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A chain of gold ye shall not lack, Nor braid to bind your hair; Nor mettled hound, nor managed hawk, Nor palfrey fresh and fair.5
Sir Walter Scott, Jock O’Hazeldean
An einem nebligen Morgen im März führte Olivia die Kinder durch den Wald. Sie trug einen Korb über dem Arm und machte auf Schlüsselblumen, Waldanemonen und die letzten Schneeglöckchen mit ihren bescheiden gesenkten Köpfchen aufmerksam. Sie nannte auch viele Vögel beim Namen – die umherhuschenden Goldammern, die Dohlen, die ihre Nester bauten, und die Saatkrähen, die in einer Linie über die knospenden Baumwipfel hinwegzogen.
Als sie sich der Hütte des Wildhüters näherten und die Lichtung betraten, war Croome gerade damit beschäftigt, die Schweine zu tränken.
»Was gibt es denn diesmal?«, fragte er gequält, als wäre es eine Strafe, Delikatessen von der besten Köchin der Gegend zu erhalten.
Olivia hob den Arm mit dem Korb. »Pastete vom Rumpsteak und Kanarienknödel.«
Eine graue Braue schoss in die Höhe.
Sie kicherte über seinen entsetzten Gesichtsausdruck. »Sie werden nicht aus Kanarienvögeln gemacht, Sir.«
Er streckte die Hand nach dem Korb aus, aber Olivia drehte sich zur Seite, als hätte sie es nicht bemerkt. »Wir lernen heute einiges über Tiere, Mr Croome«, erzählte sie. »Und ich dachte, Sie könnten uns vielleicht dabei helfen.«
»Was? Ich soll Ihre Arbeit machen?«
»Wer würde sich sonst so gut eignen? Wer weiß mehr über Tiere als Sie?«
»Ich kenne nur Wild und Kühe und Schweine und Hühner und so etwas. Und natürlich alle möglichen Arten von Land- und Wasservögeln.«
»Und Raubtiere, Mr Croome?«
»Ach, ja. Ein Wildhüter muss seine Feinde kennen, nicht wahr? Die Eule, den Raben, die Wildkatze, das Wiesel. Aber ich bin kein Lehrer. Bin es nie gewesen und werde es nie sein.«
Olivia seufzte. »Na gut. Kinder, ist das Rebhuhn ein Land- oder ein Wassertier?«
»Ein Vogel?«, riet Audrey.
»Eine Taube!«, rief Andrew.
Mr Croome schüttelte den Kopf und ließ sich nicht ködern.
»Und was fressen Wildkatzen?«
»Milch?«, schlug Audrey vor.
»Tauben!«, verkündete Andrew.
Empört warf Croome die knochigen Hände in die Höhe. »Junge, hast du jemals eine Wildkatze gesehen?«
Andrew schüttelte den Kopf.
»Sonst müsstest du wissen, dass so ein gieriges Tier sich nicht mit einem winzigen Vogel abgibt, wenn der Wald voller Hasen ist. Das fressen sie am liebsten, merk’s dir. Sie nehmen zur Not aber auch Fasanen, Rebhühner und alles mögliche Federvieh. Deshalb nehme ich Bob nachts immer mit ins Haus.«
»Wer ist Bob?«, fragte Andrew.
Als der Mann zögerte, erklärte Olivia in liebenswürdigem Ton: »Ich glaube, er ist Mr Croomes zahmes Rebhuhn.«
Croome dankte es ihr mit einem zornigen Blick.
»Sie halten ein Rebhuhn als Haustier?«, fragte Audrey beeindruckt.
»Ja, das stimmt. Wehe, ihr macht euch über mich lustig.«
»Nein, Sir!«, antwortete Andrew. »Dürfen wir ihn sehen?«
Audrey fügte hinzu: »Dürfen wir ihn füttern?«
Croome betrachtete Olivia eindringlich und seine Feindseligkeit wich der Resignation. »Ach, na gut, ihr Racker. Ich hole ihn heraus und zeige ihn euch.«
Olivia holte die beiden aufeinander gestapelten, abgedeckten Teller aus ihrem Korb. Croome wollte sie entgegennehmen, doch sie ließ sie nicht los. »Mrs Moore braucht die Teller zurück. Haben Sie Gefäße, in die wir das Essen umfüllen könnten?«
Seine Brauen zogen sich finster zusammen, doch sie meinte, ein winziges Aufblitzen von Humor in seinen graublauen Augen zu entdecken. »Sie halten mich nicht zum Narren, Mädchen. Sie wollen nur in meinem Haus herumschnüffeln, oder?«
Sie zuckte nur die Achseln. »Diese Teller werden wirklich schwer.«
»Na gut, dann kommen Sie eben mit. Wisch dir die Füße ab, Andrew, das hier ist kein Schweinestall.«
Im Haus ließ Croome die Pastete und die gelben, mit Zitrone aromatisierten Knödel in eigene Gefäße gleiten, während die Kinder begeistert um Bob herumtanzten, der Croome wie ein treuer Hund folgte. Olivia wanderte langsam durch den Raum und bemerkte den Staub, die Spinnweben, ein bescheidenes Bücherregal und zwei bunte Bilder an der Wand, die in edlen Birkenholzrahmen hingen wie in einer Porträtgalerie.
Sie beugte sich vor, um sie besser betrachten zu können. Obwohl auf grobem Papier, waren die Bilder selbst erstaunlich gut. Das Erste zeigte einen Mann von der Hüfte an aufwärts, der den Kopf zur Seite neigte, um auf einen kleinen Vogel in seiner Hand zu blicken. Sein Gesicht zeigte die Andeutung eines Lächelns, als wisse er, dass er beobachtet wurde. Der Künstler hatte einen entrüsteten und zugleich nachsichtigen Gesichtsausdruck eingefangen.
»Na so etwas, das sind Sie!«, rief Olivia aus. Sie hatte Mr Croome mit einem Lächeln kaum erkannt.
Er warf ihr über die Schulter einen finsteren Blick zu. »Hören Sie auf, hier herumzustöbern. Ich hätte ein Bild von mir nicht so offen aufgehängt, aber Alice hat das gemacht. Sie hat es gemalt, gerahmt und dort aufgehängt. Es gefiel ihr, also lasse ich es. Und lassen Sie es jetzt gut sein.«
Olivia ignorierte ihn und betrachtete das zweite Bild. Es zeigte eine Frau – den Kopf und die Schultern – umgeben von bunten Blumen und Cherubinen. Ihr Gesicht war nicht so deutlich wie das von Mr Croome, aber es besaß eine unbestimmte ätherische Schönheit.
»Ist das Ihre Frau?«, erkundigte sich Olivia.
»Ja. Das ist meine Maggie.« Croome ließ die Kinder Bob weiter mit Fliegen füttern, und trat neben Olivia vor die Wand. »Es ist ganz gut gelungen, obwohl Alice es nach ihrem Tod aus dem Gedächtnis gemalt hat.«
»Sie ist wunderschön.«
Er nickte. »Ich erinnere mich daran, dass sie sogar noch schöner war. Aber natürlich kam sie mir so vor.«
»Ihr Verlust tut mir sehr leid«, sagte Olivia. Sie hätte gern nach Alice gefragt, wagte es aber nicht.
»Mir tut es noch viel mehr leid.« Er trat zurück an den Tisch. »In Ordnung. Hier sind Nells Teller. Und jetzt hören Sie auf, sich in meine Angelegenheiten zu mischen.«
Edward schlenderte gemächlich durch den Wald. Sein Ziel war sein Lieblingsplatz am Fluss. Die Luft war frisch und roch nach jungem Gras und dem vergangenen Regen. Das Lied der Rotkehlchen umgab ihn mit einem fröhlichen Chor. In diesen Chor fielen die Stimmen der Kinder ein und Edward hielt inne. Er hörte Lachen und ein seltsames surrendes, klatschendes Geräusch. Was um alles in der Welt war das? War Miss Keene mit den Kindern bei einer ihrer »Naturexpeditionen« im Wald?
Er folgte dem Geräusch, erst zügig, dann verlangsamte er seine Schritte, als er merkte, dass es ihn zur Hütte des Wildhüters führte.
Als er sich der Lichtung näherte, blieb er stehen und blickte durch die Bäume hindurch auf eine unerwartete Szene.
Miss Keene saß auf einem Baumstumpf. Audrey schwang wie ein müdes Pendel auf einer alten Seilschaukel hin und her. Mr Croome half Andrew, einen Bogen an seine kleine Schulter anzulegen, und zeigte ihm, wie er den Pfeil an der Sehne ausrichten musste. Der Junge ließ den Pfeil los. Er beschrieb einen schwachen Bogen und landete ein gutes Stück vor der mit Stroh ausgepolsterten Zielscheibe am Ende der Lichtung.
»Och … das ist zu schwer«, jammerte Andrew. »Warum soll man sich mit Pfeil und Bogen abgeben, wenn Sie Ihre Flinte haben, Mr Croome? Geben Sie mir die in die Finger und ich würde ganz gerade schießen. Ich weiß, dass ich das könnte.«
»Ein Gewehr hat seinen Zweck, junger Mann. Aber das gilt auch für Pfeil und Bogen.«
»Das verstehe ich nicht. Warum schießt man nicht einfach auf die Beute und fertig?«
»Streng deinen Kopf an, Junge. Drück das Gewehr einmal ab und die ganze Gegend hört es. Sämtliche Tiere rennen oder fliegen davon. Aber mit Pfeil und Bogen bist du lautlos, Junge. Du kannst einen Hasen töten oder einen Bock erlegen, bevor sein Nachbar etwas davon mitbekommt.«
»Aha …«
»Jetzt versuch es noch einmal, Master Andrew, und zieh die Sehne dieses Mal mit jedem Muskel zurück, den der liebe Gott dir gegeben hat.«
Andrew nickte und hob den Bogen ein zweites Mal. Croome half ihm, den Pfeil auszurichten, flüsterte ihm eine Anweisung ins Ohr, legte seine Finger dann über die des Jungen und zog mit ihm zusammen die Sehne weiter zurück.
»Du schaffst das«, sagte Miss Keene ermutigend.
»Vergiss nicht zu zielen«, fügte Audrey hinzu.
Mann und Junge ließen den Pfeil gemeinsam los. Er surrte durch die Luft, durchdrang den äußeren Ring der papiernen Zielscheibe und blieb bebend im Strohpolster dahinter stecken.
Audrey und Miss Keene jubelten. Croome schlug Andrew auf seine schmalen Schultern und der Junge wäre fast nach vorn gefallen, aber sein Lächeln wurde nur breiter. Edward war innerlich hin und her gerissen. Er erinnerte sich an die früheren Warnungen seines Vaters vor dem Wildhüter. Edward hatte Miss Keene sogar davon erzählt. Trotzdem hielt sie es für sicher und klug, die Kinder hierherzubringen?
Croome bemerkte ihn als Erster. Er warf einen scharfen Blick über die Schulter – seine alten Ohren funktionierten offenbar immer noch gut. Es entging ihm weder eine näherkommende Beute noch ein sich anschleichender Jäger. Wozu zählte er? Edward trat vor und die Kinder begrüßten ihn stürmisch.
»Ich habe die Zielscheibe getroffen, Cousin Edward. Hast du das gesehen?«, wollte Andrew wissen.
»Ja, das habe ich gesehen. Gut gemacht!«
Audrey machte einen Schmollmund. »Du hast es verpasst, als ich dran war. Ich hab die Zielscheibe auch einmal getroffen. Ich war sogar dichter an der Mitte als Andrew.«
»Es tut mir leid, dass ich das verpasst habe. Vielleicht versuchst du es noch einmal?«
»Vielleicht will erst einmal Lord Bradley drankommen und uns zeigen, wie es geht?«, schlug Miss Keene mit einem Glitzern in ihren blauen Augen vor.
Er starrte sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Ihr Angebot ist zu gütig, aber ich möchte die Erziehung der Kinder nicht unterbrechen oder was immer das hier ist.«
»Es ist Sport. Gut für Körper und Geist.«
»Komm schon, Cousin Edward. Versuch’s doch einmal«, bedrängte ihn Andrew. »Ungeschickter als Miss Keene kannst du dich nicht anstellen. Sie hat Mr Croomes Haus getroffen!«
Miss Keenes Wangen liefen rosa an. Mr Croome wandte den Blick ab und kratzte sich am Hals.
»Tatsächlich?«, sagte Edward und konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen.
»Wollen wir jetzt schießen oder den ganzen Tag vertrödeln?«, fragte Croome. »Ich muss noch Angelschnüre auslegen und mich um die Eier der Hühner kümmern.«
Edward schluckte. »Na gut, ich werde einen Versuch machen.«
Croome reichte ihm einen anderen, größeren Bogen und dann einen Pfeil. Er studierte Edwards Gesicht mit zusammengekniffenen Augen und es war beunruhigend, dass ihm dabei nichts zu entgehen schien. »Sie haben das noch nie gemacht, oder?«
War das so offensichtlich? »Nein, Sir.«
Croome nickte und sagte mit leiser Stimme: »Legen Sie den Pfeil dort an und halten Sie ihn gerade, beide Augen geöffnet; ziehen Sie die Sehne bis zu Ihrer rechten Schulter zurück, zielen Sie und lassen Sie dann los.«
Edward folgte seinen Anweisungen und die Sehne streifte seine Wange, als er sie los ließ. Der Pfeil traf mit Wucht auf die Zielscheibe, nicht weit von Andrews Pfeil entfernt.
»Nicht schlecht für einen ersten Schuss«, sagte Croome. Er beäugte Edwards brennende Wange. »Sie werden es überleben.«
»Mr Croome«, bat Olivia, »vielleicht könnten Sie uns zeigen, wie es geht, denn ich fürchte, bis jetzt beherrscht es keiner von uns so richtig.«
»Man braucht nur Übung.«
»Wir würden gern sehen, wie Sie schießen, Mr Croome«, sagte Audrey. »Sind Sie sehr gut?«
»Nicht schlecht, aber ich möchte mich hier auch nicht zum Narren machen.«
»Uns macht das nichts aus. Wir wollen Sie sehen«, antwortete Andrew. »Bitte!«
Croome schaute zu Edward hinüber, als warte er auf seine Zustimmung, was ihn erstaunte. »Bitte sehr, Mr Croome«, sagte er.
»Oh ja, tun Sie es!«
»Na gut, ihr kleinen Rangen, und sei es auch nur deshalb, damit ihr aufhört herumzuschreien und mich in Ruhe lasst.«
Croome ging in Stellung und brachte den Pfeil mit einer geschmeidigen Bewegung in Position. Er straffte die Sehne mit einer durch viel Übung gewonnenen Leichtigkeit und zielte. Ein Schwirren, ein Plopp – der Pfeil saß mitten im Schwarzen.
Edward kam zu dem Schluss, dass er diesen Mann nicht zum Feind haben wollte.
Er war überrascht, als ein Vogel über die Lichtung zu ihnen stolzierte, den grauen Hals hoch aufgerichtet und den breiten Bauch von dünnen Beinen gestützt, wie ein hochnäsiger, gut genährter Lakai. Edward, der sich nicht allzu gut mit Geflügel auskannte, hielt das Tier für ein Rebhuhn.
Andrew, der wieder die Zielscheibe ins Visier nahm, schwang den Bogen plötzlich zur Seite, zielte auf das Rebhuhn und gab zwischen zusammengepressten Lippen ein vorgetäuschtes Surren von sich.
Croome packte ihn blitzschnell mit stahlhartem Griff am Arm. »Nein, Master Andrew. Nicht einmal im Spaß!«
Edward ging innerlich unwillkürlich in Verteidigungshaltung zugunsten seines Cousins. Ihm gefiel nicht, wie grob der Mann mit dem Jungen umging. Und das wegen eines wilden Huhns!
Andrew schaute verlegen drein. »Es tut mir leid, Mr Croome. Ich habe nur Spaß gemacht. Ich würde nie auf Bob schießen, niemals!«
Bob? Der Mann hatte ein zahmes Rebhuhn mit Namen Bob?
Vielleicht war er doch nicht so furchterregend, wie Edward bisher gemeint hatte.