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»Faith for the faithless, for the lost, for the forgotten ones«, forderte der Sänger von The House of Usher über den schleppenden Rhythmus des Songs hinweg, den dunklen Bass, die verzerrte sägende Gitarre. Wieder und wieder, bis der Song Tempo aufnahm und treibend und hypnotisch auf sein Ende zujagte, um in den Klassiker Do you believe in the Westworld der Post-Punk-Combo Theatre of Hate überzugehen.
Es war Freitagabend, beinahe Mitternacht, und das Gilgamesch war voll. Alex hatte sein zweites Bier in der Hand und stand mit Jens, Mela, Sonja und Koma im First Floor des Clubs, wo die dunkle Musik spielte. Das Licht war gedimmt, und die Luft roch nach Trockeneis, Patschuli, anderen Parfüms und Schweiß. Auch Alex war durchgeschwitzt vom Tanzen und ließ die Klänge über sich hinwegschwappen.
Es tat gut gegen die innere Schwärze, obwohl er nicht wusste, warum es half - vielleicht war es wie Impfen, Schwärze in kleinen homöopathischen Dosen. Schwermütige oder wütende Musik zog ihn nicht runter, sie hielt ihn aufrecht und die gefräßige Dunkelheit in ihm klein. Als könnte sie sich von den Songs nähren und deshalb ihn in Ruhe lassen. Die Musik drückte das aus, was er oft fühlte, was in ihm brodelte und lauerte, und deshalb war sie sein Verbündeter.
Er selbst hatte nie genug Talent gehabt, musikalisch auszudrücken, was in ihm steckte. Auf der Gitarre konnte er eine Handvoll Klassiker klampfen, doch weiter hatte er es nie gebracht. Auch beim Komponieren elektronischer Musik war ihm kein Song geglückt, der es wert wäre, auf eine CD gepresst oder ins Netz gestellt zu werden. Zu monoton, zu dumpf, zu leblos, zu banal waren seine Versuche geblieben, aneinandergereihte gängige Versatzstücke, seelenlos. Er konnte das Dunkle in sich nicht fassen - und etwas anderes, das er musikalisch ausdrücken wollte, hatte er nicht.
Der DJ spielte Love Like Blood, und Alex sang lautlos mit - We must play our lives like soldiers in the field / life is short I’m running faster all the time.
Langsam tauchte er aus seinen richtungslos trudelnden Gedanken und der Musik auf, träumte einen kurzen Moment von Lisa und versuchte wieder mitzubekommen, wovon die anderen sprachen. Wovon Koma sprach, der wieder einmal mit Anekdoten von seinem Job in der Presseabteilung eines Medienkonzerns den Alleinunterhalter gab.
Koma trug eine zerrissene Jeans und ein blau-grau gestreiftes Hemd ohne Kragen und Knöpfe. Bucklig wie Quasimodo stand er da, ließ die langen Arme baumeln und imitierte einen eifrigen Kollegen, der vor dem Chef buckelte, deshalb mehr Arbeit und weniger Achtung bekam als andere und dem zu entgehen versuchte, indem er immer mehr buckelte.
»Der Teufelskreis der Rückgratlosen. Aber der viel größere Trottel bin ich«, fügte Koma nahtlos an und erzählte, wie er es sich innerhalb von zehn Minuten bei der neuen Kollegin verscherzt hatte, indem er sich nacheinander über Ledersitze im Sportwagen, Prosecco und Kakteensammler amüsiert hatte. »Mit Prosecco verbinde ich einfach diese schrecklichen Bussi-Bussi-Stehempfänge, wo allen das Lächeln ins Gesicht getackert ist. Woher sollte ich wissen, dass sie Prosecco wegen des Geschmacks liebt, auf einen Flitzer mit Ledersitzen spart und auch noch Kakteen sammelt? Ich meine, kann sie nicht wenigstens Orchideen züchten und Kakteen hassen? Das passt doch viel besser zum Rest. Trägt diesen Alternativchic und steht auf Sportwagen, wie soll ich das denn riechen? Das geht nicht mal mit meinem Riesenzinken, der acht von zehn Frauen vertreibt. Den Rest schlage ich mit einer ganzen Armada erlesener Fettnäpfchen in die Flucht. Ich trete nicht nur rein wie andere Leute, ich bade richtiggehend darin! Jetzt muss ich wohl doch reich werden und dann entscheiden, ob ich mir eine Schönheits-OP oder gleich eine Frau ohne chirurgische Umwege leiste.«
»Hey!« Mela, die ein enges schwarzes Shirt trug, auf dem ein sabbernder Zombie mit ausgestreckten Händen jungen aufgetakelten Blondinen hinterherlief und »Breasts, breasts ...« sabbelte, boxte ihm in gespieltem Ärger gegen die Schulter.
»Was willst du denn investieren?« Sonja klimperte mit den dunkel geschminkten Lidern.
»Wieso? Was sollst du kosten?«, mischte sich Jens ein, was auch ihm einen Schlag von Mela einbrachte: »Noch so eine Frage, und du schläfst auf der Couch.«
Alex lachte mit den anderen und dachte wieder an Lisa. Er hoffte, sie würde sich morgen wirklich melden. Oder schon heute Abend, schließlich wollte sie heute zurückkommen.
»Wisst ihr, wen ich am Mittwoch auf der Straße getroffen hab? Andi!«, sagte Sonja.
»Deinen Andi? Also deinen Ex, sorry?« Koma richtete sich wieder auf und hielt die Arme ruhig.
»Nein. Würde ich das so vergnügt fragen? Andi, den Möchtegern-Schlagzeuger.«
»Der wollte doch wegziehen, nach Köln oder so. Cool. Wie geht’s ihm?«
»Keine Ahnung. Er sagte gut, hervorragend, ganz ausgezeichnet, aber es klang wie bei diesen Karrierezombies, die zwölf Stunden am Tag arbeiten und lächeln und in Sätzen aus Werbebroschüren reden, die sie selbst verfassen oder gestalten. Ich fragte Wie läuft’s in Köln?, und er sagte, er sei nun doch in Berlin geblieben. Er will nicht weg, die Stadt sei so toll, seine Heimat.«
»Heimat? Der ist doch Schwabe. Aus Reutlingen oder so«, sagte Koma.
»Was kennst du denn für Käffer?«
»Fußball, es ist immer Fußball«, grinste Koma. »SSV Reutlingen spielt Regionalliga und ...«
»Schon gut«, unterbrach ihn Sonja. Keiner von ihnen außer Koma interessierte sich für Fußball, höchstens noch Mela zu WM-Zeiten. »Auf jeden Fall habe ich Andi gefragt, warum er sich dann nicht gemeldet oder mal hier blicken hat lassen, ob er noch in der alten Wohnung sei. Und er sagte Nein, aber er würde sich mal melden, nur momentan sei er leider zu beschäftigt. Er habe ein furchtbar großes Projekt am Laufen, ein Projekt, das ganz Berlin verändern werde, das verdammt vieles verändern werde. Das Aufschneiden kennt man ja von ihm, aber sonst hatte er sich verändert. Er wirkte zielstrebiger, fast besessen, und kälter. Es war nicht mehr dieser kindische Größenwahn, mit dem er von irgendwelchen Drummerkarrieren fantasiert hatte, sondern lauter schwammige Parolen. Also hab ich nachgefragt, und er sagte, darüber dürfe er leider nicht reden, Verschwiegenheitsklausel, ich wisse schon. Aber schon bald werde ich davon hören. Und dabei lächelt er wie der Banker neulich, als er mir meinen Dispo halbiert hat.«
»Dir haben sie den Dispo halbiert? Warum?«, wollte Mela wissen, und Alex stellte sein Bier ab, um auf die Toilette zu gehen. Er hatte ja schon immer gesagt, dass Andi ein Idiot war. Auch wenn er eigentlich eher zu viel gequatscht hatte und nicht zu wenig. Er hatte Klatsch schneller verbreitet als das Internet, wenn auch nicht ganz weltweit. Der Typ und Verschwiegenheitsklauseln passten so gut zusammen wie ein Tiger und vegetarische Ernährung.
Alex schlängelte sich zwischen den zumeist schwarz-gekleideten Clubbesuchern hindurch und nickte im Takt zur Musik. Er passierte die achteckige Säule mit den bleichen aufgemalten Fratzen, umrundete die gut gefüllte Tanzfläche und warf einen abwesenden Blick in das verglaste Kabuff des abrockenden DJs mit der breiten Glatze. Dabei achtete er nicht auf die Leute um sich herum, nicht auf die versprengten Silben, die von ihren Gesprächen an sein Ohr drangen, nicht auf die beiden Großbildleinwände rechts und links der Tanzenden, über die stets stumme Mitschnitte von Konzerten flimmerten, manchmal auch Videos.
Dann sah er etwas im Augenwinkel, nur unbewusst und undeutlich wie eine Ahnung, doch er wandte den Kopf - und erblickte sie.
Eine wunderschöne blonde Frau, die an der Theke saß und mit ihrem kurzen weißen Rock und dem blau glitzernden Top nicht hierher zu passen schien. Sie war vielleicht ein bisschen jünger als er, um die dreißig, eher neunundzwanzig, dieses ewige Neunundzwanzig, und hatte ein schmales Gesicht mit gerader Nase, strahlenden Augen, schweren hellblauen Lidern und vollen, rosa schimmernden Lippen.
Abrupt blieb Alex stehen und starrte zu ihr hinüber. Jemand rempelte ihm gegen die Schulter, drängte sich grob an ihm vorbei, doch er bemerkte es nicht. Er hatte den Takt des Songs verloren, jeden Gedanken, er konnte nur zu ihr hinüberstarren.
Noch nie hatte er eine Frau mit einer solchen Ausstrahlung gesehen. Einen Moment lang sah er nur sie deutlich und scharf, alle anderen waren grau und verwaschen, konturlose Schemen wie Gestalten im nächtlichen Regen. In diesem Moment existierte nur sie, diese makellose Schönheit auf einem Barhocker. Dabei war sie nicht ätherisch wie eine Elfe, sondern strahlte Sinnlichkeit aus. Ihm schoss das Blut zwischen die Beine, doch zugleich entwickelte er eine tiefe Abneigung gegen diese perfekte Frau, diese fleischgewordene Aphrodite. Die war doch zu schön, um wahr zu sein! Wie sie dasaß mit diesem Wissen, schöner zu sein als alle anderen hier, wie sie ihre Hand mit geradezu widerlicher Anmut nach dem Cocktailglas ausstreckte, diese kalte Arroganz … es ärgerte ihn. Er spürte, wie Wut in ihm hochkochte.
Erwachsene Frauen, die ihre Lippen mädchenhaft rosa schminkten, nahm er nicht ernst, Blondinen schon gar nicht, auch wenn die Hälfte von ihnen ja nichts für ihre Haarfarbe konnte. Er hatte nun einmal keine Schulmädchenfantasien, er konnte rosa Lippen so wenig leiden wie Mädchenzöpfe über den Ohren oder Kniestrümpfe.
Was war so toll an unerfahrenen Jungfrauen? Die wussten doch gar nicht, was man alles miteinander anstellen konnte im Bett, auf dem Schreibtisch oder sonst wo. Warum nur hieß es immer wieder, Männer standen darauf? Vielleicht gab es diese Männer ja, doch er gehörte nicht dazu. Er nicht, rosa Lippen konnten ihm gestohlen bleiben.
Doch das war es nicht, seine spontane Abneigung saß tiefer, noch nie hatte er so auf jemanden reagiert, mit dem er noch kein Wort gewechselt hatte. Es war, als wäre die Leere in ihm knackend aufgebrochen wie ein Ei. Als würde Hass daraus schlüpfen, wie ein kleiner schwarzer Vogel. Ein Vogel, der tot war. Ein hässliches, verschrumpeltes, nacktes Ding mit blinden Augen, das sich auch tot regte und stumm nach Nahrung schrie. Ein totes Ding, das nicht fressen konnte und seinen Hunger doch hinausschrie.
Mit jeder Sekunde, die Alex zu ihr hinüberstarrte, wurde seine Abneigung größer, und auch sein Begehren. Er stierte hinüber, der Penis drückte so schmerzhaft gegen seine Jeans, als müsste er platzen. Alex atmete schwer durch den leicht geöffneten Mund, seine Hände zitterten und wurden feucht. Abwesend wischte er sie an der Hose trocken und stellte sich vor, es wären ihre Oberschenkel, über die er strich. Mit der Zunge befeuchtete er seine spröden Lippen und schluckte. Wie ein Idiot stand er da und gierte nach jeder ihrer Bewegungen.
Und er war nicht der Einzige, der sie angaffte. Männer an den umliegenden Tischen sahen zu ihr herüber, Teenager schielten vorsichtig über die Schulter ihrer Freundinnen, während sie deren Hände hielten, und auch Frauen und Mädchen warfen ihr Blicke zu, voll unverhohlener Neugier oder zickig-abschätzig. Der Barkeeper musste sich sichtlich anstrengen, seiner Arbeit nachzugehen und sich auch um die anderen Gäste zu kümmern, jetzt, da immer mehr an den Tresen strömten und Bestellungen aufgaben. Sie alle waren von ihrer Schönheit gefangen.
Doch keiner sprach sie an. Es war, als wüsste jeder, dass er nicht gut genug für sie war. Niemand hatte sich auf einen der beiden Barhocker links und rechts von ihr gesetzt.
Sie selbst schien all die Blicke nicht zu bemerken und nippte lächelnd an ihrem hellgrünen Cocktail.
Selbstverliebte, arrogante Schlampe, dachte Alex und wollte sie flachlegen. Er wollte nicht einfach mit ihr schlafen, er wollte ihr das selbstsichere Lächeln aus dem Gesicht vögeln, er wollte sie knien sehen. Mit jedem Atemzug wuchs seine Erregung, und es verlangte ihn danach, sie zu unterwerfen. Als könnte er so ihre widerliche Unnahbarkeit brechen.
Erschrocken fragte er sich, weshalb er derart auf diese Frau reagierte, und langsam zog sich diese plötzliche Abneigung zurück, als kröche sie wieder in ihre gebrochene Schale tief in seinem Inneren. Doch das Verlangen blieb.
Die Feigheit der anderen war seine Chance. Er könnte zu ihr hinübergehen und sie ansprechen. Sie war auch gar nicht der Typ für rosa Lippen, da war er sicher. Er könnte einfach Hallo sagen, oder: Was ist denn das für ein Cocktail? Sieht lecker aus.
»Ganz tolle Idee«, brummte er vor sich hin. Außerordentlich subtil und originell, das hatte sie sicher noch nie gehört. Sie saß einfach da, allein und lächelnd und war doch unnahbar. Warum also sollte er sie überhaupt ansprechen? Sie hatte rosa Lippen, schimmerndes Feuchtrosa, und ihr Lächeln war arrogant, die ganze Körperhaltung hochnäsig. Jede Faser ihres Körpers schien zu sagen: Seht alle her, ihr Würmer, ich bin etwas Besseres.
Er sollte auf seine spontan aufgebrandete Abneigung hören. Trotzdem schlug sein Herz schneller. Erst jetzt bemerkte er, dass nicht nur seine Hände leicht zitterten, und wie trocken sein Mund war.
Wenn er sie anspräche, würde sie ihn ansehen wie einen kleinen, hässlichen Käfer, da war er sicher. Jemand wie sie ging nicht allein weg, bestimmt wartete sie auf ihren Typen, irgendeinen Promi oder Millionär, die bekamen ja immer die schönsten Frauen ab. Ihre Schönheit umgab sie wie ein unüberwindlicher Schutzzaun. Wahrscheinlich hatten alle im Gilgamesch Angst vor ihrem Blick, der einen in einen Käfer verwandelte, mit zappelnden Beinen und auf dem Rücken liegend, Schwachsinn stammelnd.
Genau solche Schnepfen, die sich für was Besseres hielten, nur weil sie gut aussahen, hatte Alex gefressen. Nur hatte bislang keine der Schnepfen so gut ausgesehen wie diese hier, nicht mal annähernd, und er wusste, dass er mit ihr ins Bett wollte. Unbedingt. Bei keiner anderen war dieser Drang jemals so intensiv gewesen, und zugleich brodelte diese Abneigung in ihm, ja fast schon Abscheu, und kurz spürte er das Verlangen, sie zu schlagen. Sie zu Boden zu stoßen und von hinten zu nehmen, bis sie schrie.
Verdammt, was war nur los mit ihm?
»Blöde Pute«, brummte er und setzte sich widerstrebend wieder in Bewegung. Seine Blase drückte immer mehr, auch zwischen seinen Beinen drückte es, er musste hier einfach weg, bevor er irgendeinen Unsinn anstellte.
»Was hast du gesagt?«, fragte eine Frau mit roten Stoppelhaaren, an der er sich eben vorbeidrängte. Vage kannte er sie, er hatte schon mal mit ihr gesprochen, sie war öfter hier und lächelte jetzt. »Ich hab nichts verstanden, ist zu laut.«
»Ah, nichts«, stammelte er.
»Was?«
»Nichts! Ich habe nichts gesagt! Sorry.« Er zuckte mit den Schultern und deutete Richtung Toiletten.
Ihr Lächeln erstarb, und Alex drängte sich an ihr vorbei zu den rosa und hellblau gestrichenen Türen.
»... ein rattenscharfes Ding«, sagte einer der beiden schmalbrüstigen Männer, die das Klo gerade verließen, als er ankam.
»Wenn ich nicht treu wäre, dann würde ich ihr meinen Prügel ...«, antwortete der andere, einer dieser zahlreichen Konjunktiv-Helden und hypothetischen Casanovas, und die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss.
Alex sperrte sich in eine Kabine, er wollte mit einem Steifen nur unbeobachtet auspacken. Noch nie hatte er sich in einer öffentlichen Toilette einen runtergeholt, und auch jetzt ließ er es sein, so sehr es ihn auch nach Befriedigung verlangte. Natürlich ließ er es sein. Wieso dachte er überhaupt daran? Zwei Bier waren doch nicht viel. Kopfschüttelnd pinkelte er und ließ den Blick über die mit zahllosen Band- und Besuchernamen übersäten Kacheln schweifen.
Beim anschließenden Händewaschen starrte er sich im Spiegel in die braunen Augen. Sprich sie an, verdammt noch mal. Sprich sie einfach an.
Mehr als eine Abfuhr konnte er sich nicht einhandeln.
Gut, er würde sich wie ein Käfer fühlen, klein und unbedeutend, aber auch das ging vorbei. Wenn er schon vorher aufgab und sie gar nicht erst ansprach, würde er sich wie eine Maus fühlen, das war nicht besser.
»Mann oder Maus?«, hatte ihn Veronika immer gefragt, und jetzt fragte er es sein Spiegelbild und musterte es skeptisch. Seine Bartstoppeln erschienen ihm plötzlich nachlässig und überhaupt nicht cool. Wenigstens hatte er die schulterlangen schwarzen Haare frisch gewaschen, dann wirkten sie nicht so dünn. Mit den Händen fuhr er zweimal hindurch und wusste nicht, was er mit ihnen anstellen sollte. Nein, nicht zusammenbinden. Gut, dass er seit dem letzten Jahr wenigstens Linsen und keine Brille mehr trug. Trotzdem musterte er sich unsicher.
Verdammt, er war doch ein Mann, kein Mädchen! Einer von jenen, vor denen Mütter ihre Töchter warnten. Es wurde Zeit, dass er sich wie einer verhielt, schließlich wollte er die Töchter ja nicht enttäuschen. Besonders diese eine nicht. Niemand verwandelte ihn in einen Käfer!
Lässig grinste er in den Spiegel, nickte gewichtig und schritt wieder hinaus ins Getümmel. Sieh es einfach als Jagd, sagte er sich, und sie ist die größte Trophäe im Revier. Der Gedanke gefiel ihm.
Noch immer saß sie ruhig am Tresen und wurde noch immer von hundert Blicken gestreift, kurz fixiert von schüchternen Augen aus allen Ecken. Der Mann, der gerade noch gesagt hatte, er sei treu, stand einen knappen Meter von ihr entfernt, nickte cool zur Musik - das hypnotische Love under Will von den Fields of the Nephilim - und trommelte mit den Fingern gegen seine schwarze Lederhose, während er auf sein Getränk wartete. Alex sah, wie er mehrmals Luft holte, ansetzte, etwas zu sagen, ihr den Kopf halb zuwandte, doch bei keinem Anlauf brachte er tatsächlich etwas heraus, und sie beachtete ihn nicht. Sie saß einfach vor ihrem Cocktail und wartete ab. Der Mann bekam seine Bierflasche gereicht, verharrte noch eine Sekunde, stieß sich dann vom Tresen ab und stapfte mit verkniffenem Mund davon.
Maus, dachte Alex.
Nach diesem Kerl war es nun also an ihm, sich zum Affen zu machen, und noch bevor er wusste, was er sagen sollte, stand er auch schon am Tresen und bestellte: »Ein Pils, bitte.«
Der Barkeeper nickte.
»Oder warte. Mach mir einen Caipi, ja?«, korrigierte er sich. Das dauerte länger, da blieb ihm mehr Zeit nachzudenken, wie er sie ansprechen könnte. Sein Hirn war vollkommen leer, jeder Satz, den er zu dieser Frau sagen konnte, erschien ihm banal und hohl. Käfersprech eben. Die Narbe auf seinem Unterarm juckte plötzlich, was sie sonst nur tat, wenn das Wetter umschlug.
»Ist nicht leicht, sich zu entscheiden, was?« Die Schöne lächelte ihn an, ihre Stimme klang tief und weich.
Jetzt wusste er noch weniger, was er sagen sollte, fühlte sich beinahe wie ein Teenager. Ja, sogar fast wie damals bei Simone in der Grundschule. Aber sie hatte ihn tatsächlich angesprochen. Sie ihn! Nicht anders herum.
Sein Herz schlug noch schneller, und er wartete nur darauf, dass er errötete wie mit sechzehn. Seine Hilflosigkeit war ein weiterer Brocken Nahrung für die tief in ihm lauernde Abneigung.
»Die mixen hier gute Cocktails«, sagte sie, und der Barkeeper grinste glücklich, als hätte er sie über die Musik hinweg verstanden.
»Dann habe ich ja das Richtige gewählt.« Er lächelte und war froh, dass er nicht gestottert hatte. »Ich bin Alex.«
»Danielle«, sagte sie und hielt ihm die rechte Hand entgegen. Sie trug zwei goldene Ringe mit blauen Steinen und hatte die langen Fingernägel vorn weiß lackiert. Das konnte er ebenso wenig leiden wie rosa Lippen, und natürlich war ihm Silberschmuck lieber als Gold. Sie hat einen miesen Geschmack, dachte er, aber er wollte um alles in der Welt mit ihr ins Bett.
Bilder zuckten durch sein Hirn, die ihm zeigten, wie er sie jetzt gleich hier auf dem Tresen nahm. Die schwere Musik mit den harten Gitarrenriffs wurde zu einem dumpfen Pochen in seinen Ohren, treibend wie sein Herzschlag. Er wollte sie flachlegen, sie vor sich knien sehen und zugleich in diese Augen schauen. Begehren und instinktive Abneigung mischten sich, tief in sich wollte er dieser hochnäsigen, arroganten Schlampe den miesen Geschmack aus dem Leib vögeln, er wollte sie flachlegen, um sie zu zähmen. Das war es, sie zähmen. Sie zureiten, dachte er kurz, und an jedem anderen Abend hätte er schallend über diese Formulierung gelacht, doch nicht heute. Er wollte es ihr zeigen, bis sie schrie, und dann tauchten diese Gedanken wieder ab in dem Chaos in seinem Innern, dem Strudel aus Begierde und Hass. Ihre Schönheit trieb ihn in den Wahnsinn, aber er nahm einfach nur ihre Hand und drückte sie höflich, wie es ihm entsprach, und hoffte, dass seine nicht zu schweißig war und nicht zu sehr zitterte. Dass sie sein Verlangen nicht allzu deutlich spüren konnte.
Ihr Händedruck war fest, die Berührung ließ seinen ganzen Arm kribbeln.
»Freut mich. Freut mich sehr.« Er drängte die Bilder zurück, die ihn wieder überschwemmten, schluckte und lächelte einfach weiter. »Bist du öfter hier?«
»Ab und zu. Aber das ist ohnehin nicht meine Art.«
»Was?«
»Irgendwo öfter zu sein. Ich liebe die Abwechslung, bin mal hier und mal da, wohin es mich gerade verschlägt.« Jetzt fiel ihm auf, dass sie einen leichten Akzent hatte, den er nicht einordnen konnte. Französisch wie ihr Name war er jedoch nicht.
»Klingt spannend. Aber gibt es so viele gute Clubs in Berlin? Die Stadt ist groß, aber ...«
»Noch gibt es für mich welche zu entdecken, ich wohne noch nicht lange hier.«
»Woher kommst du dann?«, rutschte es ihm heraus, und sofort verfluchte er sich. Das war die Standardanmache, die Standardfrage für den Beginn eines dieser typischen langweiligen Kennenlerngespräche, die auf Sex erst nach dem dritten bis siebten Treffen hinausliefen, und da auch nur vielleicht. Eine dieser Wir-lassen-es-langsam-angehen-Fragen, Interesse an der Vergangenheit des anderen heucheln, statt das Interesse am Hier und Jetzt und der heutigen Nacht zu bekunden. Sie würde von ihrem Dorf erzählen und nach seinem fragen, keiner das des anderen kennen, und dann, was er so mache, beruflich. Blablabla. Weder mit seiner Herkunft noch mit seinen vielen kleinen Jobs würde er groß punkten können. Nicht bei ihr.
Der Barkeeper stellte ihm seinen Caipirinha vor die Nase, und Alex bemerkte in dem Moment, dass Danielles Glas zu zwei Dritteln leer war. »Willst du auch noch einen?«
»Danke, aber ist ja noch halb voll.«
»Halb leer.«
»Ach so einer bist du.«
»Was für einer?«
»Ein Pessimist.«
»Realist.«
»Das antworten sie immer.«
»Mag sein. Aber wie könnte ich Pessimist sein, wo ich eben mit der schönsten Frau im ganzen Laden rede? Ich will einfach nicht glauben, dass sie den Drink ausschlägt, den ich ihr spendieren will.«
»Na, dann.« Sie sog wieder an ihrem Strohhalm und sah ihm dabei herausfordernd in die Augen. Das machte sie mit Absicht. »Dann muss ich wohl annehmen.«
Alex bestellte ihr einen Swimmingpool, und dann sprachen sie weiter über Cocktails, Musik, Berlin und die Welt, die Wo-kommst-du-her?-Frage war vergessen.
Einmal kam Koma vorbei, holte drei Bier und zog mit vor Staunen offenem Mund, aber grinsend wieder ab, ohne ein Wort zu sagen, breitbeinig wie John Wayne.
Nicht mehr ganz so viele Blicke wie zuvor wanderten zu Danielle, oder hatte sich Alex das vorher nur eingebildet? Die Männer hielten ihre Frauen im Arm, keiner schielte zum Tresen, nur die einsamen Jungs, die nicht die Tanzenden beobachteten.
Inzwischen war die Musik elektronischer geworden, und mit jedem Song beugte sich Alex näher an Danielles Ohr, um nicht schreien zu müssen, wie er sagte, aber in Wahrheit, um ihr einfach näher zu sein. Mit der Nase berührte er ihre vollen blonden Haare, die trotz der stickigen Luft frisch rochen, nach Gewitter im Frühling. Ihr Parfüm dagegen war süß und schwer und roch einfach nach Sex. Zumindest für ihn, ein anderer hätte bestimmt eine exotische Blume genannt, aber Alex kannte keine Blumen, dafür interessierte er sich nicht.
Er wurde seine Erregung nicht los. Es war unglaublich schwierig, ihr nicht einfach die Hand aufs Knie zu legen oder sie zu küssen. Zum ersten Mal verstand er die Formulierung, von jemandem völlig in Bann geschlagen zu sein. Nichts außer ihr interessierte ihn mehr. Wenn sie ihm etwas erzählte, berührten ihn ihre Lippen fast, er spürte den Hauch ihrer Worte und wollte ihren Kopf packen und noch näher heranziehen. War das die oft beschworene Liebe auf den ersten Blick?
Doch was hatte es dann mit dieser tiefen, instinktiven Abneigung auf sich, die er noch immer spürte, ganz tief drin?
Als die Gläser fast leer waren, verschwand sie für eine Minute, und er blieb einfach sitzen und starrte ihr nach, wie sie in der Menge untertauchte. Selbst wenn sie sich an jemandem vorbeidrängte, tat sie es mit Anmut und scheinbar wippenden Hüften.
Ein Junge mit kurzem schwarzem Haar gaffte ihn neidisch an, der Barkeeper nickte anerkennend, in der Nähe stritten zwei Pärchen. Alex grinste dämlich und fragte sich, wie er Danielle nur fragen konnte, ob sie mit zu ihm käme, oder ob er mit zu ihr ...
Sie war nicht nur schöner, sondern überhaupt anders als alle Frauen, die er bisher getroffen hatte, auch wenn er den Grund dafür nicht richtig fassen konnte. Sie verunsicherte ihn, obwohl sie ihn nicht ein einziges Mal mit dem befürchteten Käferblick angesehen hatte. Und er konnte hundertmal an Jagd denken, daran, sie zu zähmen, bislang blieb er im Gespräch passiv, ließ sich von ihr leiten. Nur manchmal wollte etwas in ihm ausbrechen. Vielleicht der Höhlenmensch, der in jedem Mann schlummerte, wie Mela immer behauptete, doch es war anders.
Es war, als wäre die Leere vorhin wirklich aufgebrochen, als hätte sich in ihm etwas verändert. Er dachte an den toten schwarzen Vogel, der hungrig auf die Fütterung wartete.
Sollte er erst einmal vorsichtig nach ihrer Telefonnummer fragen? Oder ganz unverbindlich, ob sie sich wiedersehen könnten, irgendwann? Dabei wollte er sie jetzt. Jetzt! Er war schon halb wahnsinnig vor Erregung, aber er wollte es auf keinen Fall versauen. Wenn er diese Frau doch noch vergraulte, dann würde er beim nächsten Mal tatsächlich von der Brücke springen.
Erst mal würde er natürlich fragen, ob sie noch was trinken mochte, die Nacht war schließlich noch jung.
»Nein danke«, sagte sie, als sie zurück war. Sie hatte ihre Lippen frisch nachgezogen, mit diesem fürchterlichen rosa Wet-look, aber Alex konnte an nichts anderes denken, als von ihnen geküsst zu werden, überall. Er hatte jede Kontrolle über seine Gedanken verloren, seine Augen mussten brennen, während er sie ansah. Er sog ihren Duft nach Gewitter und schwerer exotischer Süße förmlich ein. Er wollte, er musste, er ...
»Ich würde jetzt gern austrinken und gehen«, sagte sie.
»Gehen?«, echote er und vergaß, den Mund wieder zu schließen. Das konnte sie ihm doch nicht antun! Ihn jetzt einfach so sitzen lassen.
»Oder willst du noch bleiben?«, fragte sie.
»Ähm, ich ...«Er zuckte mit den Schultern. Wieso er? Was hatte das mit ... ?
»Ich dachte, wir gehen noch wohin, wo die Musik leiser ist und weniger Leute sind.«
Wir? Sie hatte wir gesagt!
»Okay!« Mit einem Lachen stürzte er seinen Drink in einem Zug runter. »Gehen wir.«
»Da hat es einer aber eilig.« Sie zwinkerte ihm zu und sog ganz langsam an ihrem letzten Rest Cocktail, setzte ihn wieder ab und ließ Alex zappeln. Dann leerte auch sie das Glas. Alex zahlte und gab ordentlich Trinkgeld.
Er half ihr in die dünne, auf Taille geschnittene Lederjacke, die ebenfalls weiß war, und flüsterte ihr ins Ohr, so dass seine Lippen sie berührten: »Wie viel weniger Leute sollen es denn sein?«
»Sehr viel weniger.« Sie sah ihn mit Raubtieraugen über die Schulter hinweg an und lächelte. »Ich hoffe, du wohnst nicht in einer WG?«
»Nein. Dafür bin ich zu sehr Einzelgänger.« Alex nahm sie bei der Hand und führte sie aus dem Gilgamesch, ohne sich von seinen Freunden zu verabschieden. Morgen würde er sich melden oder irgendwann, sie würden das verstehen. Wenn nicht, waren es keine Freunde.
Als er die Wohnungstür hinter sich schloss, kam er nicht mehr dazu, Danielle Kaffee oder sonst etwas anzubieten. Selbstverständlich wollte er selbst weder Kaffee noch sonst etwas, aber er dachte, das gehöre sich so. Doch Danielle drückte ihn einfach gegen die Tür und küsste ihn.
Er ließ den Schlüssel fallen, packte den Kragen ihrer Jacke und zog sie fester an sich heran, schob ihr die Zunge zwischen die geöffneten Lippen. Er zerrte ihr die Jacke über die Schultern, schob diese bis zu den Ellbogen runter und hielt ihre Arme fest. Küsste ihre freie Schulter, dann den Hals, atmete das schwere, süße Parfüm ein. Er spürte, wie ihre Adern pochten, er knabberte an ihrer glatten gebräunten Haut, schmeckte das Salz ihres Schweißes, wollte sie beißen, weil ihm küssen zu wenig erschien, zu weich, zu zurückhaltend. Er wollte sie haben, besitzen, unterwerfen. Alles Denken, alle Zurückhaltung wurde von lustvoller Gier fortgespült. In ihm brach endlich auf, was ewig verkrustet gewesen war.
Er schob die Jacke bis zu den Handgelenken und stieß Danielle zurück, folgte ihr, drückte nun sie gegen die Flurwand, presste seine Hüfte gegen ihre, stand breitbeinig vor ihr. Sie stöhnte und packte seine Haare, zerrte seinen Kopf in den Nacken und küsste ihm den Hals. Ihre Jacke lag längst auf dem Boden, er starrte an die Decke. Sie war stärker, als er gedacht hatte.
Er fasste an ihre Brüste, suchte mit Daumen und Zeigefinger durch den dünnen glatten Stoff ihre Nippel und drückte zu. Sie riss ihm den Gürtel aus der Hose und kämpfte mit der widerspenstigen Knopfleiste. Er packte ihren Hintern und schob den Rock nach oben, seinen Oberschenkel zwischen ihre Beine. Sie rollte sich zur Seite und presste nun wieder ihn gegen die Wand. So kämpften sie sich Meter um Meter, Kleidungsstück um Kleidungsstück in sein Schlafzimmer vor und auf das Bett.
Er wollte sie von hinten nehmen, ihr ebenmäßiges Gesicht in das Kissen drücken, die Hand in ihr Haar graben, die andere auf ihrem herrlichen Po, er wollte sie packen und gedankenlos nehmen. Er musste einfach.
Doch sie stieß ihn auf die Matratze, hielt ihn auf dem Rücken und setzte sich auf ihn. Reglos und zitternd ließ er es geschehen, dass sie ihn in sich aufnahm. Er war nicht der Jäger, sie keine Trophäe.
Dann presste sie ihre Beine gegen sein Becken und spielte mit ihren Brüsten, und er vergaß all seine Fantasien und ließ sich einfach reiten, krallte seine Finger um ihre Knie und stöhnte. Stöhnte, bis er schließlich kam und dabei schrie. Anschließend japste er und lachte und keuchte, und dann nahm sie ihn erneut.
Zweimal schliefen sie miteinander, danach lagen sie nebeneinander auf dem Laken, die Decke hatten sie längst zu Boden gestoßen.
»Du hast mir die Seele aus dem Leib gevögelt«, sagte Alex glücklich und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Er fühlte sich so frei und leicht wie lange nicht mehr, vielleicht wie noch nie. Selbst wenn er in sich hineinlauschte, spürte er die Leere nicht mehr, der Wunsch, Danielle zu zähmen oder gar zu schlagen, war verschwunden.
Friedlich betrachtete er ihren verschwitzten Körper, entdeckte nicht ein einziges Muttermal auf der makellosen Haut, keine noch so winzige Verfärbung, keine Narbe. Wahrscheinlich war sie Model und hatte alle Fehlbildungen entfernen lassen, oder es gab tatsächlich Menschen mit makelloser Haut.
»Eigentlich stelle ich mir das immer anders herum vor«, erwiderte sie. »Vögeln ist gut für die Seele, es erhält sie, es vertreibt sie nicht.«
»Erhält oder erhellt?«
»Beides.« Sie lachte und streichelte mit den Fingerspitzen seine spärliche Brustbehaarung, dann über den Oberarm und schließlich über seine Narbe. Die Narbe kribbelte und pochte, während sie mit den Fingernägeln über die alte Wunde fuhr. »Woher hast du die? Sieht schmerzhaft aus.«
»Ist schon lange her, ewig lang. Als Kind hat mich ein Hund angefallen, so ein bissiger Mischling. Wahrscheinlich hatte er Tollwut, so wie er sich aufgeführt hat. Vielleicht war er ein Kettenhund oder einfach von Natur aus so. Ich hab’ eine Spritze gekriegt und einen ganzen Stapel Comics von meiner Mutter, die furchtbare Angst hatte, als ich heimgekommen bin. Viel zu spät am Abend und blutend wie ein Schwein.«
Diese Geschichte erzählte er jedem, der fragte. Was sollte er auch sonst erzählen?
Vielleicht würde er irgendwann, wenn er sie besser kannte, über den lange vergangenen Sommer reden. Aber nicht jetzt, der Abend war zu schön, um die Kreatur aus der Scheune in ihr Gespräch und seine Gedanken zu lassen. Außerdem traf es Mischling wohl ganz gut, ebenso Tollwut, auch wenn er bis heute nicht wusste, was für ein Wesen das damals wirklich gewesen war. Er versuchte, nicht daran zu denken, es war schlimm genug, dass die Narbe manchmal juckte und er noch immer von der aufgespießten, kreischenden Kreatur träumte. Nicht jede Nacht, aber doch immer wieder.
»Sieht aus, als hätte es ins Auge gehen können.« Fasziniert streichelte sie weiter die Narbe, fuhr jede Linie mit den Fingernägeln nach.
»Ja.« Alex bewegte sich nicht und hielt den Arm ruhig. Er hatte Angst, sie würde sonst aufhören, und er genoss das Kribbeln unter der Haut. »Eigentlich wollte mir das Vieh an die Kehle, ich hab den Arm gerade noch rechtzeitig hochgerissen.«
»Gut.« Sie lächelte. »Sonst wärst du jetzt nicht hier.«
»Und das wäre eine Tragödie.« Alex grinste und küsste sie auf die Brust.
»Bereit für eine weitere Runde?« Ihre Augen blitzten.
»Bereit, wenn du es bist.« Er beschloss, sich einfach nicht zu wundern, dass er mehr Ausdauer als sonst besaß, ohne Koks, ohne Viagra. Sollte sein Körper für die nächsten Tage vollkommen ausgelaugt sein, das war morgen und egal.