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Es gab immer Liebschaften unter den Dienern, aber wenn sie dem Herrn bekannt wurden, war die sofortige Entlassung die Regel.
Upstairs & Downstairs, Life in an English Country House
Mrs Hinkley wirkte leicht verärgert, als sie Olivia bat, in ihren Salon hinunterzukommen. Offensichtlich wünschte der Pfarrer, sie zu sehen. Doch die Haushälterin konnte einem Mitglied der Dienerschaft schlecht erlauben, Besucher im Empfangszimmer der Familie zu treffen. Genauso wenig konnte sie den Geistlichen auffordern, in die Küche hinabzugehen, wo die meisten Bediensteten ihre gelegentlichen Besucher empfingen. Mrs Hinkley seufzte und Olivia hatte den Eindruck, die Haushälterin halte das neue Kindermädchen irgendwie für eine Störung.
»Was will der Pfarrer von Ihnen?«, fragte sie flüsternd.
Olivia zuckte die Achseln.
»Er sagt, er sei Ihnen begegnet, als Sie das erste Mal ins Dorf kamen, und wolle sehen, wie es Ihnen geht.« Ihr Ton verriet, dass sie das alles für sehr fragwürdig hielt.
Olivia dagegen war erfreut, dass der Mann sich an sie erinnerte. Sie hatte jedenfalls nicht vergessen, wie freundlich es von ihm gewesen war, sie Miss Ludlow vorzustellen. Sie bereute es, dass sie damals nicht wie geplant zum Pfarrhaus gegangen war. Sie hoffte, dass er und seine Schwester keinen Platz am Tisch für sie gedeckt oder an jenem Abend lange auf sie gewartet hatten. Wie leid täte es ihr, wenn sie ihnen das Gefühl gegeben hätte, ihre Gastfreundschaft zu verschmähen.
Mr Tugwell erhob sich, als sie eintrat. »Miss Keene, Sie sehen gut aus! Deutlich besser als letztes Mal, als ich Sie gesehen habe! Geht es Ihnen gut?«
Sie nickte etwas überrascht. Hatte sie an jenem Tag am Fluss so furchtbar ausgesehen?
»Hervorragend. Sie erinnern sich hoffentlich an mich? Charles Tugwell, Pfarrer von St. Mary’s?«
Wieder nickte sie.
»Als Sie an jenem Abend nicht zu uns gekommen sind, habe ich –«
Mit großen Augen streckte sie bittend die Hand aus.
»Keine Sorge, meine Liebe. Ich verstehe es ganz und gar. Ich habe erfahren, was Ihnen zugestoßen ist und war sehr betroffen, es zu hören. Tatsächlich habe ich Sie an diesem Abend sogar gesehen, obwohl Sie sich meiner Anwesenheit nicht bewusst waren. Das Laudanum, wissen Sie. Ich habe viel für Sie gebetet.«
Jetzt wurde alles klar. Er hatte sie wirklich in ihrem schlimmsten Zustand gesehen. Sie spürte, wie seine Freundlichkeit ihr die Tränen in die Augen trieb, und zwang sich zu einem schwachen Lächeln.
»Aber, aber, meine Liebe, jetzt ist ja alles gut, nicht wahr? Ich hatte gehofft, Sie in der Kirche zu sehen, aber nachdem Sie nicht dort waren, bin ich hergekommen, um mich nach Ihnen zu erkundigen.«
Er legte den Kopf zur Seite.
»Ihr Hals ist verletzt, nicht wahr? Bedeutet Ihr Schweigen, dass Sie noch darauf warten, dass Ihre Stimme zurückkehrt? Oder habe ich Sie einfach nicht zu Wort kommen lassen?«
Sie schüttelte den Kopf und verkniff sich ein Grinsen.
»Ihre Fähigkeit zu gehen, scheint jedoch nicht eingeschränkt zu sein, und es ist ein schöner Tag. Darf ich Sie zu einem Spaziergang einladen?«
Sie starrte ihn mit offenem Mund an.
»Oh, ich bitte um Verzeihung. Sie haben hier jetzt eine Anstellung, nicht wahr? Ich muss gestehen, ich vergesse manchmal, wie gesegnet ich bin, dass ich jederzeit herumspazieren kann, wenn ich es möchte, es sei denn, es wäre eine Taufe oder Eheschließung durchzuführen. Ich verfasse sogar meine Predigten beim Gehen, wussten Sie das? Nein, natürlich nicht, wie könnten Sie auch? Ja, ich finde einen flotten Spaziergang genau das Richtige, um die Gedanken anzuregen und dem Geist Auftrieb zu geben.« Er hielt inne, um Luft zu holen, und verzog dann das Gesicht. »Entschuldigen Sie bitte, ich rede unaufhörlich, ich weiß. Ich muss Sie vorwarnen – wenn Sie doch einmal zum Gottesdienst kommen, werden Sie feststellen, dass meine Predigten ganz ähnlich sind. Es scheint mir nicht zu gelingen, etwas kurz und bündig zu sagen. Einige Gemeindeglieder sind freundlich genug gewesen, mich darauf aufmerksam zu machen. Das ist ganz bestimmt sehr hilfreich.«
Sie lächelte.
»Übrigens hat Miss Ludlow mir von Ihrer Absicht erzählt, sich um eine Anstellung in der Mädchenschule in St. Aldwyns zu bemühen. Ich dachte, ich könnte mich nächstes Mal, wenn ich in dieser Richtung unterwegs bin, für Sie erkundigen. Aber da Sie hier einen Platz gefunden haben, wird das vielleicht nicht mehr nötig sein?«
Eifrig gab Olivia ihm ein Zeichen zu warten und setzte sich dann an Mrs Hinkleys Schreibtisch. Sie gelobte sich, die Haushälterin von ihrem ersten Lohn zu entschädigen, nahm ein Blatt Papier und schrieb einen Brief, den sie so kurz wie möglich hielt.
Sehr geehrte Dame,
meine Mutter, Mrs Dorothea Keene, hat mir empfohlen, wegen einer möglichen Anstellung Kontakt zu Ihnen aufzunehmen.
Ich habe eine vorübergehende Anstellung in Brightwell Court angenommen, aber wenn Sie nach dem 4. Februar eine Stelle frei haben, möchte ich Sie um die Freundlichkeit bitten, mir hierher zu schreiben.
Darüber hinaus bitte ich darum, sollte meine Mutter Sie besuchen, sie freundlicherweise (und bitte nur sie allein) über meinen Aufenthaltsort zu informieren.
Mit bestem Dank,
Miss Olivia Keene
Sie faltete den Brief zusammen, erhob sich und war im Begriff, ihn Mr Tugwell zu geben, als sich die Tür öffnete und Lord Bradley mit eiligen Schritten und misstrauischer Miene den Raum betrat.
»Ach, Edward«, begrüßte ihn Mr Tugwell. »Ich bin gerade vorbeigekommen, um zu sehen, wie es Miss Keene geht.«
»Das hat man mir gesagt.« Aber Lord Bradleys Blick lag nicht auf dem Pfarrer, sondern auf dem gefalteten Papier in Olivias Hand.
Mr Tugwell folgte seinem Blick. »Oh, ich habe Miss Keene angeboten, eine Nachricht von ihr abzugeben, wenn ich das nächste Mal in St. Aldwyns bin. Sie war unterwegs zur Mädchenschule dort, als ihr, äh, Missgeschick passierte. Wie freundlich von Ihnen, Ihr hier eine Anstellung anzubieten.«
Lord Bradley gab keine Antwort darauf, sondern fixierte stattdessen Olivia mit einem herausfordernden, wütenden Blick.
Der Pfarrer streckte die Hand aus, aber die Nachricht fühlte sich in Olivias Hand plötzlich wie ein 40 Kilogramm schwerer Sack an. Sie erinnerte sich an Lord Bradleys Verbot, ohne seine Zustimmung Briefe zu verschicken, und wusste, dass sie dagegen verstieß, wenn sie den Pfarrer bat, eine Nachricht für sie zu überbringen. Aber glaubte er wirklich, sie würde sein Geheimnis in einem Brief an eine Schulleiterin offenbaren … und dazu noch die Vermittlung eines Gottesmannes benutzen?
Bei seinem warnenden eiskalten Blick musste sie schlucken. Offenbar glaubte er das tatsächlich.
Sie trat vor und händigte den Brief stattdessen Lord Bradley aus. Er entfaltete ihn und begann zu lesen.
Der Pfarrer runzelte die Stirn. »Also wirklich, Edward, halten Sie das für nötig?«
Auch darauf gab Lord Bradley keine Antwort.
Nachdem er die hastig verfassten Zeilen überflogen hatte, warf er ihr über den Rand des Briefes einen Blick zu. »Erwarten Sie wirklich, mit einem so ungenauen Schreiben eine Anstellung zu bekommen? Ohne das Angebot eines Leumundszeugnisses und ohne jede Erwähnung Ihrer Qualifikation?«
Sie zögerte und nickte dann.
Er verzog das Gesicht. »Sind Sie tatsächlich aufgrund der vagen Hoffnung hergekommen, eine Anstellung in einer Schule zu erhalten, wenn Sie nicht einmal wissen, wie die Leiterin heißt oder ob überhaupt eine Stelle zu vergeben ist?«
Trotzig hob sie das Kinn und nickte wieder.
Er schüttelte den Kopf. »Unglaublich. Und was ist das für eine Geschichte mit Ihrer Mutter? Sie vertraut ihrer eigenen Empfehlung so sehr, dass sie nicht daran zweifelt, Sie glücklich beschäftigt in der Schule anzutreffen, sobald sie zufällig vorbeikommt?«
Olivia zuckte die Achseln.
»Warum schreiben Sie nicht direkt an Ihre Mutter? Teilen Sie ihr mit, dass Sie stattdessen hier eine Stellung bekommen haben. Ich gebe meine Zustimmung dazu.«
Sie zauderte und schüttelte dann langsam den Kopf.
Seine hellblauen Augen wanderten über ihre gefalteten Hände und ihre hoffentlich harmlose Miene, bevor er sich wieder dem Brief zuwandte. »Ich frage mich, Miss Olivia Keene – was Sie zu verbergen haben?«
Sie zwang sich, seinem kritischen Blick unverwandt standzuhalten.
Er faltete das Papier zusammen. »Danke, Charles. Ich werde Hodges beauftragen, das hier sofort abzuschicken. Es ist nicht nötig, dass Sie sich Mühe damit machen.«
Er schaute wieder zu Olivia. »Aber ich würde an Ihrer Stelle nicht gespannt auf eine Antwort warten. Davon abgesehen sind Sie natürlich nicht frei, eine andere Stellung anzunehmen, solange Sie meine Erlaubnis dazu nicht haben.«
Mr Tugwell erhob Einspruch. »Wirklich, Edward, ich verstehe nicht –«
Lord Bradley unterbrach ihn mit erhobener Hand. »Keine Sorge, Charles. Miss Keene versteht es.« Er starrte sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Nicht wahr?«
Sie kniff ebenfalls die Augen zusammen, nickte aber dem Pfarrer zuliebe.
»Sehr gut. Ich werde Sie beide nun für den Rest dieses Besuchs allein lassen.« Lord Bradley machte auf der Ferse kehrt und verließ den Raum so abrupt, wie er ihn betreten hatte.
Nach einem peinlichen Moment des Schweigens nahm der Pfarrer seinen Hut vom Sofa. »Ich sollte mich wohl besser verabschieden und Ihnen erlauben, zu Ihren Pflichten zurückzukehren.« Er zögerte und ließ den Hut an der Krempe kreisen. »Ich hoffe, es ist Ihnen nicht unangenehm, wenn ich Ihnen sage, dass ich immer noch für Sie bete, Miss Keene.« Er sah zwischen der verschlossenen Tür und ihr hin und her. »Ich spüre, dass es Dinge in Ihrem Leben gibt, die nicht so sind, wie sie sein sollten. Ich bitte Gott darum, dass er Ihnen alles zum Besten dienen lässt, denn die Schrift sagt, dass er das für die Menschen tut, die ihn lieben und die nach seinem Ratschluss berufen sind. – Tun Sie das, Miss Keene«, fragte er behutsam, »lieben Sie ihn? Vertrauen Sie ihm und dienen Sie ihm?«
Verwirrt starrte sie ihn an. Wie konnte ein Mann, den sie kaum kannte, ihr solche persönlichen Fragen stellen? Sie wusste nicht, ob sie gerührt oder gekränkt sein sollte. Die sanften Linien seines Gesichts verschwammen vor ihr und voller Verlegenheit bemerkte sie, dass ihr Tränen in die Augen stiegen und über die Wangen rannen.
Nein … Sie schüttelte den Kopf. Ich vertraue Gott nicht und diene ihm nicht, dachte sie. Liebe ich ihn? Manchmal? Ist mein Leben so, wie es sein sollte? Bin ich, wie ich sein sollte? Nein und nochmals nein.
Er nahm ihre Hand. »Ich werde auch dafür beten.«
Ein paar Tage später bot Olivia Becky an, ihr beim Ausklopfen der Kinderzimmerteppiche zur Hand zu gehen. Als sie sich abmühte, einen der schweren Teppiche ins Freie zu tragen, kam Johnny Ross vom Stall zum Wäscheplatz herübergelaufen.
»Darf ich Ihnen damit helfen, Miss?«, fragte der Stallknecht. »Es macht mir keine Mühe.«
Sie erlaubte es ihm. Mit seiner Hilfe hängte sie den Teppich über eine Leine und drückte ihre Dankbarkeit mit einem Lächeln aus.
Er lächelte noch breiter. »Ich habe mich gefragt, wann Sie Ihren Halbtag bekommen«, fing er an. »Wenn das der Sonntagnachmittag ist wie bei mir, könnten wir dann vielleicht zusammen ins Dorf spazieren?«
Langsam schüttelte sie den Kopf.
»Sie haben keinen Halbtag?«
Sie schüttelte erneut den Kopf.
»Gut. Ich meine, nicht gut, aber zumindest sagen Sie nicht grundsätzlich nein zu mir. Das tun Sie doch nicht, oder?«
Olivia verneinte mit einem Kopfschütteln. Doch da sie ihn nicht ermutigen wollte, fing sie an, den Teppich mit dem Klopfer zu bearbeiten, den Miss Peale ihr gegeben hatte. Sie spürte seine braunen Augen auf ihrem Körper, während sie auf den Teppich einschlug, aber schließlich gab er wohl auf, denn als sie einen Blick über die Schulter zurückwarf, war er verschwunden.
Ein paar Minuten später spürte sie, dass erneut jemand hinter ihr stand. Mit einem tadelnden Lächeln drehte sie sich um und erwartete, Johnny zu sehen. Das Lächeln verging ihr auf der Stelle.
»Haben Sie Ihren Bewunderer erwartet?«, spottete Lord Bradley.
Olivia sah sich um und merkte, dass der aufgehängte Teppich sie vor Blicken aus dem Haus abschirmte. Vielleicht sah er darin eine Gelegenheit, seiner Drohung Nachdruck zu verleihen, ohne mit ihr gesehen zu werden oder die Kinder dabei zu haben. Sie wünschte sich den lächelnden Lord Bradley aus dem Kinderzimmer zurück und fragte sich, was aus ihm geworden war.
»Ich dachte, Sie hätten verstanden, dass Sie sich mit niemandem unterhalten dürfen.«
Bevor sie reagieren konnte, fuhr er fort: »Nach dem Grinsen auf Ross' Gesicht zu schließen, haben Sie eine Menge mit Ihren Augen gesagt. Vielleicht haben Sie ihm für später ein Rendezvous versprochen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich hoffe nicht. Wenn er wieder mit Ihnen gesehen wird, ist es gut möglich, dass er seine Stellung hier verliert.«
Sie rang nach Luft. »Das ist nicht in Ordnung!«
Ihr Ausbruch überraschte sie beide. Lord Bradley war für einen Moment zum Schweigen gebracht, doch dann sprach er ruhig weiter. »Ihre Stimme ist zurückgekehrt, wie ich feststelle. Was haben Sie zu Ross gesagt?«
»Nichts«, antwortete sie mit rauer Stimme.
Er musterte sie mit starrem Blick, als versuche er, ihre Ehrlichkeit abzuschätzen. »Und Sie werden auch weiterhin nichts zu ihm sagen, bis ich Ihnen die Erlaubnis gebe.«
Sie war empört. »Sie können nicht –« Sie schluckte. Ihre Kehle fühlte sich trocken und kratzig an. »Sie können nicht von mir erwarten, dass ich für immer schweige.«
»Im Schwanen ist Ihnen das ganz gut gelungen, als es zu Ihrem Vorteil war.«
»Aber da konnte ich nicht sprechen«, erwiderte sie heiser.
»Und jetzt werden Sie es auch nicht tun.«
»Aber drei Monate lang? Das ist unmöglich!«
»Ich vermute, für eine Frau ist das doppelt schwer.«
Olivia verkniff sich eine Widerrede und argumentierte stattdessen: »Das ergibt keinen Sinn. Wenn ich es jemand erzählen wollte, könnte ich das tun« – sie schluckte wieder – »und trotzdem vor allen anderen so tun, als wäre ich stumm.«
»Glauben Sie wirklich, in einem Haushalt wie diesem würde ich es nicht in Minutenschnelle erfahren, wenn Sie etwas sagen würden?«
Sie hob die Hände. »Ich verspreche Ihnen, dass ich keiner Menschenseele erzählen werde, was ich gehört habe.«
»Was ist ein Versprechen von Ihnen schon wert?«
Fassungslos starrte Olivia ihn an. Sie fühlte sich, als hätte er ihr ins Gesicht geschlagen.
Er verzog das Gesicht. »Es tut …« Er kratzte sich am Hals. »Das hätte ich nicht sagen sollen. Aber –«
»Wenn Sie so gering von mir denken«, erwiderte sie steif, »warum schicken Sie mich dann nicht weg und der Fall ist erledigt?«
»Weil ich nicht riskieren kann, dass sich irgendwo eine lose Zunge aufhält.« Als spräche er zu sich selbst, fügte er hinzu: »Vor allem jetzt nicht.«
Sie fragte sich, was er meinte.
Er richtete sich auf und fuhr schnell fort: »Aber in ein paar Monaten sollten einige wichtige Angelegenheiten geregelt sein. Vielleicht kann ich mich dann mit der … der neuen Information befassen, die Sie belauscht haben.«
»Aber vorzugeben, ich könne nicht sprechen, wenn ich es sehr wohl kann … andere auf diese Weise zu betrügen, das ist nicht richtig!«
»Genauso wenig wie Lauschen«, gab er in abschließendem Ton zurück und marschierte davon.