7

Es war kalt und dunkel, so dunkel, dass er nichts sehen konnte. Irgendwo tropfte Wasser zu Boden, ganz langsam, Tropfen um Tropfen, wie aus einem alten undichten Hahn. Mit einem hellen Plitsch traf das Wasser auf die Erde, dann war drei, vier Herzschläge lang Ruhe, bevor ein weiteres Plitsch die Dunkelheit durchbrach.

Und wieder Stille, nur durchbrochen von Georgs schniefendem Atem.

Plitsch.

Wieder und wieder. Jeder Tropfen traf hart auf seine Nerven, jedes Mal zuckte Georg zusammen, er wusste nicht, ob sie den Hahn extra für ihn nicht ganz zugedreht hatten, ob sie ihn damit quälen wollten. Er wusste nicht einmal mit Gewissheit, ob es überhaupt ein Hahn war, oder vielleicht ein altes Rohr, das leckte, oder was auch immer.

Plitsch, bohrte es sich in seine Ohren. Das Geräusch war alles, was mit ihm hier unten in der Dunkelheit eingesperrt war.

Seine gefesselten Hände und Füße waren taub, die geschwollene Zunge schmeckte schon lange nicht mehr den bitteren, salzigen Geschmack des alten Lumpen, den sie ihm als Knebel in den Mund gesteckt hatten. Staub und Fussel hatte er genug mit seinem Speichel geschluckt, jetzt war ihm übel, und sein Atem ging rasselnd.

Sie waren zu dritt gewesen, zwei junge Männer und eine Frau, alle drei schwarz gekleidet und mit schweren Schuhen trotz des warmen Wetters. Er wusste nicht, ob sie ihm aufgelauert hatten, ob es ein Zufall gewesen war, dass er plötzlich allein mit ihnen in dieser Gasse gewesen war. Mit ihnen und dem Pärchen, das davongeeilt war, als sie angefangen hatten, auf ihn einzudreschen. Harte, schnelle Schläge, er war sofort zu Boden gegangen, hatte nicht einmal an Flucht denken können, nur daran, den Kopf mit den Armen zu schützen. So gut es eben ging. Stumm hatten sie auf ihn eingetreten, sie hatten ihn nicht beschimpft wie andere. Und als er nur noch gewimmert hatte, gebettelt, sie mögen aufhören, hatte sich einer der Männer ihn über die Schulter geworfen, als wiege er nichts, und sie hatten ihn hier heruntergeschleppt, in die fensterlose Tiefe, und gefesselt. Allein gelassen.

Er wusste nicht, was sie von ihm wollten. Sie hatten ihm nicht gedroht, hatten keinen Ton gesagt, sich unterwegs nur über einen Film unterhalten. Ohne ein einziges Mal das Wort an ihn zu richten, hatten sie ihn einfach allein gelassen mit seinen Schmerzen und der Angst.

Plitsch.

Das Atmen fiel ihm immer schwerer, er bekam kaum noch Luft, der Knebel verdeckte die Nasenlöcher zur Hälfte, und er hatte Schnupfen. Die Nase war zu, mit jedem Niesen tropfte Rotz auf den Knebel, Rotz, den er nicht wegwischen konnte, nicht einmal an der Schulter abwischen, nur mühsam hochziehen oder laufen lassen. Sein Brustkasten wurde von dumpfem Schmerz beherrscht, eine Rippe stach bei jedem Atemzug, als wäre sie gebrochen.

Plitsch.

Was wollten sie von ihm? Diese Ungewissheit machte ihn fertig. Würden sie ihn hier einfach verrecken lassen, ersticken lassen? Panik packte ihn, er japste nach Luft, und die gebrochene Rippe stach ihm nur noch heftiger in die Seite.

Er wusste nicht, wie lange er schon hier war, ein oder zwei Stunden vielleicht. Es spielte keine Rolle, niemand würde ihn vermissen, zumindest nicht genug, um die Polizei einzuschalten. Niemand würde ihm helfen, so wie ihm das Pärchen nicht geholfen hatte.

Es roch nach Moder und frisch aufgebrochener Mauer, die Luft war feucht und doch staubig. Langsam fielen die Tropfen zu Boden. Mit jedem Plitsch wuchs Georgs Angst.

Was konnten sie von ihm wollen?

Er besaß doch nichts von Wert, und er hatte niemandem etwas getan. Zumindest nichts Schlimmes. Nur mal hier und da eine Kleinigkeit geklaut, doch nie mehr, als er brauchte. Dafür hetzte man einem doch keine Schläger auf den Hals.

Plitsch.

Was hatte er nur getan? Weiter und weiter zermarterte er sich das Gehirn, aber ihm wollte nichts einfallen. Wollte irgendwer ein Exempel statuieren? Waren das kranke Spinner, die einen dieser Snuff-Filme drehen wollten? Panisch zerrte er an seinen Fesseln, aber er kam nicht frei, er keuchte nur noch mehr, und die Rippe stach und stach in seine Brust. Er wollte nicht sterben!

Plitsch.

Nein! Er würde nicht sterben. Es gab keine Snuff-Filme. Irgendwann würden sie ihn laufen lassen. Ja, sie würden ihn laufen lassen, sagte er sich immer wieder, während er auf dem bitteren Knebel herumkaute.

Endlich, nach scheinbaren Ewigkeiten, näherten sich gedämpfte Schritte und Murmeln, eine Tür wurde geöffnet, nur wenige Meter vor ihm. Dabei quietschte die Klinke, und irgendetwas kratzte über den Boden, doch es blieb finster, und auch die Luft wurde nicht frischer. Die Schritte waren nun deutlich zu vernehmen und kamen entschlossen auf ihn zu. Georg konnte nichts sehen, nur Schemen erahnen.

»Ein Obdachloser! Muss das sein?«, sagte eine tiefe Stimme. Sie klang angewidert und tief enttäuscht.

»Hat sich eben so ergeben«, entgegnete eine höhere Männerstimme, die Georg als die eines seiner Entführer erkannte.

Hat sich so ergeben? Was bedeutete das? Es klang so beiläufig, als hätte er die falsche Sorte Eis gekauft. Überhaupt klangen die beiden, als könnten sie sehen. Wieso konnten sie das und Georg nicht? Was war mit seinen Augen los? Wurde er blind?

»Ihr wisst aber, dass ich das nicht mag«, motzte die tiefe Stimme.

»Ja, wissen wir.« Der andere klang genervt. »Aber es fällt einfach weniger auf als das Verschwinden richtiger Bürger. Wir müssen aufpassen.«

Verschwinden. Kalte Angst umklammerte nun Georgs Brustkasten. Ging es etwa doch um Snuff-Filme? Er biss in den Knebel, Tränen rannen seine Wangen hinab, und er versuchte mit den Fingern seine Fesseln zu lösen, zum hundertsten Mal. Doch die Finger waren taub und gefühllos.

»Aufpassen?« Die tiefe Stimme spuckte das Wort richtiggehend aus. Sie klang sauer. »Wir? Ist dir eigentlich klar, wer wir sind?«

»Mir ist klar, wer wir bald sein werden. Dann muss auch niemand mehr aufpassen. Aber noch ...«

»Nein, nichts da! Ich trinke keine Obdachlosen, keine ungewaschenen, stinkenden Bastarde. Junge Frauen machen mich an. Ich will junge schöne Frauen.«

Trinken? Georg verstand nichts, vielleicht wollte er auch nur nicht. Sein Magen krampfte sich zusammen, die Stimmen klangen nicht nach Gnade, sondern nach kaltem Irrsinn. Immer mehr Tränen liefen ihm die Wangen hinab, panisch zerrte er an seinen Fesseln. Wieder und wieder, als müssten sie jetzt endlich nachgeben, obwohl sie es stundenlang nicht getan hatten. Aber das spielte keine Rolle. Nichts spielte jetzt eine Rolle außer der blinden Angst. Er zerrte und brüllte gegen den Knebel an, doch der gedämpfte Schrei, nicht mehr als ein gurgelndes Röcheln, brachte die beiden Stimmen nur zum Lachen, kalt und freudlos.

»Schau ihn dir doch an«, sagte die tiefe Stimme voller Abscheu. »Was für ein erbärmlicher Anblick. Da vergeht einem doch der Appetit, bei dieser verheulten, verstunkenen Rotznase. Ich mag es, wenn sich eine schöne Frau in ihren Fesseln windet. Das hier ist einfach nur abstoßend. Von dem trinke ich nicht. Nein.«

»Bitte, dann eben nicht. Beschwer’ dich aber nicht, wenn du nachher Durst hast.«

»Ich beschwere mich nicht, ich fang’ mir einfach selber was.«

Was um alles in der Welt waren das für Wahnsinnige?

Georg riss mit aller Gewalt an seinen Fesseln, die nackte Angst setzte noch einmal allerletzte Kraftreserven frei. Trockene Haut schürfte auf, die Adern an den Handgelenken pochten, als wollten sie jeden Moment platzen. Da packte ihn eine kräftige Hand an den Haaren und hielt ihn unerbittlich fest. Eine kalte, furchtbar starke Hand.

Aus Georgs dumpfen Schreien wurde ein flehendes Quieken, er brüllte nicht mehr Nein, sondern vor Schmerz. Und: Bitte! Immer wieder Bitte, Bitte, Bitte. Er glaubte nicht, dass diese Stimmen Gnade kannten, aber er wusste, dass er sich selbst nicht mehr helfen konnte. Wider besseres Wissen flehte er um ihr Mitleid, flehte nach einem Gott, der irgendwo dort oben sein sollte. Doch es half nichts, auch sein Flehen drang nur als unverständliches Röcheln durch den Knebel.

Etwas traf ihn am Hals, etwas Kaltes, Schweres, Scharfes - ein Messer? -, und ein Brennen zog sich unter seinem Kinn entlang, ein scharfes Brennen, das den Schmerz in seinem Brustkorb übertönte. Alle Worte wurden ihm zerschnitten, und er spürte, wie etwas aus ihm heraussprudelte und warm über die Brust hinablief, von dem dünnen Hemd aufgesogen wurde oder zu Boden tropfte.

»Hey. Weint er?«

»Ja.«

»Sehr gut.«

Aus Georgs Kehle drang nur noch ein Gurgeln und warmes Blut, er wusste, er würde sterben, und doch hörte er nicht auf, gegen die Fesseln anzukämpfen. Er wollte um sich schlagen, nur um sich schlagen, doch er brachte nicht mehr zustande als ein harmloses Zappeln.

Er spürte, wie sich volle Lippen gierig auf seine Halswunde pressten, wie jemand an ihm sog und schluckte.

»Das ist widerlich«, ätzte die tiefe Stimme. »Du hast nicht mal den dreckigen Hals abgewischt.«

Lautlos wünschte Georg der Stimme den schlimmsten aller Tode. Er flehte nicht mehr um Gnade oder Hilfe, er kämpfte nicht mehr, er wünschte sich nur noch, dass irgendwer ihn irgendwann rächen würde.

Dann lösten sich die Lippen von seinem Hals, und sein Kopf wurde nach unten gedrückt, zu seinen Knien, und hin und her geschüttelt.

»Halt doch die Klappe.« Die hohe Stimme sprach mit ihrem Kameraden, nicht mit Georg.

Blut spritzte auf den Boden.

Dann wurde sein Kopf wieder hochgerissen, und die durstigen Lippen legten sich erneut auf seinen Hals und tranken. Georg wurde schwächer und schwächer, er zerrte nun nicht mehr an seinen Fesseln, sondern zuckte nur, von Weinkrämpfen geschüttelt.

»Hey, jetzt ist gut«, sagte die tiefe Stimme.

Georg nahm sie nur noch gedämpft wahr, als wären seine Ohren mit Wasser oder Watte verstopft.

»Trink nicht alles. Lass noch was auf den Boden fließen.«

Nach einem letzten tiefen Zug löste sich der Mund wieder und sagte: »Schon gut. Hilf mir mal, den Burschen umzudrehen. Damit es richtig läuft.«

»Ich will den nicht trinken, hab ich gesagt, und ich will ihn auch nicht anfassen.«

»Verwöhnter Rotzlöffel.«

Das waren die letzten Worte, die Georg bewusst vernahm. Dann wurden seine Füße von starken Armen in die Luft gerissen, sein Kopf knallte zu Boden. Es knirschte, stechender Schmerz fuhr ihm quer durch den Schädel. Er spürte noch, wie ihm das Blut über das Kinn ins Gesicht lief, über die Wangen und Ohren ins Haar, dann dämmerte er weg. Keine Erinnerungen zogen an ihm vorbei, da war nur Schmerz, bis ihn die endgültige Schwärze umfing ...