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Lisa hatte beobachtet, wie noch weitere dieser bizarren unheimlichen Gestalten gekommen waren. Frauen und Männer unterschiedlichen Alters, aus unterschiedlichen Schichten und Milieus, die alle Schwarz trugen wie auf einer Beerdigung, selten mit anderen gedeckten Farben kombiniert. Doch die Stimmung war zu aufgekratzt für eine Beerdigung, sie schienen auf etwas zu warten, standen in kleinen Grüppchen herum, raunten sich Dinge zu, tippelten unruhig mit den Füßen, wechselten mal hierhin, mal dorthin, legten mal diesem, mal jenem den Arm um die Schulter. Mal dachte Lisa an einen seltsamen Sektempfang, obwohl niemand lächelte oder jemandem zuprostete, dann wieder an eine Meute Jagdhunde, die unruhig darauf wartete, auf das Wild gehetzt zu werden. Erwartung lag in der Luft, unruhige Vorfreude auf irgendetwas, und das konnte nicht ihretwegen sein. Nicht, weil sie eine von ihnen werden sollte, dafür wurde sie zu wenig beachtet.

Doch der eine oder andere warf ihr einen Blick zu, eben hatte ein rüstiger älterer Herr mit dichtem Backenbart zu ihr herübergelinst, der eine historische, blank gewienerte Pickelhaube trug und einen Säbel umgeschnallt hatte. Er atmete schnaubend durch die Nase und leckte sich immer wieder über die dünnen Lippen.

»Spürst du das? Ist das nicht herrlich?«, sagte Sandy. Sie hatte sich inzwischen wieder angezogen, langsam bröckelte die Erde von ihrer Haut. »Ich bin so froh, dass wir noch rechtzeitig auserwählt wurden, bevor er erwacht. Wir werden Teil von etwas wahrlich Großem sein.«

Lisa nickte mechanisch. Das Vibrieren im Boden nahm zu, sie konnte es nun sogar im leichten Zittern der Holzbank spüren, auf der sie saß. Die Füße zu heben, half nichts. Auserwählt, es klang wirklich nach einer Sekte. »Warum wurden wir auserwählt?«

»Weil uns Leid angetan wurde.«

»Leid?« Einen Augenblick lang wusste Lisa nicht, auf was Sandy hinauswollte. Seit sie hier saß, bedeutete das, was sie draußen erlebt hatte, gar nichts mehr. Sie dachte draußen - wie eine Gefangene, wie die Insassin einer Nervenheilanstalt.

»Ja. Er ist für all jene da, denen etwas angetan wurde. Er gibt uns die Kraft zur verdienten Rache. Er macht uns zu ...« Sandy zögerte einen Moment und sah ihr tief in die Augen, dann fuhr sie fort: »Du musst deine Vorstellungen vergessen, die du von uns hast. Vieles stimmt einfach nicht, weil sich jeder Regisseur und Schriftsteller etwas anderes zu uns ausgedacht hat. Also lass deine Vorurteile stecken, wir sind weder untote Monster noch melancholische Latin Lover. Wir sind einfach Vampire.«

»Vampire?« Lisa flüsterte nur. Sie setzte gar nicht an, um zu widersprechen, sie rief nicht: So ein Blödsinn! Sie glaubte es sofort.

Vor wenigen Stunden hätte sie noch gelacht, doch hier unten lachte sie nicht, hier lachte niemand, nicht richtig, nicht von Herzen, nicht aus Freude, nicht aus Albernheit, nicht über irgendeinen Schwachsinn. Lisa glaubte ihr wegen dem, was sie gesehen und empfunden hatte, seit sie hier unten war. Sie glaubte ihr, weil sie sich bei jedem Einzelnen dort in der Halle vorstellen konnte, dass er Blut trank. Jeder Einzelne von ihnen machte ihr Angst.

»Wir sind nicht böse«, sagte Sandy. »Wir nehmen uns nur, was uns zusteht. Wir haben das Recht, uns zu rächen. Es gibt Gründe, warum wir so wurden, wie wir sind. Es will eben nicht jeder pc sein, wir lieben nun mal die Dunkelheit.«

Lisa nickte. Sie mochte die Nacht auch. Ebenso schwarze Klamotten. Aber darum ging es hier nicht. An der Wand gegenüber hechelte noch immer Jo in seiner Kette und tigerte auf und ab.

»So wie fanatische Vegetarier auf normalen Menschen herumhacken«, fuhr Sandy fort, »hacken diese auf uns herum, nur weil wir Blut trinken. Dabei wissen sie nicht, was ihnen entgeht. Weil sie zu schwach und zu feige sind, zu sehr an alten Moralvorstellungen festhalten, anstatt es auszuprobieren. Unser Durst macht uns stark, und wir sind es einfach leid, schwach zu sein. Unsere Gemeinschaft ist stark. Und egal, was die Leute sagen - weißt du, wie viele davon träumen, dass er sich erhebt? Nachts, wenn sie nicht an ihre Feigheit gefesselt sind, die sie Moral nennen. Dass einer wie er kommt und Berlin in eine neue Zeit führt? Er ist das wahre Berlin, das Berlin, das man gern versteckt vor Touristen und Staatsgästen. Er befreit. Er legt die wahre Natur des Menschen offen, er ist die in der Tiefe lauernde Wahrheit. Wir sind so, wie Menschen wirklich sein wollen. Wir sind das, wohin sie sich entwickeln, und das, was sie von ihrer ursprünglichen Natur vergessen haben, weil sie ein abstraktes Ding anbeten, das sie Zivilisation nennen. Als würde ein Löwe im Zoo seinen Käfig anbeten und ihn home, sweet home nennen!«

So richtig geordnet kamen Lisa diese Gedanken nicht vor, und sie war ganz sicher nicht der Meinung, dass sich der Mensch zu einem Bluttrinker entwickeln sollte. Sie könnte sich an Alex rächen, ohne sein Blut zu trinken, denn das war es doch, worauf Sandy hinauswollte. Sie sollte Rache nehmen an Alex.

Doch sie wollte ganz sicher kein Vampir werden, sie wollte hier raus. Weg, nur weg. Auch wenn sie nicht wusste, wie ihr die Flucht gelingen sollte. Es waren zu viele, und sie waren zu stark.

In einer Stunde, hatte Sandy vorhin gesagt, und diese Stunde war beinahe um.

»Dann mach dich mal bereit«, sagte Sandy, als hätte sie ihre Gedanken erraten. »Wenn du eine von uns bist, dann erkläre ich dir alles genauer. Dann wirst du es fühlen und viel leichter verstehen.«

»Und wenn ich nicht will?«, fragte Lisa ganz leise. Hoffnung, dass Sandy sie gehen lassen würde, hatte sie nicht.

»Psst. So was sagt man nicht.« Sandy schüttelte den Kopf und sah sie irritiert an. »Weißt du, wie sehr ich mich für dich eingesetzt habe? Vampir zu werden, ist ein großartiges Geschenk, das großartigste überhaupt. Hast du mir gar nicht zugehört?«

»Doch, habe ich ...«

»Na also. Dann weißt du ja, dass es um Evolution geht. Um Darwin im Zeitraffer, es braucht keine generationenlange Entwicklung, keine zufällige Mutation. Du wirst dich in einer einzigen Nacht weiterentwickeln, die nächste Stufe erklimmen, direkt an die Spitze der Nahrungskette. Genau darum geht es immer - in der Natur, in jeder Gesellschaftsform: die Spitze erklimmen. Egal, wie man es nennt, es sind immer Nahrungsketten. Oder eigentlich Nahrungspyramiden, denn je weiter man nach oben kommt, desto enger wird es, die Spitze sind immer wenige, und die Basis wird immer gefressen.«

Lisa öffnete den Mund, aber sie wusste nicht, wie sie widersprechen sollte, wie sie sich Sandy auch nur verständlich machen sollte.

»Wie gesagt, du wirst es bald verstehen.« Sandy lächelte das kalte Lächeln aller Vampire, ein übrig gebliebener menschlicher Reflex ohne jede Freundlichkeit und Wärme.

Lisa konnte nicht mehr viel von der Sandy erkennen, die sie kennengelernt hatte, die ihre Freundin gewesen war.

»Es tut auch nicht weh, wenn er dich beißt. Nur kurz, einen Moment lang, aber das ist ...« Sandy beugte sich vor, atmete schwer und sah sie mit fiebrigen Augen an. »... das ist geil. Geiler als jeder Orgasmus. Kein Mann hat mich je genommen wie er mein Blut.«

Lisa wurde übel. Wenn es nicht so schrecklich real wäre, hätte sie lachen müssen, kichern über diese Hingabe, mit der Sandy den Verlust ihres Bluts und ihres klaren Verstandes bejubelte. Das musste es sein, dieser Er machte einen nicht nur zu einem Vampir, sondern auch zu einem Irrsinnigen. Aber sie wollte nicht ihren Verstand verlieren, nicht ihre freie Entscheidung darüber, ob sie Fleisch aß oder Tofu, ob sie Wein trank oder Blut.

Geiler als jeder Orgasmus. Lisa musste an Alex und diese Schönheit denken, mit der er es vor ihren Augen getrieben hatte. Geiler als dieser Orgasmus konnte es nicht sein. Tränen liefen ihr die Wangen herunter, ihre Wut war wieder da. Doch bei all den Bildern in der Halle hier, bei dem Gedanken daran, Alex das Blut auszusaugen, wurde die Vorstellung von Rache schal.

»Hey, nicht weinen. Es ist wirklich nicht schlimm. Es brennt und sticht, aber dann löst sich alles auf zu einem Gefühl von Stärke und Macht.« Sandy strich ihr über den Arm. »Vampire sind stark, wir weinen nicht.«

Lisa riss sich zusammen. Nicht weil sie als angehender Vampir keine Schwäche zeigen wollte, sondern weil sie den versammelten Idioten zeigen wollte, dass auch Menschen zu Stärke in der Lage waren. Dabei mussten sie es doch alle noch wissen, sie waren schließlich selbst alle mal Mensch gewesen.

»So ist es gut«, sagte Sandy. »Dann wisch’ dir mal die Tränen ab, wir können so langsam.«