12

Eine schlanke Gestalt huscht über die Hausdächer einer nächtlichen Stadt. Mit vollen Lippen flüstert sie Träume von Sehnsucht und Verlangen durch die Schornsteine hinab, ihr Atem riecht nach fernem Meer, Wüste und herauf dämmerndem Gewitter. Unruhig wälzen sich die Schlafenden unter ihren Worten hin und her, sie schnappen nach Luft wie Ertrinkende.

Er schläft nicht, steht am Fenster. Als er ihre Stimme hört, steigt er hinaus und klettert am Gitter eines abgestorbenen Weinstocks aufs Dach. Oben sieht er sie gerade auf das Nachbarhaus eilen, das mit seinem verbunden ist. Der Mond leuchtet hell. Er folgt ihr, beim nächsten Schornstein wird er sie einholen. Er weiß nicht, was er von ihr will, er weiß nur, dass er sie erreichen muss.

»Niemand kann mich einholen«, lacht sie und rennt weiter, sie hat ihn bemerkt, ohne sich umzudrehen.

Er rennt und rennt und rennt, Schweiß läuft ihm von der Stirn und trocknet fest, Tropfen neben Tropfen, so dass sein Gesicht ganz hart und reglos wird wie unter einer Maske aus durchsichtigem Gips. Er atmet so heftig, dass seine Lunge sticht. Doch sein Herz spürt er nicht schlagen, als wäre es aus Stein oder nichts weiter als eine leere Höhlung in seiner Brust. Ganz langsam holt er auf.

Dann ist die Häuserreihe zu Ende.

Sie läuft einfach weiter, springt ab und fliegt lachend zehn oder zwanzig Meter durch die Luft, landet jenseits der Straßenschlucht auf einem Haus mit rotem Dach und großem Schornstein.

Auch er springt. Mit aller Kraft stößt er sich ab, doch der Wind will ihn nicht tragen, die Erde zieht ihn an. Er stürzt, fällt in die Tiefe, hinab in Richtung grauer Straße, auf der ein Bagger auf ihn wartet. Seine Schaufel schwenkt hin und her, schnappt auf und zu, das Maul eines mechanischen Krokodils. Es schnappt mit seinen erdverkrusteten Stahlzähnen nach ihm. Packt ihn und beißt ihn im Sturz entzwei, so dass sein Blut zur Erde spritzt. Es ist tiefschwarz.

Japsend fuhr Alex hoch, schnappte gierig nach Luft, schlug mit den Armen nach einem eingebildeten Bagger. Dann erkannte er den vertrauten Kleiderschrank, den Stapel ungelesener Bücher auf dem Nachttisch und den alten Wecker mit dem Sprung quer über dem Ziffernblatt. Er lag in seinem Bett, atmete schwer und war schweißnass, aber viel zu müde, um aufzustehen.

»So ein Schwachsinn«, murmelte er und drehte sich wieder um. Es wurde Zeit, mal etwas Schönes zu träumen. Als er wieder einschlief, hatte er den verblassenden Geschmack von Salz und Sand auf der Zunge.

Eine heiße Sommernacht in einem Club, der aussieht wie eine romanische Kirche. Dort, wo die Kanzel sein sollte, steht ein goldener Käfig, in dem eine barbusige Frau mit zu Schlangen geflochtenen Haaren und einem Minirock aus Maulwurfsfell tanzt. Ein Bär klammert sich an die Stäbe, bangt wild zu den harten Riffs aus den Boxen und wirft ihr Geldscheine hinein.

Alex tanzt mit Lisa, ihre roten Lippen sind geöffnet, ihre Finger fahren ihm durchs Haar, und ihr Becken schmiegt sich an seines. Sie will ihn küssen, doch er zerrt ihren Kopf zur Seite und beißt ihr in den Hals, reißt Fleisch von ihren Knochen, spuckt es aus, er ist schließlich kein Kannibale, und leckt das sprudelnde Blut von ihrer bleichen, salzigen Haut.

Die Tanzenden um sie herum grölen und applaudieren, er kennt sie nicht, fremde Gesichter, lachende Münder, anerkennendes Nicken, das Klatschen wird rhythmisch, viele rufen: »Hey! Hey! Hey!«

Da taucht seine Mutter zwischen ihnen auf und sieht ihn traurig oder besorgt oder tadelnd an, er erkennt nur, dass ihr Gesicht faltig und grau ist. »Wie kannst du das tun, Junge, wie kannst du das nur tun? Ihr seid noch nicht verheiratet.« Er weiß nicht, was er sagen soll, er möchte weglaufen, aber das Blut schmeckt so gut.

»Ich bring dich um! Ich bring dich um!«, kreischt Sandy und versucht, sich durch die Menschenmassen zu ihm durchzukämpfen. Doch die Masse tanzt weiter, ineinander verschlungen, immer weiter im hämmernden Rhythmus, und lässt sie nicht hindurch.

»Bitte«, flüstert Lisa und sieht ihn flehend an, »bitte nicht«, aber er kippt ihren Kopf nur auf die andere Schulter, beißt ihr auch in die noch unversehrte Halsseite und trinkt gierig ihr Blut.

Alex erwachte mit trockenem Mund und bitterem Geschmack auf der Zunge, leckte sich verschlafen über die spröden Lippen und drehte sich wieder um. Er zwang sich, die Augen geschlossen zu halten, doch er konnte nicht wieder einschlafen, zu viele Bilder aus seinen Träumen taumelten in seinem Kopf durcheinander, immer wieder sah er sich Lisa beißen, obwohl sie ihn anflehte. Musste ihn das jetzt auch im Schlaf verfolgen? Konnte er nicht wie früher davon träumen, dass ihm ein durchgeknallter Arzt die Fingernägel mit einer Pinzette ausriss? Damit konnte er besser umgehen, als Täter zu sein.

Er wollte ausspucken, doch nicht auf sein Kopfkissen. Murrend tapste er ins Bad und sammelte Speichel zusammen, was nur schwer ging, da er fast breiig war. Als er schließlich einen Batzen ins Waschbecken tropfen ließ, war dieser blutig.

Er starrte in den Spiegel und riss den Mund auf. Erst konnte er nichts Ungewöhnliches erkennen, doch dann sah er Blut unterhalb des linken oberen Eckzahns, das langsam mehr wurde.

Zahnfleischbluten, nichts weiter, völlig normal, das hatte er manchmal.

Müde schüttelte er den Kopf und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dann starrte er sich wieder an. Die Augenringe waren deutlich ausgeprägt, da musste er nachher wohl eher mit Charme als mit Aussehen punkten.

Nachdem Alex gestern um Mitternacht einen kurzen Zigarettenspaziergang gemacht und dabei festgestellt hatte, dass er auch in dieser Nacht besser im Dunkeln sehen konnte als all die Jahre zuvor, hatte er Stunden damit verbracht, nach Krankheiten zu googeln, die mit verbesserter Sehkraft einhergingen. Ohne viel Erfolg. In erster Linie hatte er natürlich nach Geschlechtskrankheiten gesucht, nach HIV, Tripper und was ihm sonst noch einfiel.

Wo und wie hätte er sich in letzter Zeit sonst etwas einfangen können? Klar, auf öffentlichen Toiletten ging das immer, aber das schlug einem ja meist eher auf den Magen oder die Blase. Meist.

Immer wieder wanderten seine Gedanken zu Danielle. Mit wie vielen war sie vor ihm im Bett gewesen? Bei ihrem Aussehen hätte sie leicht jeden Abend einen anderen haben können, ach was, drei, vier, so viele sie wollte. Nicht alle diese Männer konnten gesund gewesen sein.

Ich bevorzuge die Abwechslung, hatte sie geschrieben.

Sein Kopf fühlte sich heiß an, wie bei beginnendem Fieber. Schlapp war er aber nicht, höchstens ein wenig zittrig. Das würde sich nach dem ersten Kaffee geben, hoffte er.

Es war kurz nach zwei, er hatte also fast acht Stunden Schlaf gehabt; dennoch fühlte er sich wie gerädert.

Warum plagten ihn gerade jetzt so absurde Träume? Der Gedanke, Lisa den Hals aufzureißen, schreckte ihn auch heute, er hatte nichts Erregendes.

Hatte er so viel Angst davor, doch die Kontrolle zu verlieren, wenn er sie sah?

Dabei freute er sich auf das Treffen. Wenn er an sie dachte, dann mit einem albern glücklichen Lächeln und zärtlich, oder zumindest mit normalem Verlangen. Wie offen man normal in diesem Zusammenhang auch definieren mochte, Halsaufreißen und Blut saufen gehörten definitiv nicht dazu. Er warf die Kaffeemaschine an und ließ den Blick über die Fotos der Schrankwand schweifen. Dabei dachte er ernsthaft darüber nach, wo Platz für ein Bild von Lisa wäre. Natürlich war es Unsinn, sich das schon vor dem ersten Kuss zu überlegen, aber er spürte dieses verliebte Kribbeln im Bauch, wenn er an sie dachte, er erinnerte sich, wie sie ihn angesehen hatte, wie sie in der U-Bahn über die abwesende Romantik gelacht und seine Hand gehalten hatte.

»Eine Jurastudentin.« Er schnaubte verächtlich, konnte aber nicht aufhören zu lächeln. Koma hatte Recht, er hatte Glück mit Frauen. Erst die Nacht mit Danielle, und jetzt Lisa.

Als er an Danielle dachte, bekam er einen Steifen. Wo sie wohl die Nacht verbracht hatte? Er hätte gern gewusst, wo sie wohnte.

Beiläufig kratzte er an seiner Narbe, ein Brocken trockener Schorf fiel zu Boden und legte einen kleinen Flecken frischer rosa Haut neben dem vernarbtem Gewebe frei. Auch wenn er sich am Unterarm kratzte, hatte er das Gefühl, es jucke ihm zwischen den Beinen. Nach dem Frühstück würde er zum Arzt gehen, ein Blutbild machen lassen, Aids-Test und eben alles, zu was ihm der Arzt riet. Nur zur Sicherheit, denn eigentlich glaubte er ja nicht, dass er sich etwas eingefangen hatte.

Zuvor würde er noch schnell sein Radiofeature fertigstellen, einen ganzen Tag vor der Deadline, das war doch auch mal was. So sehr er Poe und ein paar seiner sogenannten Erben schätzte, er wollte es einfach vom Schreibtisch haben, ihm gingen andere Dinge durch den Kopf. Dann sah er wieder auf die Uhr und verschob den Arztbesuch um einen Tag.

Bereits eine Viertelstunde zu früh saß Alex an einem Tisch der neu renovierten Cocktailbar gegenüber des coolen Conmux in der Simon-Dach-Straße, er wollte Lisa auf keinen Fall warten lassen.

Eigentlich mochte er das Conmux lieber, aber bei Lisa war er sich nicht sicher. Der Laden stimmte einfach nicht mit seinen Vorurteilen gegenüber Jurastudentinnen überein, dafür hatte er einen zu rauen alternativen Charme, musikalisch und auch von den leicht angeschlagenen Tischen her. So hatte er die Simon-Dach-Straße vor Jahren kennengelernt, inzwischen war sie ein Stück hipper geworden. Nicht schlimm, aber normaler, gefühlt touristischer, und am Wochenende stieß man immer auf irgendwelche Mädels oder Jungs, die Junggesellenabend feierten, mit reichlich Alkohol, gelallten Sprüchen und albernen Spielen. Warum gingen die nicht zum Tabledance, anstatt sich an ihrem letzten Abend in Freiheit öffentlich zum Affen zu machen?

Auch wenn sein Tisch inzwischen im Schatten lag, schien die Sonne noch warm genug, dass Alex einfach so im ärmellosen T-Shirt dasaß, sein schwarzes Kapuzenshirt hatte er über die Stuhllehne gehängt. Abwechselnd sah er zur Straßenecke, wo Lisa auftauchen musste, und den Pärchen hinterher, die Hand in Hand vorbeischlenderten, vor allem den Mädels. Auch wenn er ein Nachtmensch war, so ein sonniger Frühlingstag hatte schon was.

Tatsächlich war er nervös, er hoffte, dass ihr der Laden gefallen würde, als wäre das entscheidend für den Abend. Nervös wie ein Teenager trommelte er New Model Armys Poison Street mit den Fingern auf der Tischplatte nach, es gab wenige tolle Lovesongs, die einen so treibenden Rhythmus hatten. Dabei konnte er sich doch sicher sein, dass sie ihn, Alex, mochte. Oder sogar mehr. Das würde nicht verschwinden, nur weil er die falsche Bar ausgesucht hatte.

Und wenn doch, dann könnte sie ihm eh gestohlen bleiben.

Hoffentlich stand sie auf Dreitagebärte.

Schon daheim hatte er sich den Kopf zerbrochen, wie sie auf ihn reagieren würde, doch richtige Sorgen machte ihm, wie er auf sie reagieren würde. Er versuchte, einfach nicht an ihren Hals zu denken, doch genau deshalb dachte er ständig daran. Daran, sie nicht zu beißen, und genau das rief ihm die Bilder vom Samstag wieder in den Kopf.

Nein, da war er nicht er selbst gewesen, irgendwer hatte ihm was ins Bier getan. Ganz bestimmt.

Er freute sich auf Lisa und hätte den Song in seinem Kopf am liebsten laut mitgesungen: So just a kick / For this dark damned city of ours / And a kiss / Yeah a kiss for you / And just a drink / A toast to the days to come / Now Poison Street won’t break us any more.

Ein schwarzer Köter trabte schnüffelnd an der Bar vorbei, irgendein Mischling von der Größe eines Schäferhunds. An Alex Tisch hielt er an und hob den Kopf. Einen Augenblick lang blickte er Alex an, dann ließ er ein heiseres Kläffen hören.

»Ist ja gut«, sagte Alex beruhigend. »Bist ja ein Feiner. Ja.«

Aber der Feine bleckte die Zähne und kläffte noch mal. Die Gäste an den Nachbartischen sahen herüber.

»Ferdi! Hierher!«, rief eine kurzhaarige Frau, die in verschwitzten Joggingklamotten und mit Leine in der Hand angelaufen kam.

Ferdi gab ein Geräusch zwischen Knurren, Husten und Niesen von sich.

Alex starrte ihn an.

»Ferdi!«, bellte die Frau, und endlich wandte sich der Hund ihr zu, lief die zwei Schritte zu ihr hinüber. Er wedelte mit dem Schwanz und sah sie erwartungsvoll an, als hätte er sich ein Leckerli verdient.

»’tschuldigung«, murmelte sie in Alex’ Richtung, und ein kräftiger Mann in kurzärmligem Hemd am Nachbartisch antwortete bissig: »Nehmen Sie ihn doch an die Leine, dann passiert auch nichts.«

Seine zierliche Frau hatte die Gabel mit den aufgerollten Spaghetti auf den Teller sinken lassen und beäugte den Hund misstrauisch, als fürchte sie, er könnte sie anspringen. Wahrscheinlich Touristen, die mal in einer Szenestraße essen wollten, oder Studenteneltern auf Besuch, die auf ihr Kind warteten.

»Kein Problem, ist ja nichts passiert«, sagte Alex deutlich hörbar und lächelte die Hundebesitzerin an. Mit einem dankbaren Nicken lief sie weiter.

Der Tourist drehte sich zu Alex um, doch bevor er etwas sagen konnte, fasste ihm seine Frau an den Unterarm. »Klaus, nicht.«

»Aber ...«

»Bitte. Es bringt doch nichts.«

Mit einem Schnauben wandte er sich wieder ab und sah seiner Frau zu, wie sie bedächtig ihre Nudeln aß. Auf seinem Teller war nur noch eine braune Soßenpfütze übrig, darin lag eine zerknüllte Papierserviette. Keiner von beiden sagte ein Wort. Alex nahm sich vor, nie so zu enden.

Es war schon seltsam, er wusste immer, wie er nicht werden wollte. Nicht wie die beiden, nicht wie sein Vater, nicht wie Salle, nicht wie dieser und jener. Wenn ihn jemand nach Vorbildern fragte, fielen ihm keine ein, nur abschreckende Beispiele. Seine Mutter nannte ihn deshalb ziellos, aber er war überzeugt, dass man seinen Weg durchs Leben auch gut finden konnte, indem man sich an denen orientierte, deren Beispiel einem Angst machte. So wie das Foto eines Raucherbeins auf der Zigarettenschachtel. Na gut, immer half das auch nicht, dachte er und tastete nach seinem Tabak. Nur um zu prüfen, dass er ihn nicht vergessen hatte.

Kurz darauf tauchte Lisa auf, wieder hatte sie die Haare hochgesteckt, große silberne Kreolen baumelten neben ihrem Hals. Sie trug einen schmal geschnittenen schwarzen Rock mit Schlitz, der eine Handbreit über dem Knie endete, und ein enges schwarzes Top. Ein Kribbeln überlief Alex, Glück und Erregung, er hätte am liebsten jubelnd die Faust geballt. So zog sich eine Frau nicht an, wenn sie jemanden traf, den sie nur gut leiden konnte. Grinsend stand Alex auf und hob die Hand.

Lisa lächelte und kam zu ihm herüber, ihre Lippen waren dunkelrot.

»Hi«, sagte sie, und eine halbe Sekunde lang sahen sie sich zögernd an. Die Hand geben war albern, zu distanziert, aber eine kumpelhafte Umarmung auch nicht besser. Jetzt hatte er hier fast eine halbe Stunde gesessen, hatte gewartet, an sie gedacht, und wusste doch nicht, wie er sie begrüßen sollte. Sie beugte sich vor und küsste ihn auf beide Wangen. Dabei kam ihm ihr Hals furchtbar nahe, er müsste nur den Kopf drehen und zuschnappen.

Unbeholfen erwiderte er die Küsschen und atmete ihren Geruch ein.

»Hi«, sagte auch Alex.

»Wartest du schon lange?«

»Nein, kein Problem.«

»Gut.« Sie strich mit den Händen über ihren Rock, wirkte viel nervöser als bei ihrem Date vorgestern. Fast durcheinander, als wäre irgendwas nicht in Ordnung. Sie machte keine Anstalten, sich zu setzen.

»Alles okay?«, fragte Alex.

»Ja, klar«, sagte sie, aber ihre Augen flackerten unruhig. Dann fragte sie, ob sie nicht ein wenig spazieren könnten, einfach um die Häuser laufen. »Hab heute zu viel gesessen.«

»Klar, können wir.« Alex kippte den Rest seiner Cola runter und legte drei Euro auf den Tisch. »Beim nächsten Mal weiß ich dann auch Bescheid, dass man mit dir jedes Mal mehr durch die Straßen läuft als in der Bar zu sitzen, dann trage ich Turnschuhe.«

»Du trägst Turnschuhe.« Grinsend deutete Lisa auf seine Chucks.

»Verdammt, ja.« Die Schlappen hatte er ja wieder ausgezogen, weil sie zu uncool waren. »Du solltest wirklich aufpassen, mit wem du dich verabredest. Ich weiß nicht, ob du dich mit Männern abgeben solltest, die nicht bis zu den eigenen Füßen denken können.«

Im Gehen nickte Alex der Bedienung zu, dann schlenderte er mit Lisa die schmale Simplonstraße entlang, dort war immer wenig los, kaum Autos, kaum Fußgänger, und sie war der kürzeste Weg zur Modersohnbrücke. Plaudernd spazierten sie zur Brücke, die sanft ansteigende Straße zu ihr hinauf und vorbei an der improvisierten Strandbar mit voll besetzten Bierbänken und gefüllten Beachvolleyballfeldern, aber ohne das geringste Gewässer. Die Brücke führte über ein Dutzend Gleise, nicht über einen Fluss.

Auf der Modersohnbrücke, die von zwei dunkelgrauen Stahlbögen rechts und links der Straße überspannt wurde, hatten sich schon die ersten jungen Leute eingefunden, alle auf der anderen Straßenseite. Nebeneinander aufgereiht saßen sie auf den runden Streben, die wie Leitplanken unter den Bögen zwischen Fahrbahn und Fuß- und Radweg entlang verliefen, den Rücken zu ihnen, und blickten in Richtung Warschauer Straße, Ostbahnhof, Fernsehturm und der neuen Arena. Hinter all dem würde die Sonne in einer knappen Stunde versinken.

Alex erzählte Lisa, dass es noch viel mehr werden würden. Es hatte wohl vor zwei oder drei Jahren angefangen, seitdem traf man sich hier, um gemeinsam den Sonnenuntergang zu beobachten.

»Schon komisch, dass sich Menschen versammeln und darauf warten, dass es Nacht wird«, sagte Lisa. Es klang nicht romantisch. Trotzdem blieb sie stehen und blickte über die anderen hinweg. »Aber ist sicher schön.«

Sie setzten sich und sahen in die andere Richtung, zum Ostkreuz, das noch immer eine große Baustelle war. Auf dieser Seite standen mehr Bäume und Büsche, und außer einem schwarzen Turm, der aussah wie ein Riesenpenis aus Stein, waren keine auffälligen Gebäude zu erkennen. Ratternd fuhr eine S-Bahn unter ihnen hindurch.

»Rauchst du?«, fragte Alex.

»Eigentlich nicht. Du?«

»Auch eigentlich nicht. Aber manchmal, vor allem im Sommer ... Magst du auch eine?«

»Ja.«

Er holte Tabak und Papers aus der Tasche seiner schwarzen Armyhose und reichte sie ihr.

»Ähm, ich kann das nicht. Drehst du mir eine?«

»Klar.« Da er nicht täglich eine halbe Packung wegrauchte, fehlte auch ihm die Übung. Dennoch versuchte er, ihr eine perfekte Zigarette zu drehen, und natürlich wurde sie besonders unförmig und dick. Seine Finger verkrampften, und er hatte einfach nicht zu geizig mit dem Kraut sein wollen. Kurz musterte er die Zigarette verächtlich, dann klemmte er sie sich hinters Ohr. »Du kriegst die nächste, die ist einfach zu hässlich.«

Die zweite gelang ihm besser. Er gab Lisa Feuer, dann sich selbst. Gemeinsam starrten sie auf die Schienen, sahen einem ICE hinterher, der gemütlich aus der Stadt rollte.

»In der Kollegstufe bin ich manchmal nach dem Unterricht an den Bahnhof gelaufen, habe den Zügen nachgesehen und mir vorgestellt, wie es wäre, einfach in den nächsten einzusteigen und bis zur Endstation zu fahren«, sagte Lisa und hustete.

»Und?«

»Ich bin nie eingestiegen.«

Alex nickte.

»In dem Kaff, in dem ich aufgewachsen bin, gab es gar keinen Bahnhof. Aber als Kind habe ich mich vor unser Haus gesetzt und aufgeschrieben, was für besondere Autos vorbeigefahren sind, also besonders schnelle und teure, was man als Junge eben so schätzt. Die, mit denen man im Autoquartett gewinnt. Ich habe Strichlisten mit Porsches, 7er BMW und so weiter gemacht und jeden Tag auf einen Ferrari, Rolls Royce oder Lamborghini gehofft.«

»Und? Hattest du Glück?«

»Nein. Es ist ein kleines Kaff, da hilft es auch nicht, an der Durchgangsstraße zu wohnen.«

Sie schwiegen, während zwei Jogger an ihnen vorbeikeuchten. Dann atmete Lisa Rauch in den Himmel.

»Montags jobbe ich immer bis 18.00 Uhr am Empfang einer Anwaltskanzlei«, fing sie unvermittelt an zu erzählen. »Heute hat die Chefsekretärin Yvonne einen Anruf von einem befreundeten Kollegen ihres Mannes erhalten, ihr Mann sei nicht zur Arbeit erschienen, ob er denn krank wäre. Sie sagte Nein, er sei wie immer morgens aus dem Haus gegangen, wollte die Tochter noch in den Kindergarten bringen. Sie war natürlich total fertig und hat sofort im Kindergarten angerufen, doch das Mädchen ist dort nie angekommen. Und das Handy ihres Mannes war ausgeschaltet. Polizei, Krankenhäuser, Feuerwehr, niemand wusste von einem Unfall, niemand hatte sonst etwas von den beiden gehört. Sie waren einfach verschwunden.«

»Das klingt übel.« Alex dachte an die Statistik mit den steigenden Vermisstenzahlen.

»Alle haben wir ihr gut zugeredet, haben versucht, sie zu beruhigen, kein Unfall auf der Strecke war doch eine gute Nachricht, aber sie war völlig aufgelöst. Natürlich. Wir hoffen ja, dass der Mann einfach nur einen spontanen Ausflug irgendwohin gemacht und das Handy vergessen hat. Könnte ja sein.«

»Ist der so ein Typ?«

»Ich kenne ihn nicht. Sie ist zumindest ganz anders, penibel, nie auch nur eine Minute zu spät, und die Akten werden im rechten Winkel zur Schreibtischkante ausgerichtet, selbst wenn sie nur für fünf Minuten abgelegt werden. Es geht immer ums Prinzip, und das Prinzip heißt Ordnung. 110% Dienstbeflissenheit für den pedantischen Dr. Peters, unseren Chef. Ist manchmal ein wenig anstrengend, weil sie diese Ordnung auch von uns verlangt.«

»Vielleicht auch daheim, und der Mann ist durchgebrannt?«, rutschte es Alex raus.

»Ja, vielleicht.« Sie ließ ein kurzes Schnauben hören, dass nach einem versuchten Lachen klang.

»Er wird schon wieder auftauchen. Mitsamt Tochter.«

»Ja.« Sie warf die Zigarette zu Boden und trat abwesend darauf.

Besser, er erwähnte die aktuelle Vermisstenstatistik gar nicht, auch wenn sie ihm jetzt dauernd im Kopf herumspukte. Warum hatte er heute nicht bei der Polizei angerufen, wie er es sich vorgenommen hatte? Dann wüsste er jetzt vielleicht irgendwas Beruhigendes oder Hilfreiches zu sagen.

»Ich kenne sie wirklich nicht gut«, sagte Lisa. »Aber es nimmt einen trotzdem mit, wenn einer Kollegin so etwas passiert.« Sie seufzte. »Na ja, lassen wir das.«

Also redeten sie über dies und das, und Alex fragte irgendwann nach Sandy: »Kommt sie klar?«

»Ja«, sagte Lisa und presste die Lippen zusammen. »Das heißt, ich weiß nicht. Sie wird irgendwann damit klarkommen, aber momentan ist sie echt fertig.«

»Verlassenwerden ist nicht schön.«

»Vor allem nicht, wenn dein Freund mit deiner Schwester in die Kiste steigt.«

»Au verdammt.«

»Ja. Jetzt ist er mit Sandys Schwester zusammen, und Sandy hat nicht viele Freunde in Berlin. Kommilitonen schon, aber keine Freunde, sie ist am Wochenende und in den Semesterferien immer zu ihm gefahren. Und das hat gar nichts genützt, wie sie jetzt sagt. Manchmal mach ich mir echt Sorgen. Es ist nicht so, dass sie gar nicht mehr lacht oder gar nicht mehr aus dem Haus geht, und es ist okay, sich nach einer Trennung zu vergraben, aber sie träumt auch mies, so richtig mies. Schlaf sollte erholsam sein, aber sie sitzt beim Frühstück und starrt ins Nichts. Sie sagt, sie kann sich nicht an ihre Träume erinnern, aber sie fühlt sich völlig ausgelaugt und leer. Das sagt sie mit so leiser, gefühlloser Stimme, das kann einem Angst machen.« Lisa presste die Lippen aufeinander und sah ihn an.

Alex nickte.

»Ich habe keine Hoffnung mehr, sagt sie dann manchmal«, fuhr Lisa fort, »und wenn ich sie frage, in welcher Hinsicht sie keine Hoffnung mehr habe, antwortet sie nur: In jeder Hinsicht. Sie trägt nur noch Langärmliges und sperrt sich im Bad ein. Im Müll habe ich zufällig eine Klinge gesehen, die sie aus einem Einwegrasierer herausgebrochen hat. Sie war voller Blutflecken, ich glaube, sie ritzt sich in den Arm, aber ich trau mich nicht, sie zu fragen. Ich habe vorsichtig vorgeschlagen, dass sie zu einer Therapeutin gehen soll, aber sie hat nur gelacht. Ich glaube, sie ritzt sich, um überhaupt wieder irgendwas zu fühlen, und vielleicht ist das für sie ja der richtige Weg, mit der ganzen Geschichte umzugehen. Das klingt möglicherweise dumm und naiv, und ein Psychologe würde mich dafür steinigen, aber immer, wenn sie aus dem Bad kommt, wirkt sie lebendiger. Nach dem Aufstehen scheint sie mir fast tot zu sein, das ist unheimlich. Ganz blass und ohne einen Schimmer Leben in den Augen. Ich ... ich weiß echt nicht, was ich tun soll, und weiß auch nicht, warum ich dir das alles erzähle. Du hast gefragt, und ... vielleicht wollte ich dir auch nur erklären, warum ich am Samstag gehen musste. Tut mir leid, dich damit zu belasten, eigentlich wollte ich das gar nicht.«

»Hey, das ist doch kein Problem. Hauptsache, Sandy kommt wieder in Tritt.«

»Ja. Danke.«

Alex wusste nicht, was er noch sagen sollte, nickte einfach und hätte sie am liebsten in den Arm genommen, oder wenigstens ihre Hand, aber er saß einfach da und sah sie an. Sie blickte zu Boden und unterdrückte Tränen; ihre Mundwinkel zuckten. Es tat ihm weh, sie so zu sehen.

»Drehst du mir noch eine?« Sie hob den Kopf. »Schnaps haben wir ja keinen dabei, oder?«

»Nein.« Er packte den Tabak aus.

»Ich würde ihr gern helfen, aber ich weiß einfach nicht, wie.«

»Du hilfst ihr doch, indem du da bist. Alles andere kommt mit der Zeit.«

»Meinst du?«

»Ja. Irgendwann nimmt der Schmerz ab.« Er reichte ihr die Zigarette, gab ihr Feuer und drehte sich selbst auch eine. Damit sie nicht allein rauchen musste, obwohl das natürlich Blödsinn war.

»Okay. Dann lassen wir die Zeit arbeiten und reden jetzt über etwas weniger Trübsinniges. Was schreibst du gerade für einen Artikel?«

»Bin eben mit einem über Poe fertig geworden.« Alex grinste. »Der war halb wahnsinnig und ist viel zu früh in der Gosse gestorben.«

»Das ist ja richtig aufbauend.« Sie lachte vorsichtig und verschluckte sich am Rauch. Sie hustete und wedelte mit der linken Hand durch die Luft, als würde das helfen.

Er grinste und fragte dann, ohne nachzudenken, ob sie zufällig irgendwelche Leute kannte, die sich Nephilim nannten. In Berlin oder sonst wo.

Sie verneinte. »Was sollen das für Leute sein?«

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ein ... Bekannter nach ihnen sucht«, wich er aus. Er wollte mit ihr nicht über den Spinner sprechen. Mit Sandy und ihrer Kollegin hatte sie schon genug zu knabbern.

Sie wechselten endgültig zu harmlosen Themen, Literatur, Kino, Freizeit, Hobbys, und stellten fest, dass sie unterschiedliche Bücher lasen, unterschiedliche Musik hörten und unterschiedliche Filme mochten. Alex ging ab und zu ins Theater, Lisa freute sich auf die kommende Leichtathletik-WM in Berlin. Sie mochte den Frühling, er den Herbst, Schwarztee stand gegen Kaffee, Urlaub im Süden gegen Nordsee bei Wind und in Berlin bleiben, Sesamstraße gegen Captain Future. Er war auf einem bayrischen Dorf aufgewachsen, sie in der Großstadt Düsseldorf. Immer schneller warfen sie sich Stichworte um die Ohren und amüsierten sich über die wachsende Liste an Unterschieden. Dabei flunkerte Alex ein wenig, eigentlich hatte er nichts gegen einen Urlaub in Griechenland, um die antiken Ruinen zu sehen, beharrte aber aus Freude an Gegensätzen auf Skandinavien.

»Wir haben ja echt nichts gemeinsam.« Lisa lachte. »Das gibt’s doch nicht.«

»Na ja, immerhin sind wir die einzigen beiden, die in die falsche Richtung schauen.«

»Das stimmt. Das verbindet ungemein.« Sie sah ihn erwartungsvoll an. Die Schwermut und das unruhige Flackern waren aus ihren Augen verschwunden, eine dünne Haarsträhne hing ihr quer über die Stirn. Die silbernen Ohrringe glitzerten in der Abendsonne.

»Du siehst wirklich fantastisch aus. Weißt du das?«, sagte er und rückte unauffällig einen winzigen Zentimeter auf sie zu. Sein Herz schlug schneller.

»Danke«, sagte sie leise, ihr Mund blieb leicht geöffnet. Jetzt musste er sie küssen, verdammt. Sei kein Trottel, versau es nicht! Tu ’s!

Hinter ihnen ging mit voller Lautstärke ein Ghettoblaster los, Lisa zuckte zusammen.

»Hey, du Idiot!«, schrie einer, und die Musik wurde runtergedreht. Trotzdem sah Lisa hinüber, und innerlich fluchend tat es auch Alex.

Die Brücke hatte sich inzwischen gefüllt, die Sonne stand groß und rot am Horizont, sie war schon halb versunken. Auch auf ihrer Brückenseite sahen Menschen dem Sonnenuntergang zu, und erst jetzt wurde Alex bewusst, wie viele wirklich gekommen waren. Kleine Gruppen und Pärchen, viele hatten Getränke dabei, einer sogar eine Decke, die er trotz der warmen Temperaturen unter seinen Hintern und den seiner Freundin geklemmt hatte. Ein Zug kam auf sie zu, fuhr unter ihnen hindurch und irgendwohin, Alex hatte nicht nach der Aufschrift über der Frontscheibe der Lok gesehen.

Seit sie hier saßen, hatte er nicht einmal den Drang verspürt, in den Tod zu springen, hatte nicht einmal lose daran gedacht.

Als er jetzt die Räder über die Gleise unter ihnen ruckeln hörte, begriff er, warum Lisa früher zum Bahnhof gefahren war. Zusammen mit ihr könnte er jetzt Berlin und alles hinter sich lassen, wenigstens für diesen Augenblick, einen Abend oder eine Woche lang. Er betrachtete ihr Gesicht, während sie zur Sonne sah. Dann nahm er einfach ihre Hand und streichelte sie.

Sie wandte sich ihm zu und fragte mit einem schelmischen Grinsen: »Wo waren wir eben?«

»Ich hatte dir gesagt, dass du umwerfend aussiehst«, sagte er und küsste sie, sanft und lange.

Sie schmiegte sich sofort an ihn, ihre Zunge tastete über seine Lippen, ihre schmeckten zugleich süß und herb nach dem schweren roten Lippenstift.

Langsam lösten sie sich wieder voneinander, die Gesichter verharrten nur eine Handbreit voneinander entfernt, die Blicke ineinander verhakt. Ihre grünen Augen funkelten hell.

Er hatte sie nicht gebissen, hatte nicht einen Augenblick lang daran gedacht. Zu der Euphorie und dem Glück, die durch seinen Körper tobten, gesellte sich Erleichterung. Eine diffuse Anspannung fiel von ihm ab, so plötzlich, dass er einfach loslachte.

Ihre Augen wanderten über sein Gesicht, ihre Finger vergruben sich in seinem Haar. »Du siehst aber auch nicht übel aus.«

»Schade. Ich mochte immer die Geschichte von der Schönen und der Bestie.«

»Idiot«, sagte sie und küsste ihn. Danach erhob sie sich und fragte: »Wollen wir gehen?«

»Wohin?«

»Zu dir? Ich wohne nicht allein, und Männerbesuch will ich Sandy trotz allem möglichst nicht aufs Auge drücken.«

»Dann zu mir.« Er nahm ihre Hand fester und führte sie die Brücke hinab. Dabei strich er mit dem Daumen immer wieder über ihren Handrücken.

Als sie seine Wohnung erreichten, war die Welt für ihn noch immer taghell.