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Die Mathematik mochte ich sehr und machte schnelle Fortschritte darin. Geometrie bereitete mir Entzücken, auch Brüche, Dezimalzahlen und Buchhaltung.
Miss Weeton, Journal of a Governess 1811-1825
Olivia wartete nervös in der Eingangshalle des früheren Meacham Anwesens, das jetzt im Besitz von Sir Fulke Fitzpatrick war.
Eine Viertelstunde nachdem man ihn einen Korridor entlang und in einen Raum geführt hatte, tauchte Lord Bradley in Begleitung zweier Männer wieder auf. Er wechselte ein paar Worte mit ihnen, die beiden Männer durchquerten den Gang und verschwanden in einem anderen Zimmer. Lord Bradley wandte sich in ihre Richtung und sie eilte über den Marmorboden zu ihm.
Er räusperte sich. »Ich habe eine gute und eine ziemlich herausfordernde Nachricht für Sie, fürchte ich. Herbert ist wegen des Gerichtsverfahrens in der Stadt. Er und sein Anwalt gestatten Ihnen, die fraglichen Geschäftsbücher anzuschauen.«
»Und die herausfordernde Nachricht?«, flüsterte Olivia.
Seine blauen Augen blickten nüchtern. »Sie haben eine Stunde, Olivia. Mehr konnte ich nicht herausschlagen.«
Sie schluckte und nickte dann. »Bitte beten Sie für mich.«
»Das werde ich. Das tue ich.« Er drückte ihr die Hand und öffnete ihr dann die Tür.
Olivia betrat eine prunkvolle Bibliothek. Alabasterbüsten schauten blind von den hohen Bücherregalen aus Mahagoni und Messing herunter. In der Mitte des Raums stand ein Schreibtisch mit Klauenfüßen. Mit Samtüberwürfen bedeckte Stühle waren etwas mehr in der Nähe des Marmorkamins versammelt. Darüber hing das goldgerahmte Porträt einer Dame, deren Brust mit Spitze bedeckt war und die auffallend missbilligend auf Olivia herunterschaute. Olivia ignorierte sie, trat an den Tisch und setzte sich. Drei Bücher lagen vor ihr, erleuchtet vom Licht, das durch vier hohe Schiebefenster fiel. Sie betete, dass die Glastafel von früher, die aufgrund fehlender regelmäßiger Übung trübe geworden war, wieder vor ihr stehen würde. Sie öffnete die Bücher in der richtigen Reihenfolge, verfolgte mit dem Finger die Spalten nach unten, während sie gleichzeitig rechnete und prüfte. Alles schien in Ordnung zu sein. Allmächtiger Gott, bitte steh mir bei …
Eine Stunde später öffnete sich die Tür. Olivia schloss das letzte Buch und erhob sich. Nicht zwei Männer kamen in die Bibliothek, sondern sieben: Lord Bradley, ein schwarzhaariger junger Mann, den sie für Herbert Fitzpatrick hielt, sein Vater, Sir Fulke, der Anwalt, den sie vorher schon kurz gesehen hatte, der Wachtmeister Mr Smith, der örtliche Friedensrichter und ein weiterer Mann, den sie nicht kannte.
Lord Bradley trat zwischen Olivia und die Gruppe der Männer. »Sir Fulke, das ist Miss Keene, die Tochter von Simon Keene.«
Vor ihr stand der hochmütige Gentleman aus der Krone und Krähe, jetzt zwölf Jahre älter. Die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen.
Seine dünnen Lippen kräuselten sich. »Ach … das dressierte Äffchen, jetzt ganz erwachsen.«
Sie spürte, wie angespannt Lord Bradley neben ihr war. »Sir Fulke!«
Olivia bezweifelte, dass der Mann Edwards eiskalte Warnung überhaupt hörte.
»Wie ihm das Schicksal in die Hände spielte«, sprach Sir Fulke weiter. »Dass ich das Anwesen seines Herrn kaufen und mein eigener Verwalter ihn weiter beschäftigen sollte! Und Keene wartete den richtigen Zeitpunkt ab, er erschlich sich das Vertrauen meines Verwalters, arbeitete sich in mein Geschäft und meine Bücher ein, und als er sich seiner Position sicher war, schlug er zu und dachte, ich würde es nicht merken. Tja, und jetzt macht das Schicksal eine grausame Wende und er sitzt in seiner eigenen Falle.«
Olivia schaute dem Mann in die Augen. »Das Gleiche könnte ich von Ihnen sagen, Sir.«
Er grinste. »Und wie soll ich das verstehen?«
»Ich bin sehr froh, dass Ihr Anwalt und unser Wachtmeister heute hier sind und auch der örtliche Friedensrichter«, bemerkte Olivia. »Ich glaube, das Schicksal ist immer noch am Werk.«
»Sie reden Unsinn, Mädchen. Wenn Sie meinen, Sie könnten mich mit Rätseln verwirren, haben Sie sich getäuscht.«
Olivia zwang sich zu einem Lächeln und machte einen neuen Anlauf. »Es freut mich, dass Sie so gesund aussehen, Sir Fulke«, begann sie. »Mr Smith sagte mir, Sie hätten einen harten Schlag auf Ihren Kopf bekommen. Er dachte, Sie hätten vielleicht einen Sturz gehabt, zum Beispiel eine Treppe hinunter.« Das nächste Lächeln fiel ihr leichter. »Es war freundlich von Ihnen, den Wachtmeister nicht darüber zu informieren, wo Sie verletzt wurden. Denn das hätte für meinen Vater sehr schlecht ausgesehen.«
Er kniff die Augen zusammen, antwortete aber nicht.
»Die hochgeachtete Mrs Atkins sagt, dass sie Sie in unserem Haus gefunden hat, bewusstlos.«
Wie sie gehofft hatte, focht er Mrs Atkins Aussage nicht an. Jeder im Dorf hatte Respekt vor der Hebamme. Die meisten hatten ihre Dienste bei Entbindungen in Anspruch genommen oder waren durch ihre Hände auf die Welt gekommen. Sir Fulke lebte lang genug in Withington, um zu wissen, wie sehr sie geschätzt wurde.
Olivia fuhr fort: »Ist es nicht möglich, dass Sie natürlich Simon Keene die Schuld an dieser Verletzung gaben und dass Sie deshalb jetzt eine so harte Strafe fordern? Ist das nicht genau die Rache, die Sie meinem Vater unterstellen?«
»Wovon reden Sie?«
»Ich vermute, Sie könnten unsere Treppe hinuntergefallen sein, aber ich sehe keinen Grund, warum Sie im ersten Stock unseres Hauses gewesen sein sollten, wenn sich dort nur mein Schlafzimmer und das alte Schulzimmer befinden. Können Sie mir einen nennen?«
Er starrte sie kalt an. »Mir fällt kein Grund ein.«
»Ist dann nicht eine andere Erklärung viel plausibler? Wurden Sie nicht in Wirklichkeit von hinten niedergeschlagen? Von einem Schurken, der zu feige war, um von Mann zu Mann mit Ihnen zu kämpfen?«
Er gab keine Antwort, doch seine Augen blitzten argwöhnisch.
»Das würde eine Menge erklären«, sprach Olivia weiter. »Es würde erklären, warum Simon Keene das Dorf so kurz darauf wie ein schuldiger Mann verließ. Ein Feuerhaken kann eine Menge Schaden anrichten. Mehr als ein Treppensturz.«
»Davies«, sagte Sir Fulke zu seinem Anwalt, während sein Blick weiterhin auf Olivia gerichtet war, »vielleicht sollten wir Körperverletzung auch noch auf unsere Anklageliste setzen.«
»Er gibt es also zu?«, fragte Mr Smith, der Wachtmeister.
»Genau genommen, nein«, antwortete Olivia. »Obwohl ich ihm diese letzten Monate die Schuld an einer Gewalttat zugeschrieben habe. Genau wie Sie.«
»Aha!« Sir Fulkes trübe Augen leuchteten auf. »Vielleicht suchen Sie auch ein wenig Rache. Er war ein grausamer Vater, nicht wahr?«
Sie lächelte liebenswürdig. »Er war nichts im Vergleich zu Ihnen, davon bin ich überzeugt.«
Er musterte sie, unsicher, was sie damit sagen wollte.
»Ich vermute, Sie waren einfach nur in unser Haus gekommen, um meiner Mutter ein paar Näharbeiten für Ihre liebe Frau zu bringen«, fuhr Olivia fort. »Und vielleicht stürmte Simon Keene herein und schlug Sie von hinten auf den Schädel, getrieben von rasender Eifersucht. Und Sie wussten nicht, was passiert war. Sie erwachten später im Arbeitszimmer von Mrs Atkins, wohin sie Sie mitgenommen hatte, damit Sie sich erholen könnten.«
»Hat sie nichts gesehen?«, fragte er, suchte eine Zigarre aus einer Holzkiste auf dem Tisch aus und rollte sie gelassen zwischen den Fingern hin und her.
»Wenn Sie wissen wollen, ob Sie gesehen hat, wie mein Vater Sie niederschlug – leider nein.«
»Miss Keene«, mischte Edward sich ein. »Ich verstehe nicht, was … das kann Ihrem Vater doch nicht helfen.«
»Ich möchte nur, dass die Wahrheit ans Licht kommt«, erwiderte Olivia. »Macht uns die Wahrheit nicht frei?«
»Ja, aber –«
Sir Fulke unterbrach ihn. »Meine eigene Erinnerung an diese Vorgänge – wie es eben bei Kopfverletzungen so ist – ist sehr vage, Miss Keene«, sagte er herablassend. »Als ich erwachte, war alles sehr nebelhaft. Ich dachte, Mrs Atkins hätte mir gesagt, ich sei eine Treppe hinuntergefallen, aber ich kann mich geirrt haben. Später erfuhr ich, dass ich mehr als einen Tag bewusstlos gewesen war.«
Dank einer großzügigen Menge Laudanum, dachte Olivia.
»Es muss so gewesen sein, wie Sie es beschrieben haben«, sagte Sir Fulke und schien sich mit dem Gedanken anzufreunden. »Ihr Vater fand mich in seinem Haus, nahm das Schlimmste an und schlug mich feige von hinten nieder, wie es zu ihm passen würde.«
Olivia verzog das Gesicht. »Vergessen Sie jedoch nicht, dass Sie Ihrem Angreifer einen guten Grund gaben.«
Wieder verengten sich die trüben Augen. »Wie meinen Sie das?«
»Wissen Sie, der Grund, warum jemand Sie von hinten niederschlug – diesen Teil leugne ich nicht – war, dass diese Person das Haus betrat und sah, wie Sie meine Mutter würgten.«
»Das ist ja lächerlich!«
»Ich gebe zu, dass es sich so anhört«, erwiderte Olivia in ruhigem Ton. »Und tatsächlich glaubte ich zu meiner Schande lange, dieser Unmensch, der darauf aus war, meine arme Mutter zu vernichten, sei mein Vater gewesen. Aber er war es nicht. Er war in Cheltenham, zusammen mit Ihrem eigenen Verwalter.«
Der siebte Mann, den sie nicht kannte, nickte zustimmend. »Das ist wahr, Miss.«
Sir Fulkes Mund verzog sich zu einem raubtierhaften Lächeln. »Miss Keene, es erstaunt mich, wie Sie diese Geschichte erzählen. Sie sollten Romane schreiben. Sie haben Ihre Berufung mit all diesem mathematischen Blödsinn verfehlt.«
Olivia seufzte. »Wenn es doch nur eine Erfindung wäre! Aber für mich war es ein Albtraum, der mich Monate lang gejagt hat.«
»Wenn es nicht Ihr Vater war, wer dann?«, fragte Sir Fulke. »Wollen Sie behaupten, ein Landstreicher oder ein Dieb sei vorbeigekommen und habe mich angegriffen?«
Olivias Blick streifte Edward.
»Mit beidem hat man mich in der Vergangenheit verwechselt. Aber, nein, das behaupte ich nicht.«
»Wer war es dann?«, fragte Mr Smith, während sich der Friedensrichter in seinem Stuhl vorbeugte und sie eindringlich beobachtete.
»Ich blieb an jenem Abend länger in Miss Cresswells Schule und kümmerte mich um zwei Schülerinnen, die noch etwas aufzuholen hatten. Als ich nach Hause kam, fand ich umgekippte Stühle und am Feuerrost zerschmettertes Glas. Ich hörte meine Mutter in Panik aufschreien und rannte in ihr Schlafzimmer. Es war ziemlich dunkel, aber hell genug, um einen Mann zu sehen, der seine Hände um den Hals meiner Mutter gelegt hatte und fest zudrückte. Ich weiß jetzt, wie sich das anfühlt. Ein scharfer Schmerz, die Lungen brennen, der sichere Tod steht einem vor Augen …«
»Alles Blödsinn, die ganze Geschichte!«, rief Sir Fulke aus.
»Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich wusste nur, ich musste diesen Mann stoppen und meine Mutter retten. Bevor ich wusste, was geschah, hatte ich den Feuerhaken in der Hand und schlug zu, so fest ich konnte. Ich dachte, ich hätte den Mann womöglich getötet. Aber das war nicht so. Er atmete noch.«
»Ich war nicht dieser Mann«, sagte Sir Fulke mit einem demonstrativen Blick zum Friedensrichter. »Sie sagen selbst, es sei dunkel im Raum gewesen und Sie hätten Ihren eigenen Vater im Verdacht gehabt. Es muss ihm zu Ohren gekommen sein, dass Ihre Mutter Männer empfing. Ich habe das Gerücht selbst auch gehört, obwohl ich ihm natürlich keinen Glauben schenkte.«
Olivia sagte kalt: »Sie lügen.«
»Und Sie würden alles tun und sagen, um Ihren niederträchtigen Vater frei zu bekommen. Erfinden Sie nur weiter Geschichten, meine Liebe. Aber abgesehen von Ihnen gibt es keine Zeugen dafür.«
»Ich fürchte, die gibt es doch.« Sie nickte Edward zu, der die Tür öffnete. Dorothea Keene trat herein, in einem prachtvollen gestreiften Kleid, einen Hut auf dem hoch erhobenen Kopf.
Alle Köpfe drehten sich nach ihr um. Der Wachtmeister schnappte nach Luft wie ein Fisch an Land.
Sir Fulke erbleichte sofort. »Dorothea!«
Mr Smith stammelte: »Mrs Keene, wir dachten … nachdem Sie verschwunden waren, ging jeder vom Schlimmsten aus. Ich habe ihnen gesagt, dass Keene Ihnen nie etwas antun würde, aber nur wenige haben mir geglaubt.«
»Sie hatten recht, Mr Smith«, begann Olivias Mutter. »Aber Sir Fulke hätte und hat es getan. Er hat versucht, mich zu erwürgen. Und ich hatte furchtbare Angst, dass er es wieder versuchen würde, wenn er zu sich kam – und dass er sich an demjenigen, der ihn niedergeschlagen hatte, rächen würde. Es blieb mir nichts anderes übrig, als meine Tochter noch in derselben Nacht wegzuschicken und am nächsten Morgen selbst aus dem Dorf zu fliehen, obwohl ich verletzt war.«
Sir Fulkes Gesicht lief rot an. »Was für Lügen! Das Ganze ist absurd. Die komplette Familie steckt unter einer Decke. Ich weiß, dass unser Friedensrichter und unser Wachtmeister klug genug sind, um die Wahrheit zu erkennen.«
Mr Smith wirkte wie ein verwirrter Junge. »Warum sollte Sir Fulke Ihnen etwas antun wollen, Mrs Keene?«
Dorothea Keene holte tief Luft und wandte sich an den Wachtmeister und den Friedensrichter. »Weil ich seine Annäherungsversuche zurückwies. Nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder, mehrere Monate lang. Er war … wie besessen von mir, obwohl ich ihn nie ermutigt hatte.«
»Oh doch, das haben Sie!«, rief Sir Fulke und ignorierte dabei die beruhigende Hand und die geflüsterte Warnung seines Anwalts.
Olivias Mutter setzte ihre Erklärung fort. »Er fing an, in unser Haus zu kommen und mir anstelle seiner Frau die Näharbeiten zu bringen. Mir waren seine Besuche sehr unangenehm, aber er hörte nicht damit auf. An diesem Abend versuchte er sich mir aufzuzwingen, und als ich mich wehrte, hat er … hat er mich fast getötet.«
»Unsinn! Smith, das ist alles blanker Unsinn!«
Mr Smith war offensichtlich völlig verblüfft und wusste nicht, wie er weiter vorgehen sollte. Sir Fulkes Verwalter saß schweigend da, genau wie der Friedensrichter, der die Vorgänge bewusst distanziert verfolgte.
Herbert Fitzpatrick erhob sich. »Ich glaube ihr«, sagte er.
»Halt den Mund, Junge!«, blaffte sein Vater. »Wendest du dich gegen mich, ja? Du warst immer schon ein schwacher, nutzloser Knabe.«
Herbert zuckte zusammen, aber als er sprach, war sein Tonfall ruhig und gefasst. »Ich war kein Zeuge der Ereignisse an diesem Abend, aber ich wusste von den immer häufigeren Besuchen meines Vaters bei Mrs Keene und dem Kummer, den dies meiner Mutter bereitete. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass mein Vater einer anderen Frau nachjagte, obwohl ich es bisher noch nie erlebt habe, dass er so hartnäckig hinter jemand her war.«
»Halt endlich den Mund. Du bist hiermit enterbt. Davies! Ich will ein neues Testament aufsetzen.« Sir Fulke wandte sich zur Tür.
»Wir sind noch nicht fertig, Sir Fulke«, sagte Olivia.
»Oh doch, das sind wir«, erwiderte er mit zusammengebissenen Zähnen.
»Da ist noch die Sache mit der Anklage der Veruntreuung. Ich habe die Bücher geprüft und mein Vater hat nichts unterschlagen.«
»So so«, spottete Sir Fulke. »Wer war es dann?«
Olivia blickte zu dem jungen Mann neben dem Anwalt, dessen blasses Gesicht von rabenschwarzem Haar umrandet war. In seinen wachsamen grünen Augen erkannte sie erneut die Angst, den eigenen Vater zu enttäuschen – die Angst, die sie in sich selbst wahrnahm und die sie vor vielen Jahren in der Krone und Krähe bei einem Jungen gespürt hatte. Würde, könnte dieser inzwischen erwachsen gewordene Junge es wagen, seinen Vater zu enttäuschen? Würde er die Wahrheit zugeben und sich dadurch den Zorn und die Ablehnung seines Vaters zuziehen, in hundertfach größerem Ausmaß, als es damals bei einem verlorenen Wettstreit gewesen wäre?
Da blickte der junge Mann sie an. Er schaute richtig hin. Und ob er sie erkannt oder etwas in sich selbst festgestellt hatte, konnte Olivia nicht sagen, doch er richtete sich zu voller Höhe auf und in seinen Augen leuchtete eine seltsame Entschlossenheit auf wie bei einem Soldat, der sich in den sicheren Tod ergibt.
»Niemand hat Geld von dir unterschlagen, Vater«, fing er an. »Sondern ich habe es weggenommen, um zu verhindern, dass du den letzten Schilling der Familie beim Spielen und für Frauen verschleuderst. Du hast Mutter und mir in den letzten Jahren nicht genug zum Leben gegeben, deshalb fühlte ich mich berechtigt, das wegzunehmen, was nötig war, um die Rechnungen zu zahlen und meiner Mutter die Behaglichkeit zu ermöglichen, die sie verdient hat. Enterb mich, wenn du willst – hier steht dein Anwalt bereit. Ich habe weise investiert. Von den erwirtschafteten Zinsen kann ich Mutter und mich jetzt versorgen – zwar nicht im großen Stil, aber jedenfalls anständig. Was ich von dir nicht sagen kann. Deine Angelegenheiten sind wirklich in einem traurigen Zustand und es ist kein versierter Buchhalter nötig, um das herauszufinden.« Er wandte sich an Olivia. »Obwohl eine versierte junge Frau nötig war, um aufzudecken, was ich getan habe. Und mir den Mut zu geben, dazu zu stehen.«
»Wie …! Wie kannst du es wagen!«, tobte der ältere Mann. »Ich werde dich wirklich enterben. Dich aus der Familie ausschließen!«
Herbert antwortete trocken: »Zwei Mal enterbt an einem einzigen Tag. Wie außergewöhnlich!«
Der Verwalter räusperte sich. »Sir, wenn Sie mir gestatten. Die Summe, die Ihr Sohn investiert hat, ist das Einzige, was die Familie vor dem Schuldgefängnis bewahrt. Vielleicht ist etwas Milde angebracht?«
»Mein Geld wird niemals in seine Diebeshände gelangen!«
»Welches Geld, Vater?«, sagte Herbert. »Wir haben bereits festgestellt, dass deine Schulden größer sind als dein Vermögen, und die Investoren fallen ab wie Schuppen von einem stinkenden Fisch.«
Sir Fulke blickte finster. »Und wessen Schuld ist das?«
»Deine, Sir.«
»Diese Gerüchte und jetzt die Anklage wegen Veruntreuung sind der Grund. Das ist dir zuzuschreiben. Es ist deine Schuld!«
Herbert schaute seinen Vater gelassen an. »So sei es. Aber Mr Keene kommt frei.«
»Warum denn das?«
»Weil er unschuldig ist«, erwiderte Olivias Mutter. »Und weil der Rest dieser schmutzigen Affäre unser Geheimnis bleiben wird, wenn Sie alle Anklagen fallenlassen.«
Der Wachtmeister widersprach. »Mrs Keene, wollen Sie ihn wirklich davonkommen lassen? Ich könnte –«
»Ja, das will ich, Mr Smith.« Sie richtete einen kalten Blick auf Sir Fulke. »Es sei denn, er würde sich mir noch einmal nähern.«
Herbert Fitzpatrick bot Olivia seinen Arm und geleitete sie aus dem Zimmer, während der Friedensrichter, Mrs Keene und Sir Fulke die Abmachung besiegelten. Edward, der Verwalter und der Anwalt fungierten als Zeugen.
In der Halle zog Herbert eine einzelne Goldmünze aus der Westentasche und drückte sie in Olivias behandschuhte Hand. »Das hier gehört Ihnen, glaube ich, Miss Keene. Sie haben den Wettstreit vor vielen Jahren gewonnen, und Sie haben heute gewonnen.«
»Ich denke, wir haben beide gewonnen«, erwiderte sie. »Danke, dass Sie die Wahrheit gesagt haben.«
Er riss den Blick von ihrer Hand los und schaute bedauernd auf. »Hätten Sie mir erlaubt zu schweigen, wenn ich es nicht getan hätte?«
Sie lächelte sanft und schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe lang genug geschwiegen.«