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Als Alex schließlich Feierabend machte, hatte er Lust auf Tabak. Er hatte bis kurz vor Mitternacht gearbeitet, den Poe-Bericht fast fertig geschrieben und in drei neue CDs reingehört, um herauszufinden, ob etwas Taugliches zum Auflegen dabei war. Jetzt wollte er einfach noch mal raus, um den Block laufen und eine rauchen. Zu Hause rauchte er nicht, er ging dabei gern ziellos umher oder starrte aufs Wasser. Eine selbstgedrehte Zigarette in der Abenddämmerung am Meer, während man auf dunklen Klippen saß und die Wellen heranrollen sah, das war wunderschön. Leider lag Berlin nicht am Meer.

Da er nicht jeden Tag rauchte, war sein Tabak schnell trocken und bröselig, immer wieder landete ein kleines Stückchen auf seiner Zunge, wenn er zog. Irgendwie gehörte das für ihn aber genauso dazu wie das Selbstdrehen. Filterzigaretten rührte er nicht an.

Alex wich einem Hundehaufen aus, die in Friedrichshain so häufig waren, dass jede Fliege ihren eigenen besetzen konnte, und bog in eine schmale, kaum befahrene Straße ein, in der die Hälfte der alten Fassaden neu gemacht war. In ungeheurem Tempo schritt hier die Sanierung voran, nur vor einem grau gewordenen Haus mit verziertem Erker und großen Balkonen stand seit bestimmt einem Jahr ein Baugerüst, und die Wohnungen blieben verlassen. Ein Stück der verschmutzten, milchigen Plastikplane hatte sich vom eisernen Gestänge gelöst, der Fußweg war staubig, denn es hatte seit Tagen nicht geregnet. Alex lief außen am Gerüst vorbei.

Auf der anderen Straßenseite sah er einen Mann im dunklen Anzug an der Bordsteinkante knien, die Nase fast auf den Rinnstein gepresst. Er hatte einen sauberen Kurzhaarschnitt, und sein Kopf ruckte unruhig hin und her. Der Oberkörper zuckte, als wolle er sich übergeben. Dabei zischte er vor sich hin.

»Alles in Ordnung?«, rief Alex nach kurzem Zögern.

»Kümmer dich um deinen Kram!« Die Stimme war unerwartet fest, fast ein Knurren. Dabei hob der Mann nicht einmal den Kopf.

»Leck mich doch.«

Der Mann reagierte nicht, er hantierte weiter mit etwas herum, das wie ein Strohhalm aussah. Vielleicht ein Kokser, dem sein Pulver auf den Boden gefallen war, dachte Alex. Der wird sich freuen, wenn er Dreck und Glassplitter mit hochzieht. Kein Wunder, dass Kokain die Nasenschleimhäute schädigt.

Anders als seine Mutter mochte Alex Berlin. Seit elf Jahren lebte er nun in Friedrichshain und vermisste das Dorfleben nicht. Er mochte die Anonymität und die Hektik, die Stadt war lebendig und hatte trotz aller Booms und Hypes seit dem Mauerfall noch immer ihre traurigen Ecken. Ihm gefielen die bröckelnden Wände voller Graffiti besser als die glänzenden Glasfassaden am Potsdamer Platz. Gebäude mussten Narben haben, Risse, die das Eis in den Verputz gesprengt hatte, ausgebleichte oder abgewaschene Farben, verwitterte Fenster und Türen, damit er sich in ihnen heimisch fühlen konnte. Sie mussten Charakter haben, so wie die unsanierten Häuser hier, und auch die renovierten, wenn sie nicht gerade hellblau oder fliederfarben gestrichen waren. Wie viel helle Farbe die Berliner auch auf ihre Fassaden kippen mochten, sie konnten den Charakter ihrer Stadt nicht ganz verdecken.

Alex drehte sich noch einmal kurz zu dem Typen um, der noch immer auf den Knien lag. Auch sein Anzug konnte nicht verdecken, wie fertig er war.

Als Alex die Kippe ausgetreten hatte, wollte er noch nicht wieder heim, zu unruhig war er innerlich. Gemächlich schlenderte er bis zur Spree, holte sich unterwegs noch ein Bier beim 24-Stunden-Döner und warf den nuschelnden Punks vor der Warschauer Brücke 50 Cent in den zerknautschten Pappbecher. Egal, bei welchem Wetter, sie saßen immer unter dem einzigen kleinen Baum an diesem Straßenstück oder dösten bei Sonnenschein auf dem schmalen Rasenstreifen dahinter. Es waren nicht immer dieselben, sie sprachen unterschiedliche Sprachen, aber es waren immer Punks.

Am Wasser angekommen, drehte er sich noch eine zweite Kippe, was er selten tat. Er stand auf der Mitte der Oberbaumbrücke an der steinernen Balustrade unter einem der vielen Bögen, auf denen die U1 fuhr. Hier war die Spree breit.

In aller Ruhe zündete er sich die Zigarette an und zog ganz langsam an ihr. Dann nahm er einen Schluck Bier und starrte in die Richtung des verlassenen Osthafens. Links ragte dort ein Kran in den Nachthimmel, nahe dem rechten Ufer tanzten drei große durchlöcherte Statuen auf dem Wasser. Hinter ihm stapften lachende Stimmen vorbei, Autos fuhren von Kreuzberg nach Friedrichshain und umgekehrt, doch er drehte sich nicht um, sondern blickte weiter aufs Wasser, das dunkel unter ihm dahinfloss. Unter seinem Bogen fühlte er sich von allem abgeschieden.

Ein sanfter Wind wehte zwischen den Brückenpfeilern hindurch, und Alex spuckte einen Tabakkrümel aus. Dabei dachte er darüber nach, wie es wäre, jetzt zu springen, auf dem Wasser aufzuschlagen, langsam zu versinken, tiefer, immer tiefer, gezogen von den vollgesogenen Klamotten, bis hinab in den schweren Schlick am Grund des Flusses, um dort einfach zu sterben und eins zu werden mit dem Boden. Irgendwann wurde ohnehin jeder Mensch zu Kompost. Oder zu Asche, klar. In der Erde zu versinken, hatte für ihn nichts Erschreckendes, es würde sein, als käme er nach Hause.

Er nahm noch einen Schluck Bier, schwang sich auf die Steinbrüstung, zog die Füße hoch und starrte rauchend und trinkend weiter ins Wasser. Die leise plätschernde Schwärze ein paar Meter unter ihm erschien ihm so verlockend, die Tiefe so einladend, er wusste nicht, warum er nicht springen sollte. Er brauchte keinen Grund, es zu tun, seit Jahren suchte er immer wieder Gründe, es nicht zu tun.

Dabei dachte er weder den ganzen Tag an Selbstmord noch hörte er Stimmen, die ihm befahlen, sich die Pulsadern aufzuschneiden, doch manchmal brauchte er seinen ganzen Willen zum Weiterleben. Dann packte ihn diese dumpfe schwarze Leere, die in ihm lauerte, und überrollte ihn. Es war keine Verzweiflung, keine Angst, keine Schwermut, es war eine Art taube Schwärze, die unvermittelt über ihn hinwegschwappte. Als wäre er schon gestorben, völlig gefühllos, und müsste nur noch den Tod nachholen. Das tiefe dunkle Wasser zog ihn an wie jeder Abhang in den Bergen, jede Tiefe vor einem Fenster, der harte Asphalt unter einem Balkon oder einer Brücke und eine einfahrende U-Bahn, wenn er am Bahnsteig wartete. Immer ging er dann einen Schritt zurück, weil er nicht wusste, ob sein Körper nicht doch einfach springen würde, auch gegen seinen Willen. Um mitgerissen, um von den schweren Eisenrädern in die Erde gemanscht zu werden.

Das schwarze Wasser plätscherte und wartete.

Zentimeter um Zentimeter beugte er sich weiter hinab. Er könnte sich einfach fallen lassen, und alles wäre für immer vorbei.

»Verdammt«, murmelte er und schlug mit der Faust gegen die Steinsäule, so dass die Fingerknöchel aufgeschürft wurden und spitzer Schmerz durch seine Finger fuhr, bis hinauf ins Handgelenk. Schmerz half gegen die Taubheit in seinem Innern.

»Nein«, knurrte er. Er würde sich nicht umbringen, niemals, die verdammte Leere würde ihn nicht besiegen, auch heute nicht.

Zitternd stieg er wieder zurück auf den Fußweg der breiten Brücke, brachte die Balustrade zwischen sich und die wartende Spree.

»Verdammt«, fluchte er noch einmal und schleuderte die Zigarette fort. Zwei, drei orangefarbene Funken lösten sich im Wind, dann verlosch die Kippe im Wasser und wurde von den Wellen schaukelnd davongetragen. Diese Leere war ein Teil von ihm, und doch begriff er sie nicht als solchen. Er sah in ihr einen Feind, der sich in ihm festgesetzt hatte und den es in Schach zu halten galt.

Zwei Mädchen liefen hinter ihm vorbei, die eine schwärmte von einem Tom, der so furchtbar süß sei, die andere sagte: »Wenn du ihn anmachst, kratz ich dir die Augen aus. Er hat mich zuerst angesprochen, nicht dich.«

Wie schön, eine beste Freundin zu haben, dachte Alex, starrte weiter zum Osthafen und spuckte in den Fluss; er wollte den Geschmack der Zigarette loswerden. Dann nahm er einen langen Zug vom Bier.

Warum drängte es ihn danach, sich umzubringen? Er war kein Teenager mehr, warum hörte das nicht auf? Dieser Leere in ihm war es egal, wie alt er war und wie es ihm gerade ging. Sie war einfach da, saß lauernd in ihm. Doch sie würde ihn nicht kleinkriegen, schwor er sich erneut und spuckte in die Spree. Zigmal hatte er das Rasiermesser ohne psychologische Hilfe aus der Hand gelegt, hundertmal war er nicht gesprungen, und er würde noch tausendmal nicht springen.

Lächelnd dachte er an Lisa und leerte die Flasche. Dann stieß er sich von der steinernen Brüstung ab und schlenderte nach Hause.