47

 

Frauen sahen die Gouvernante als Bedrohung ihres Glücks.

M. Jeanne Peterson, Suffer and Be Still

 

Als die Post an diesem Tag kam, schnappte sich Judith einen Brief von Hodges und begab sich schnell nach oben. Edward beobachtete sie mit trauriger Ergebenheit.

Ein paar Minuten später betrat er Judiths private Räume zum ersten Mal in seinem Erwachsenenleben. Er tat dies, ohne anzuklopfen.

Judith saß an einem eleganten Damenschreibtisch, über die Nachricht gebeugt.

»Hallo Judith. Wieder ein Brief?«

Sie hob den Kopf mit scharfem Blick und musterte sein Gesicht. »Ja … aber er ist nur von Mama.« Sie machte eine lässige Handbewegung und begann, das einzelne Blatt wieder zusammenzufalten.

»Darf ich?«, fragte er mit gespielter Gleichgültigkeit und streckte seine Hand aus. Ihre Blicke verfingen sich. Als sie ihm den Brief nicht aushändigte, zog er ihn ihr aus den Fingern.

Er holte den ersten Drohbrief aus seiner Tasche und verglich die beiden, als wären sie nichts Bedeutsameres als zwei verschiedene Zeitungsberichte desselben Ereignisses. »Und wie geht es Mama dieser Tage?«, fragte er gleichmütig.

Sie beobachtete ihn mit reglosen Zügen und wachsamen Augen. Mit überzeugendem Desinteresse antwortete sie: »Es geht ihr ganz gut, denke ich.«

»Das vermute ich. Jetzt, wo sie Grund hat zu glauben, dass ihr Sohn Brightwell Court erben wird.«

»Wird er das?«, fragte Judith mit verräterisch hoher Stimme.

»Es ist wahrscheinlich, wie du gut weißt. Hier sagt sie, und das finde ich sehr interessant: ›Siehst du Anzeichen dafür, dass er nachgibt? Oder muss ich noch einmal schreiben?‹«

Judith schluckte. »Das könnte sich auf etwas völlig Beliebiges beziehen.«

Edward steckte sich beide Briefe in die Tasche. »Wie lange weißt du es schon?«

Sie betrachtete ihn mit ruhigen, großen blauen Augen. »Wir sind schließlich nicht diejenigen, die Unrecht getan haben«, sagte sie und ließ jede Verstellung fallen.

»Nichts Illegales, auf jeden Fall. Es sei denn, man nimmt deinen Anteil bei dem Erpressungsversuch hinzu.«

Ihre hellen Brauen hoben sich.

»Ja, nach deinem Besuch – oder war es deine Mutter – war der Ehemann der Hebamme inspiriert, es mit einer Erpressung zu versuchen.«

Sie schüttelte den Kopf, die Lippen leicht geöffnet. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten. Der tattrige alte Narr schien seinen eigenen Namen kaum zu kennen, als ich bei ihm war. Er erinnerte sich, dass seine Frau etwas über seltsame Vorgänge in Brightwell Court vor vielen Jahren murmelte. Ja, es hätte vielleicht mit einem Baby zu tun, aber so genau könne er das nicht sagen.« Sie zuckte die Achseln. »Ich habe vielleicht ein Geheimnis angedeutet, aber niemals Erpressung vorgeschlagen.«

»Trotzdem denke ich, dass der Wachtmeister den Zusammenhang höchst interessant finden könnte. Als Friedensrichter finde ich es jedenfalls sehr interessant.«

»Ich habe mit diesem Kreuzzug nicht angefangen«, verteidigte sich Judith. »Und ich habe darauf bestanden, dass Mama eine Weile Ruhe gibt, nachdem Lady Brightwell gestorben war.«

Sie schob ihren Stuhl zurück und erhob sich. »Sie sagt, dass sie und Vater immer einen Verdacht hatten. Der Arzt kam, und ging mit keiner Neuigkeit über die Geburt. Jeder war überzeugt, dass Lady Brightwell wieder ein ›Missgeschick‹ erlitten hatte. Und dann taucht plötzlich ein völlig gesunder Junge auf.«

Judith bewegte sich träge durchs Zimmer. »Das waren natürlich nur Gerüchte, und nachdem du von Kopf bis Fuß wie ein Bradley aussiehst, wurde nichts unternommen. Aber dann hatte dein Vater dieses Lungenfieber – wann war das, vor sieben oder acht Jahren? Und mein Vater dachte, es würde sich lohnen, die Situation genauer zu betrachten. Er versuchte, die Hebamme zu finden, aber sie war bereits verstorben. Als Nächstes suchte er den Doktor auf, aber du weißt ja, wie Ärzte sind. Alle ganz der Gentleman, professionell und diskret. Zu erfolgreich, um sich von einem kleinen Bestechungsgeld, wie mein Vater es hätte anbieten können, kaufen zu lassen.« Sie atmete tief aus. »Also ließ er die Dinge wieder auf sich beruhen. Und dann starb er selbst, während dein Vater sich wieder erholte.«

Sie drehte sich um und schaute ihm in die Augen. »Aber weißt du, Edward, dein liebes altes treues Kindermädchen wird langsam alt. Ihr Verstand lässt nach. Sie plappert immer wieder, dass mein Alexander dir in diesem Alter so ähnelt, und wie das nur möglich sein kann. Ich sagte ihr, es sei nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass du und ich Cousin und Cousine sind. ›Cousin und Cousine?‹, sagte sie und lachte, als hätte ich einen guten Witz gemacht. Das erste Mal hielt ich sie einfach nur für verwirrt. Ich dachte, wegen meines Ehenamens hätte sie vergessen, dass du und ich miteinander verwandt sind. Aber oft schien sie sich ihrer Sache ganz sicher zu sein. Ganz klar bei Verstand.«

»Das ist natürlich kein Beweis«, sagte Edward und klang seiner Überzeugung nach glaubwürdig unbekümmert.

»Brauchen wir denn einen Beweis?«, fragte sie rhetorisch. »Alles, was wir tun müssen, ist die Frage im Oberhaus mit genügend Indizien aufzubringen, sodass sie deinen Vater fragen. Würde er seine Landsleute anlügen? Mit seinen Taten vielleicht, aber nicht mit Worten, wenn er direkt angesprochen wird.«

Beim Gedanken, dass sein Vater öffentlich von seinesgleichen verurteilt werden könnte, zuckte Edward zusammen.

»Und dann bist da noch du, edler Edward. Du würdest nicht den rechtmäßigen Platz eines anderen Mannes einnehmen, wenn du wüsstest, wie du es jetzt tust, dass du keinen Anspruch darauf hast.«

»Du schmeichelst mir, Judith. Aber wie kannst du so viel von jemand halten, der so niedrig geboren ist?«

»Es ist alles eine Frage der Erziehung, nehme ich an.«

»Du klingst wie Vater.« Edward blickte sie prüfend an und Traurigkeit machte sich in ihm breit. »Warum hast du das getan, Jude?«

Sie zuckte die Achseln und erwiderte leichtfertig: »Ich hatte Angst, es nicht anders zu schaffen. Wieder in eingeschränkten Verhältnissen leben zu müssen. Du weißt, es war mir zuwider, damit aufzuwachsen, dass ständig Geschäftsinhaber und Geldeintreiber an die Tür klopften. Mein Vater hat all sein Geld verspielt und dann das Vermögen meiner Mutter, sodass ich mich kaum passend für den Eintritt in die Gesellschaft ausstatten konnte.«

»In meinen Augen sahst du immer gut aus.«

»Es hat mir nicht viel genützt. Ich habe einen schneidigen Marineoffizier geheiratet und war davon überzeugt, er würde im Krieg ein Vermögen machen. Stattdessen war ich am Ende eine Witwe ohne Vermögen und hatte noch die Kinder einer anderen Frau zu versorgen.«

»Aber Vater sorgt finanziell für dich, oder nicht?«

»Ja, aber wie lange?«

Er wartete auf eine nähere Erklärung. Nachdem sie nun einmal angefangen hatte zu reden, schien sie bereit, alles aufzudecken.

»Ich gebe zu, ein Teil von mir erfuhr nur sehr ungern von deiner niedrigen Geburt, denn das machte meine Pläne zunichte. Ich hatte gedacht, du und ich könnten heiraten, sobald meine Trauerzeit vorbei wäre.«

»Dachtest du das?«

Verlegen sprach sie schnell weiter, bevor er ähnliche Gedanken bestätigen oder leugnen konnte. »Du hast die Kinder so gern und als Freund von Dominick fühlst du eine gewisse Verantwortung.«

»Das ist wahr.«

Sie warf ihm einen Blick zu und wandte sich dann wieder ab. »Aber du hast Miss Harrington den Hof gemacht und sogar Miss Keene. Wenn du eine andere Frau heiraten würdest, wäre sie vielleicht nicht gewillt, mich unter ihrem Dach wohnen zu lassen und für die Kinder aufzukommen. Aber wenn Felix der Erbe würde, wäre er als mein Bruder immer verpflichtet, für mich zu sorgen, nicht wahr?«

»Ich bin dein Bruder. Im gleichen Grad, wie Felix es ist.«

Sie runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«

»Es gibt einen Grund, warum Alexander mir ähnelt. Du erinnerst dich doch an deine Bemerkung, dass du und ich einander ähnlicher sind als Felix und du? Dafür gibt es einen Grund.«

Sie starrte ihn an, fast ängstlich, fand er.

Er fuhr in ruhigem Ton fort. »Meine Mutter war niemand, den du kennen könntest. Aber du kanntest meinen Vater. Denn er war auch deiner.«

Sie stand vollkommen reglos da, als würde sie den Atem anhalten. Dann begannen ihre Augenlider zu flattern wie ein Fensterladen, auf und zu. Sie blinzelte, als wolle sie ihre Sicht ändern oder unzählige Bilder aus der Vergangenheit in Stücke schlagen. Aber sie machte nicht den Versuch, seine Aussage zurückzuweisen.

»Wusste er es?«, fragte sie.

»Dein Vater? Ich glaube nicht.«

»Ich denke, er könnte es geahnt haben … Vielleicht war das der wahre Grund, warum er die Sache auf sich beruhen ließ.«

Edward seufzte. Er hatte genug von der ganzen Geschichte. »Nun, das spielt letzten Endes keine Rolle und ändert auch nichts. Oder, liebe Schwester?«

Sie blinzelte wieder, dieses Mal, um die Tränen abzuwehren, die sein beißender Ton hervorgerufen hatte. »Verachtest du mich so sehr?«

Er betrachtete sie nüchtern. »Ich könnte dich niemals hassen, Judith. Aber ich bin enttäuscht. Ich hatte gedacht, wir wären zumindest Freunde. Du hättest mit dem, was du erfahren hast, einfach zu Vater und mir kommen können. Es gab keinen Grund für diese ganze Mantel-und-Degen-Geschichte.«

Edward trat an Judiths Kleiderschrank und öffnete seelenruhig die Tür, wie ein Jugendlicher, der die Küchenschränke für einen nächtlichen Imbiss durchsucht.

Sie reckte das Kinn. »Er hätte es nie zugegeben, es sei denn, man hätte ihn dazu gezwungen.«

»Da hast du vielleicht recht. Aber ich fürchte, du wirst die Folgen deiner kleinen Scharade noch bedauern.« Er zog den verschleierten Hut heraus und schleuderte ihn auf den Ankleidetisch. »Die verschleierte Frau, Judith? Was für eine Schauergeschichte!«

»Es war Mutters Idee. Sie dachte, Lord Brightwells Interesse an Miss Keene könne unsere Pläne durchkreuzen. Als ich ihr die Notiz aus der Mädchenschule zeigte, hoffte sie, wir würden etwas Belastendes über sie herausfinden, um ihre Zuneigung zu zerstören.«

»Warum? Selbst wenn sie seine Tochter gewesen wäre, was sie nicht ist, würde sie nichts erben, außer einer Mitgift oder einer kleinen Zuwendung.«

Sie verzog das Gesicht. »Seine Tochter? Daran dachten wir nicht. Wir fürchteten, er könnte … er hätte romantische Absichten ihr gegenüber.«

»Ach so.« Er nickte. »Ich gestehe, dasselbe dachte ich auch für kurze Zeit. Aber sein Interesse an Miss Keene war komplett väterlicher Natur, das kann ich dir versichern. Das heißt natürlich nicht, dass er nicht noch einmal heiraten könnte, sobald die Trauerzeit vorbei ist.«

Judith warf ihm einen besorgten Blick zu.

»Siehst du, was für ein Risiko du eingegangen bist, Judith? Statt zufrieden damit zu sein, dass du in Brightwell Court ein Zuhause hattest und alles, was du brauchtest, hast du alles auf die eine Karte gesetzt, dass mein Vater ohne rechtmäßigen Sohn stirbt. Außerdem verlässt du dich auf Felix' Bereitschaft, sich so großzügig zu verhalten wie Vater. Ich bezweifle das, aber das ist ein anderes Thema. Denn wenn Vater wieder heiratet und seine Frau ihm einen Sohn gebiert … dann verlierst du alles. Erkennst du das nicht, Judith? Es stellt sich heraus, dass du genauso eine Spielerin bist, wie dein Vater es war, obwohl du sagst, dass du ihn dafür verachtest.«

Ihre Lippen zitterten. Obwohl ihre Blicke wütend und widerspenstig waren, begann ihre Fassade doch zu bröckeln.

Edward drehte sich um und durchquerte langsam das Zimmer.

»Muss ich also gehen?«, rief sie ihm nach, die Stimme trügerisch ruhig.

An der Tür blieb er stehen und schaute noch einmal zurück. Sie stand von ihm abgewandt da und das durchs Fenster fallende Sonnenlicht hüllte sie in einen unverdienten goldenen Glanz. Vielleicht, dachte er, war das das Bild, wie Gott alle seine Kinder sah. Selbstsüchtig und gefallen, einerseits. Aber im vergebenden Licht seines Sohnes trugen sie alle einen unverdienten Heiligenschein.

»Mein Vater verlangt das nicht von dir. Du bist seine Nichte. Er wird dich immer lieben.«

Ihre runden Schultern bebten, aber er spürte keine Befriedigung, keinen Sieg. Denn egal, ob sie blieb oder fortging – in seinem Herzen hatte er sich von dieser Frau verabschiedet, die er seit der Kindheit geliebt hatte, als Kameradin, Cousine, Vertraute und Freundin.

Ornament

 

Drei Wochen später stand Felix steif vor ihnen in der Bibliothek, unfähig, Edwards Blick zu begegnen. Stattdessen fixierte sein Blick Lord Brightwells Krawatte und er erklärte, als hätte er es auswendig gelernt: »… Wenn mein Onkel mich öffentlich als seinen rechtmäßigen Erben anerkennt und Edward bereit ist, von seinem Anspruch zurückzutreten und das daraus resultierende neue Testament nicht anzufechten, dann werden wir keine weiteren Maßnahmen ergreifen und keine rechtliche Entschädigung wegen arglistiger Täuschung verlangen.«

Lord Brightwells Augen loderten. »Entschädigung? Solange ich lebe, steht dir nichts zu. Nichts.«

Felix schrumpfte sichtbar unter der Empörung seines Onkels.

»Alles, was ich dir gegeben habe – dein Schulgeld, deine Auslagen, die jährliche Zuwendung –, all das habe ich dir aus Großzügigkeit gegeben, nicht aus einer Verpflichtung heraus.«

»Ich –« Felix begegnete dem Blick des Earls und jeder Widerspruch erstarb. Stattdessen murmelte er: »Das dachte ich auch immer, Mylord.«

»Wer hat dann diesen kleinen Monolog für dich verfasst? Deine Mutter, nehme ich an?«

Verlegen nickte Felix. »Sie sagt, dass du das alles nicht aus Großzügigkeit für mich getan hast, sondern aus einem Schuldgefühl heraus.«

»Und habe ich deine verwitwete Schwester aus dem gleichen Grund aufgenommen? Traut man mir keine christliche Barmherzigkeit zu?«

Felix reckte trotzig und abwehrend das Kinn. »Ich habe nicht gesagt, ich wäre der gleichen Meinung wie meine Mutter, Mylord. Aber wenn ich Lord Brightwell bin, werde ich selbst für Judith sorgen.«

»Sehr anständig«, erwiderte der Earl gedehnt. »Aber spannst du nicht gerade die Trauerkutsche vor das Pferd? Solange ich lebe, wärst du nur mein voraussichtlicher Erbe – ohne Titel, ohne Geld, ohne Privilegien. Und eins sollst du wissen, Neffe: Ich beabsichtige, sehr lang zu leben.«

Felix schluckte. »Ich persönlich bin froh, wenn es so ist«, erklärte er ernsthaft. »Ich habe keine große Sehnsucht nach der Adelswürde. Das ist mit schrecklich viel Verantwortung verbunden.«

»Es erleichtert mich, das zu hören. Denn wer weiß«, sagte der Earl, »vielleicht heirate ich ja noch einmal und bekomme einen eigenen Sohn? Der wird dann mein Erbe und du erhältst nichts.«

»Mama hat Angst davor. Sie war so froh zu hören, dass Miss Keene nicht mehr da ist.«

»Ach, war sie das?«

»Mir persönlich wäre es recht, kein Lord zu sein. Außer … es würde mir helfen, die Hand einer gewissen Dame zu gewinnen.«

»Miss Harrington, nehme ich an«, warf Edward ein.

Das Gesicht des jungen Mannes wurde flammend rot. »Ich fürchte, so ist es.«

Lord Brightwell beachtete dieses Geständnis nicht, sondern fragte: »Hast du nicht etwas Jura in Oxford studiert, Felix? Dir muss klar sein, mein Junge, dass es nichts zu gewinnen gibt außer einem Skandal, wenn wir diese Geschichte während meiner Lebenszeit bekannt machen. Edward muss von nichts zurücktreten. Er ist genauso ein einfacher Bürger wie du. Nur der älteste Sohn kann gesetzlicher Erbe sein, und als solcher kann er den Ehrentitel benutzen, den ich durch meinen zweiten, niedrigeren Rang als Baron von Bradley besitze, aber die Adelswürde bleibt bei mir. Verstehst du? Du kannst niemals Lord Bradley sein. Und erst nach meinem Tod würdest du Lord Brightwell werden.«

Sein Neffe machte ein langes Gesicht.

»Du wirst feststellen, mein Junge, dass nicht bei jeder würdigen Frau ein Titel nötig ist, um sie zu gewinnen.«

Felix schob die Unterlippe vor. Er war offensichtlich nicht davon überzeugt.

»Folgendes schlage ich vor«, sagte Lord Brightwell. »Ich werde meinem Testament ein volles Geständnis beifügen, das Täuschungsmanöver aufdecken und die volle Schuld auf mich nehmen, sodass alle gravierenderen Konsequenzen mich treffen – ich werde zu tot sein, um mich darüber zu bekümmern – und nicht Edward, der für diese Sache nichts kann. Er wird den Ehrentitel verlieren und viele in der Gesellschaft werden ihn zurückweisen, wenn die wahre Natur seiner Geburt bekannt wird. Aber da er beabsichtigt, in aller Stille zu leben, fernab von der Londoner Gesellschaft, glaube ich nicht, dass ihn die Folgen besonders hart treffen werden.

Nachdem ich nicht mehr da bin, werden du und die Anwälte diesen Beweis vor den Lordkanzler bringen.« Er legte seinen Arm um Felix' Schultern und sagte in vertraulichem Ton. »Du hast zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen echten Beweis, mein Junge. Außer einer senilen alten Frau, die uns niemals an Fremde verraten würde, selbst wenn sie lang genug leben würde, um das zu tun.« Er nahm seinen Arm wieder weg und fuhr im besten Parlamentstonfall fort: »Das Committee for Privileges wird den Fall untersuchen und wird, da bin ich mir völlig sicher, deinen Anspruch auf die Adelswürde anerkennen.« Er warf Felix einen scharfen Blick zu. »Denk daran, das setzt die Abwesenheit eines gesetzlichen Erben voraus. Wenn ich wieder heirate und einen Sohn habe, dann würden ein solches Testament und ein solches Geständnis ihn trotzdem in die Lage versetzen, dass er der Erbe ist. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

In Felix' Augen funkelte eine Ahnung auf. »Hast du eine bestimmte Dame im Sinn, Onkel?«

»Ach, das ist meine Sache, nicht wahr? Also. Wenn du zustimmst – und deine Mutter und deine Schwester ebenfalls –, ruhig mit dieser Sache umzugehen und einen Skandal zu vermeiden, dann werde ich dir weiterhin eine großzügige Zuwendung zahlen. Sie wird dir erlauben, das Leben eines Gentleman zu führen, so wie du es dir wünschst, und die Hand beliebig vieler Damen der besseren Gesellschaft zu gewinnen.« Er stellte sich vor seinen Neffen und sah ihm direkt in die Augen. »Wenn du nicht einverstanden bist und es zu einem Skandal kommt, dann wirst du bis nach meinem Tod und dem darauf folgenden gerichtlichen Fall keinen Schilling von mir erhalten. Stimmst du zu oder nicht?«

Felix schluckte erneut. »Ich stimme zu.«

Lord Brightwell nickte anerkennend.

»Fein. Und jetzt: Es kann gut sein, dass ich mich wieder verheirate, aber in meinem Alter kann ich es mir nicht leisten, sozusagen alles auf diese eine Karte zu setzen. Die Chance ist groß, dass du tatsächlich der nächste Lord Brightwell sein wirst und für diesen Fall möchte ich dich gut vorbereitet wissen, damit du diesem Namen gerecht wirst. Deshalb –« Er richtete sich auf und befahl kurz angebunden: »Erstens wird es keine weiteren Unschicklichkeiten mit der Dienerschaft geben. Zweitens wirst du dein Studium weiterführen und deinen Abschluss machen. Und drittens wirst du mit deiner Ausbildung in der Verwaltung des Anwesens und in parlamentarischen Aufgaben beginnen – in der Bibliothek, Samstag in einer Woche, neun Uhr. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Ja, das hast du, Mylord.« Felix sah verwundert zu Lord Brightwell hoch. »Ich muss sagen, du erstaunst mich, Onkel. Ich hätte das nicht von dir erwartet.«

»Was hast du denn erwartet?«

»Dass du mich rauswerfen würdest. Damit ich nicht in Versuchung käme …«

»Mein Ableben zu beschleunigen?«

Wieder errötete Felix. »Genau das.«

»Ich würde dir das nie zutrauen, Felix, auch wenn sich deine Mutter und deine Schwester als Intriganten erwiesen haben. Du bist vielleicht nicht der klügste Junge, und auch nicht der vorsichtigste, nicht der vornehmste und auch nicht …«

Edward räusperte sich.

»In Ordnung! Aber du hast ein gutes Herz und ich bin voller Hoffnung, dass du mit der angemessenen Ausbildung und Begleitung deiner Familie noch Ehre machen wirst.«

»Und was ist mit meiner Schwester?«

»Ich muss dir leider sagen, dass Judith uns schon verlassen hat.«

»Sie hat euch verlassen?«

»Ja, sie hat wieder geheiratet und ist jetzt sogar schon auf ihrer Hochzeitsreise.«

Felix blieb der Mund offen stehen. »Wann war das?«

»Vor zwei Tagen, wie ich es verstanden habe. Mit einer Sondererlaubnis.«

»Warum hat man das mir nicht gesagt?«

»Das wirst du Judith fragen müssen, wenn sie aus Italien zurückkommt. Ich habe ihr nicht verboten, Kontakt mit dir aufzunehmen, falls du das denkst.«

»Wen um alles in der Welt hat sie geheiratet?«

»George Linton.«

»Linton? Das kann doch nicht wahr sein. Du machst wohl Witze! Diesen Tölpel?«

»Diesen Tölpel, in der Tat, mit seinen angenehmen Viertausend im Jahr. Es scheint, als hätte Judith keine Lust gehabt, darauf zu warten, dass du dein Versprechen einlöst, für sie zu sorgen.«

Felix schüttelte den Kopf. »Ich fasse es nicht. Und ohne ihrem einzigen Bruder ein Wort zu sagen. Was ist mit den Kindern?«

»Sie sind momentan noch hier. Nach der Hochzeitsreise wird allerdings nur Alexander bei dem glücklichen Paar wohnen. Offenbar ist George Linton bereit, ein Kind aufzunehmen, aber nicht drei.«

Felix runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht.«

»Ich auch nicht«, antwortete Lord Brightwell. »Aber Judith hat beschlossen, Audrey und Andrew meiner Betreuung zu überlassen. Wenn du etwas dagegen hast und es vorziehst, eine qualifizierte Person anzustellen, die sie bei dir in der Nähe von Oxford in einem Haus unterbringt und sich um sie kümmert, wenn du selbst für sie sorgen und darauf achten willst, dass sie eine ordentliche Erziehung erhalten, kannst du das machen.«

Felix zupfte am Saum seiner Weste und verlagerte sein Gewicht. »Ich habe sie natürlich gern«, sagte er stockend. »Aber ich kann mir nicht leisten … und sie sind ja auch nicht mit mir verwandt. Nicht einmal mit meiner Schwester, nicht wahr? Will Dominicks Mutter sie nicht aufnehmen?«

»Es scheint, als wäre die ältere Mrs Howe so mit der Gicht und finanzieller Knappheit geschlagen – ihre Worte, musst du wissen –, dass sie sich nicht in der Lage dazu sieht, obwohl sie es sehr gern täte. Sie hat nichts dagegen, dass ich sie als meine Mündel aufziehe, vorausgesetzt, ich bringe sie gelegentlich zu einem Besuch zu ihr.«

»Deine Mündel?«

»Ja.«

Felix betrachtete seinen Onkel mit einem Ausdruck von widerwilligem Respekt. »Nimmst du mal wieder die Kinder von jemand anderem auf, ja«, sagte er drollig.

Lord Brightwells Augen funkelten. »Ja«, erwiderte er in schleppendem Tonfall. »Ich scheine mir das zur Angewohnheit zu machen.«

Das Schweigen der Miss Keene
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