in der Luft lag, und auch unter Hochspannungsleitungen. Ein Geräusch, das man nicht richtig fassen konnte und das sich doch auf den ganzen Körper legte, ebenso fühlbar wie hörbar.
»Ich glaube ...«
»Scht!« Danielle legte das Ohr an den Beton und setzte die Fingerspitzen ganz sanft an die Wand, als wollte sie etwas ertasten. Sie schloss die Augen und verharrte einen Augenblick so. Dann löste sie sich von der Wand. »Noch ein paar Schritte weiter.«
Schweigend folgte ihr Alex. Nach vielleicht zehn Metern lauschte sie erneut. Er hielt die Luft an, hatte noch immer das Gefühl, unter einem Hochspannungsmast zu stehen.
»Hör du mal«, flüsterte Danielle.
Auch wenn Alex nicht wusste, auf was er achten sollte, schloss er die Augen und presste das rechte Ohr gegen den kühlen Beton. Er legte es direkt auf eine der mit Verputz verschmierten, rauen Ritzen, die zwischen den einzelnen Betonplatten verliefen.
Unter seinen Fingerspitzen schien der Beton leicht zu zittern, er fühlte ein Kribbeln, das sich auf seine Haut legte wie die haarigen Beine wuselnder Insekten. Nein, eher wie kleine Nadeln, die in ihn stachen. Auch Ohr und Wange wurden von diesem Kribbeln überzogen. Das Summen, das er zu hören vermeint hatte, wurde deutlicher, als würde es durch den Beton herangetragen, als läge es direkt dahinter. Ein Summen aus der Erde, das ihm irgendwie vertraut vorkam, ihn an etwas zu erinnern schien. Er wusste nicht, an was, lauschte weiter, ließ das Summen in seinen Kopf eindringen und hatte plötzlich wieder den Moment vor sich, als Lisa auf seiner Schlafzimmerschwelle kauerte und vor und zurück wippte. Mit aufgerissenen Augen voller Abscheu, Angst und Schmerz.
Den Abend, an dem er Lisa gebrochen hatte, an dem er sie in den Selbstmord getrieben hatte, sie, die ihm vertraut hatte, die sich verliebt hatte.
Tot.
Denn Lisa war nie heimgelaufen, sie hatte sich an einem großen grauen Strommast erhängt, hoch oben, wo die stets hungrigen Krähen ihre im Wind baumelnde Leiche leicht anfliegen konnten. Schwarze Krähen saßen auf ihren schmalen, nackten Schultern und zerrten an ihrem verstrubbelten Haar, pickten nach Ohren und Augen. Eine Krähe krallte sich wie ein Specht in ihre Brust und hackte unablässig nach ihrem Herzen. Blut floss über ihre bleiche Haut, tropfte mit Fleischstückchen vermischt zu Boden. Mit jedem Picken drang der rot befleckte Schnabel näher an Lisas Herz.
Ihre Augen waren nur noch schwarze Höhlen.
Sie war tot, und ihre letzten Atemzüge reisten nun mit dem Wind, ein weiterer dünner Hauch im Heulen der Stürme.
Sie war tot, weil Danielle ihre unmenschliche Macht zur Verführung eingesetzt hatte, Alex noch einmal vor Lisas Augen betört hatte, weil er nach seiner ersten Nacht mit ihr nicht endgültig gebrochen war, weil er Danielle nur vermisste, weil er nur Schmerzen litt und dennoch mit Lisa Glück hätte finden können. Dieses Glück nach einer Nacht mit ihr ertrug Danielle nicht.
Sie war nicht auf Sex aus, sondern auf gebrochene Herzen. Ein man eater, eine femme fatale, gezeugt von einem gefallenen Engel, eine, die keiner Frau ein Herz gönnte, das sie einmal besessen hatte. Eine unerbittliche Getriebene, die quasi Leidenschaft der verbrannten Erde praktizierte, die aus Männern in einer Nacht Besessene machte, die fortan für niemanden mehr etwas empfinden konnten, sondern nur ihr nachweinen, ihr einen Schrein mit goldgerahmten Fotografien errichteten, einen Altar verflossener Lust im Schlafzimmer.
Danielle hatte Lisa auf dem Gewissen, niemand sonst. Alles andere waren Lügen der selbstsüchtigen Nephilim, die sich von gebrochenen Herzen nährte.
Solange sie lebte, gab es für Tausende Männer kein Glück mehr.
Alex konnte Lisa nicht mehr retten, er konnte sie nur rächen. Verzweifelt stand er unter dem grauen Hochspannungsmast, von dessen Spitze ihre Leiche im Wind baumelte. Er wollte sie herunterholen, bevor die vermaledeite Krähe ihr ganzes Herz herausgepickt hatte, doch er konnte nicht hinauf. So sehr er sich auch bemühte, er bekam den Mast nicht zu fassen, als würde dieser ihm ausweichen, seine Querstreben entziehen, die dreckverkrusteten Tritteisen.
Da entdeckte er Danielle, die ihm belustigt zusah und sich gierig über die rosa Lippen leckte. Sie hielt einen Spaten in der Hand, mit dem sie bis eben noch ein Loch ausgehoben hatte, ein Grab. Es war nicht für Lisa, es war für ihn bestimmt, fern aller heiligen Erde, eine schmucklose Grube für einen sündigen Selbstmörder. Auch er sollte sich umbringen.
Aber das würde er nicht!
Mit einem wilden Aufschrei stürzte er sich auf Danielle, riss sie zu Boden. Sie schlang die Beine um ihn, presste sie gegen seine Hüfte, zog ihn her zu sich, sah ihn mit ihren hypnotischen Augen an.
Er krallte seine Hände in ihr herrlich volles Haar, schmetterte
ihren Kopf gegen die Erde, immer wieder.
Er sah nicht hin, um nicht diesem Blick zu begegnen, um nicht diese
Lippen zu sehen, die er küssen wollte, die er küssen sollte.
Als ihre Beine kurz schwach wurden, wand er sich aus ihrer
Umklammerung, stieß Danielle von sich, griff
sich den Spaten, um ihr mit den scharfen Kanten seines Blatts den
Schädel zu spalten, oder wenigstens die Brust, Hauptsache, es würde
Blut spritzen. Es war ein heißer Sommer, die Erde dürstete nach
Flüssigkeit. Sie musste trinken, dringend trinken, sie war so
trocken und ausgedörrt. Und Danielle musste sterben. Sie hatte ihr
Grab ausgehoben, nicht seines. Er schlug zu, sie wich zur Seite.
Sein Hieb streifte sie nur im Gesicht, und ihre Wange platzte auf.
Lachend holte er erneut aus.
Da wurde er von einem Tritt in den Bauch getroffen und taumelte zurück, schlug gegen den Hochspannungsmast, nein, gegen Beton, eine Wand. Er wurde im Gesicht getroffen, riss die Arme schützend hoch und murmelte: »Nein.«
Er wusste nicht, was los war, sprang zur Seite und öffnete die Augen.
Er befand sich in einem langen grauen Tunnel und hielt ein fast mannshohes rotes Eisenrohr umklammert. Es brauchte nur einen Augenblick, dann erinnerte er sich wieder an alles. Er musste eingenickt sein. »Verflucht! Tut mir leid.«
»Das kannst du laut sagen!« Danielle stand vor ihm, sie hatte sich ebenfalls ein Rohr gegriffen und blutete aus der Nase, über ihre linke Wange verlief ein Riss. »Friss deinen Kaffee, verdammt!«
Alex warf sich vor ihr auf die Knie, dort, wo ihr Blut zu Boden gespritzt war. Nephilimblut, das den Blutvater erwecken konnte.
»Nein!« Was hatte er im Traum getan? Er riss sich das Shirt über den Kopf und wischte das Blut auf. Panisch suchte er nach jedem Tropfen, jedem kleinen Spritzer.
»Ist ja schön, dass dich die Sauberkeit eines U-Bahn-Tunnels mehr interessiert als meine Gesundheit«, giftete Danielle und reichte ihm die Packung Kaffee.
»Nein! Es ist seinetwegen! Es darf nichts versickern, er darf es
nicht bekommen.« Panisch kroch Alex hin
und her, presste das Shirt auf jeden Blutfleck, rubbelte auf dem
Beton herum.
»Ja, schon gut.« Sie legte ihm die Hand auf den Oberarm. Er
wollte sich losreißen, doch sie hielt ihn fest.
»Das ist keine Erde. Es ist Beton, hier versickert nichts.«
Alex starrte auf den Boden und war noch nie so froh, kalten, grauen, leblosen Beton zu sehen. Er fing an zu lachen, seine Stimme schnappte über, er lachte Tränen. Die Anspannung fiel von ihm ab, für ein paar Sekunden. Dann packte er den Kaffee, nahm zwei gehäufte Löffel und nach kurzem Zögern noch einen dritten hinterher.
Währenddessen wischte Danielle das restliche Blut auf und gab ihm sein Shirt mit einem Schulterzucken wieder. Er schlüpfte trotzdem hinein, es war kühl hier unten.
»Warum hast du es dann doch so gründlich aufgewischt?«, fragte er.
»Ich bin nicht sicher, ob ich mit dem Beton Recht habe. Ich weiß nicht, ob jemand wie er nicht doch Beton wie einen Schwamm verwenden kann.«
Alex schloss die Augen, nur eine Sekunde lang, und sein Herz pochte so wild, er nickte nicht ein. Er atmete durch und sagte: »Dann sollten wir uns jetzt ganz dringend beeilen.«