7
Mrs Goddard war die Leiterin (…) eines echten, ehrlichen, altmodischen Internats, wo eine vernünftige Menge von Kenntnissen und Fähigkeiten zu einem vernünftigen Preis vermittelt wurde.
Jane Austen, Emma
Am folgenden Morgen schickte Miss Peale Olivia in die Küche hinunter, um das Frühstück zu holen. Olivia hoffte, sie würde sich nicht verlaufen. Sie hüpfte leichtfüßig die zahlreichen Treppenstufen hinunter, bis sie das Untergeschoss erreicht hatte. Dort passierte sie zwei geschlossene Türen, die offene Tür einer Vorratskammer und eine weiß getäfelte Speisekammer mit Regalen voller Porzellan und Einmachgläsern. Das Scheppern von Pfannen und der Geruch von herzhafter Wurst und warmem Brot wiesen ihr den Weg in die Küche, deren kleine hohe Fenster stolz verrieten, dass sie nicht vollständig im Keller lag. Ein gewaltiger Herd, ausgerüstet mit Bratenspießen und Kesselhaken, nahm den größten Teil einer Wand ein, während sich an den anderen Wänden bis zur Decke reichende Schränke und Regale befanden, gefüllt mit Töpfen, Formen und anderen Küchenutensilien. Ein langer Arbeitstisch füllte die Mitte des Raums aus. An seinem oberen Ende gab eine breite, gut gepolsterte Frau, die um die Fünfzig sein mochte, mit fester, aber freundlicher Stimme zwei dünnen jungen Küchenhilfen Anweisungen.
Mrs Hinkley kam durch eine zweite Tür hereingerauscht, einen strengen Ausdruck auf dem Gesicht und mit unübersehbarer Autorität in ihrem Auftreten. Ein hochgewachsener Diener folgte ihr.
»In den oberen Räumen wird mehr Kaffee benötigt, Mrs Moore. Und warum, wenn ich fragen darf, ist der Frühstückstisch im Aufenthaltsraum der Dienerschaft noch nicht gedeckt?«
»Keine Sorge, Mrs Hinkley«, beruhigte sie die rundliche Frau. »Wir sind nur eine Minute im Rückstand. Hier bitte, Osborn.« Sie händigte dem Diener eine silberne Kaffeekanne aus. »Tragen Sie das nach oben. Und, Edith, bring dieses Tablett in den Aufenthaltsraum der Dienerschaft, bevor Mr Hodges einen Anfall bekommt.«
Als Mrs Hinkley Olivia wartend an der Türschwelle sah, verfinsterte sich ihre düstere Miene noch mehr.
»Mrs Moore«, sagte sie. »Dies ist Olivia Keene, das neue zweite Kindermädchen.«
Mrs Moore hielt in ihren hektischen Vorbereitungen inne und lächelte Olivia freundlich zu. »Was für ein hübsches Ding Sie sind. Willkommen, meine Liebe. Das Tablett fürs Kinderzimmer steht hier schon für Sie bereit. Bitte lassen Sie mich wissen, wenn Sie gern etwas anderes hätten als Brot und Milch. Die Kinder wollen nichts anderes, aber wenn Sie gern Haferbrei oder Eier hätten, müssen Sie es mir nur sagen.«
Olivia schloss Mrs Moore sofort ins Herz, aber Mrs Hinkley versetzte ihr einen Dämpfer.
»Wir sind hier kein Hotel, Mrs Moore«, erklärte die Haushälterin. »Sie soll essen, was Sie vorbereitet haben und dankbar dafür sein. Kommen Sie, Mädchen, stellen wir Sie den anderen vor, damit das erledigt ist.«
Sie hob ihre Hand und wartete mit nicht allzu großer Geduld darauf, dass Olivia zu ihr trat.
Als sie den langen schmalen Aufenthaltsraum der Dienerschaft vor Mrs Hinkley betrat, waren ihre Nerven aufs Äußerste angespannt und ihre Ohren liefen rot an. Es verunsicherte sie, dass sich ihr so viele Augenpaare zuwandten, um sie zu mustern.
Mrs Hinkley stellte sich an ihren Platz am oberen Ende des Tisches. »Dürfte ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten – dies ist Olivia Keene, das neue zweite Kindermädchen.«
»Miss Peale hat gesagt, wir sollen sie Livie nennen«, warf Doris ein.
Mrs Hinkley runzelte die Stirn über diese Unterbrechung und fuhr fort: »Sie ist zur Probe hier – neu in Stellung seit gestern. Aufgrund einer Verletzung, die ihr zugefügt wurde, bevor sie zu uns kam, ist sie momentan nicht in der Lage zu sprechen.«
Doris beugte sich zu einem anderen Dienstmädchen hinüber und flüsterte laut: »Hab ich’s dir nicht gesagt?«
Ein junger Mann mit rotbraunem Haar grinste über den Tisch. »Manche von uns wünschten, du würdest ebenfalls unter einer solchen Einschränkung leiden, Dory.«
Mrs Hinkley brachte die beiden mit einem eisigen Blick zum Schweigen. »Sie werden nicht mit ihr sprechen, es sei denn, Ihre Pflichten würden es erfordern. Sollte sie eine Frage haben, wird sie damit zu mir kommen.«
»Wie wird sie fragen, wenn sie nicht sprechen kann?«, wollte der schwerfällige Butler am unteren Ende des Tisches wissen.
»Sie kann lesen und schreiben, Mr Hodges, so wurde es mir zumindest mitgeteilt.« Die Zweifel der Haushälterin klangen deutlich heraus und Olivia spürte, wie ihre Ohren wieder zu brennen begannen.
Mit einer kurzen Bewegung aus dem Handgelenk deutete Mrs Hinkley nacheinander auf jeden der Anwesenden und ratterte eine kurze Bestandsaufnahme der versammelten Dienerschaft herunter. Zu Mrs Hinkleys Linken saß eine hübsche Zofe, Miss Dubois. Mrs Moore, die rundliche Köchin, stellte eine Servierplatte mit Würstchen auf den Tisch und nahm dann ihren Platz rechts von Mrs Hinkley ein. Neben ihr saßen Doris und Martha, die beiden Hausmädchen, und die Küchenhilfen Edith und Sukey. Am anderen Ende des Tisches nickte Mr Hodges ihr knapp zu. Die männlichen Dienstboten saßen um ihn herum gruppiert beieinander – der Kutscher und der Laufbursche, dessen Namen sie nicht richtig hörte; Osborn, der hochnäsige livrierte Lakai, der gerade von den Räumen der Herrschaft kam, und der Stallknecht mit den kastanienbraunen Haaren, der sie schüchtern anlächelte.
Olivia zweifelte, dass sie alle Namen behalten würde, aber Miss Peale hatte sie bereits informiert, dass keine Notwendigkeit bestehe, sich mit dem Personal anzufreunden. Außer an Feiertagen oder wenn die Kinder mit der Familie speisten, würde Olivia ihre Mahlzeiten im Kinderzimmer einnehmen, nur in Gesellschaft von Miss Peale, dem Dienstmädchen Becky und den Kindern.
Olivia versuchte, in die allgemeine Runde zu lächeln, aber ihr Gesicht fühlte sich wie erstarrt an und sie war sich fast sicher, dass sie nur ein leichtes Zittern der Lippen zustande brachte. Mrs Hinkley setzte sich und alle neigten die Köpfe, während Mr Hodges ein Gebet sprach. Olivia wurde nicht weiter beachtet.
»Gestern Abend bin ich dem neuen zweiten Kindermädchen begegnet«, verkündete Edwards Cousine Judith, als sie die Bibliothek betrat. »Hast du sie schon gesehen?«
Edward war sofort auf der Hut. »Ja.« Er schob die Notiz, die sein Leben verändert hatte, unter die Zigarrenschachtel auf dem Schreibtisch seines Vaters.
»Höchst ungewöhnlich, findest du nicht? Dass Mrs Hinkley so ein Mädchen anstellen sollte, meine ich.« Judith nagte an ihrer vollen Unterlippe. »Irgendetwas stimmt da nicht.«
Seine Muskeln spannten sich an und sein Pulsschlag ging in die Höhe. Er fragte sich, was Judith gehört hatte oder vermutete, fragte aber nur: »Was willst du damit andeuten?«
»Nur, dass mehr dahinterstecken muss.« Diese Vorstellung schien ihr Vergnügen zu bereiten.
»Ich verstehe nicht.« Er runzelte die Stirn. »Meinst du, weil sie nicht sprechen kann?«
»Natürlich. Was dachtest du, was ich meine?«
Er ging nicht darauf ein. »Hast du Bedenken, die Kinder in ihre Obhut zu geben?«
»Ganz und gar nicht.« Gedankenverloren starrte sie an einen Punkt über seinem Kopf. »Aber es ist interessant, oder nicht? Sie war noch nie in Stellung. Sie spricht kein Wort.« Sie richtete ihren Blick auf ihn. »Wer hat ihr Leumundszeugnis geschrieben, weißt du das?«
»Nein, das weiß ich nicht.« Er zögerte. »Ich wundere mich über dich, Judith. Du hast dich noch nie zuvor für die Dienstboten interessiert.«
»Und du hast noch nie eine Stumme in Dienst genommen, oder?« Ihre runden blauen Augen leuchteten plötzlich auf. »Vielleicht ist sie überhaupt nicht stumm, sondern macht uns etwas vor.«
Dies weckte sein Interesse, obwohl er versuchte, es nicht zu zeigen.
»Was wäre, wenn sie nur vortäuschen würde, stumm oder taub zu sein oder wie auch immer das heißt, damit sie ihr Geheimnis nicht verraten muss? Sie könnte die Tochter eines mächtigen Lords sein, der sich vorgenommen hat, sie in eine arrangierte Ehe zu zwingen.«
»Solche Ehen sind nicht mehr erlaubt, Judith. Wie du sehr gut weißt.«
»Und wenn schon! Väter können immer noch sehr viel Druck ausüben – das weiß ich auf jeden Fall.«
»Na gut. Aber warum haben wir sie dann nie in London gesehen, wenn sie adelig ist?«
Judith schürzte die Lippen. »Vielleicht war sie im Turm eingesperrt? Oder … jetzt weiß ich es! Sie spricht kein Englisch!«
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Ich habe gesehen, dass sie einwandfreies Englisch schreibt und sie versteht jedes Wort, das man zu ihr sagt.«
Judith ließ einen Finger über den Tischglobus gleiten, der auf dem Schreibtisch von Edwards Vaters stand. »Dann spricht sie vielleicht mit einem Akzent und fürchtet, sie würde sich selbst verraten, wenn sie spräche. Sie ist eine« – Judith machte eine dramatische Geste mit ihrer schlanken Hand – »preußische Prinzessin, die vor einem grausamen Ehemann geflohen ist.«
Sein Interesse erlosch. »Was für ein Unsinn, Judith. Du liest zu viele Romane, das hab ich dir schon immer gesagt.«
Sie seufzte. »Na, gut. Du hast sicher recht.« Sie begutachtete die Süßigkeiten in einem Teller auf dem Schreibtisch und wechselte das Thema. »Sind deine Eltern ohne Zwischenfälle aufgebrochen?«
»Ja, genau nach Plan.«
»Es tut mir leid, dass ich ihre Gesellschaft verpasst habe. Ich hatte die Absicht, rechtzeitig zurück zu sein, wurde aber bei Mama aufgehalten.« Judith nahm sich ein Bonbon. »Ach, Italien … Dominick und ich haben unsere Hochzeitsreise dorthin gemacht, weißt du?«
»Tatsächlich? Ja, ich glaube, ich erinnere mich daran.«
»Du warst zu der Zeit in Oxford. Hast uns gleich nach dem Hochzeitsfrühstück verlassen.«
Edward rief sich ins Gedächtnis, dass Dominick Howe nur zwei Jahre später gestorben war, an den Verletzungen, die er sich beim spanischen Unabhängigkeitskrieg zugezogen hatte.
Judith seufzte erneut. »Wie gern würde ich Italien wieder besuchen! Ich beneide deine Eltern wirklich.«
»Tu das nicht. Die Reise dient mehr der Genesung als dem Vergnügen. Obwohl Vater hofft, dass sie auch einige Sehenswürdigkeiten anschauen können, sollte das Klima den Gesundheitszustand meiner Mutter verbessern.«
»Ist dies ihre erste Italienreise?«
»Ja.«
»Haben sie keine Hochzeitsreise gemacht?«
Er atmete tief durch und schürzte die Lippen. »Ich weiß es nicht. Das war ein Weilchen vor meiner Zeit.«
Sie hob eine perfekt geformte blonde Braue. »Hast du nie danach gefragt?«
»Nein.«
Sie musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Du besitzt auf jeden Fall keine große Neugier, Cousin.«
»Du dagegen, liebe Cousine, hast genug für uns beide.« Er erhob sich und die beiden verließen gemeinsam die Bibliothek.
»Wärst du so nett und würdest mir Alexander herunterbringen?«, fragte sie, während sie vor dem Empfangszimmer stehen blieb. »Die vielen Treppen möchte ich momentan nicht in Angriff nehmen.«
»Natürlich. Ich wollte ohnehin nachschauen, wie es den Kindern geht. Soll ich alle drei bringen? Vielleicht könnte ich den beiden älteren eine Reitstunde geben, wenn du nichts dagegen hast.«
»Wie du möchtest.«
Er verbeugte sich und trat in die Eingangshalle.
Sie rief ihm nach: »Und beobachte unbedingt das neue Kindermädchen, während du dort bist.«
Er drehte sich mit hochgezogenen Brauen um. »Und nach was soll ich Ausschau halten? Nach einer königlichen Brosche, die sie versehentlich nicht versteckt hat? Oder nach einem Abdruck an ihrem Ringfinger?«
Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Verspotte mich, wenn du willst, Edward. Aber eines Tages werde ich ihr Geheimnis lüften.«
Olivia war gerade damit fertig, Audreys Haar zu flechten und ein Band daran zu befestigen, als sich die Tür zum Kinderzimmer quietschend öffnete. Die junge Becky war draußen, um das Badewasser der Kinder auszugießen, und Miss Peale war noch damit beschäftigt, den kleinen Alexander anzuziehen.
»Cousin Edward!« Andrew warf seinen Ball beiseite und rannte durchs Zimmer. Lord Bradley ließ sich auf ein Knie fallen, als der Junge in seine Arme stürmte.
Er schmunzelte. »Guten Morgen, Andrew. Ich nehme an, du hast gut geschlafen.«
»Ich habe geträumt, ich wäre ein Drachen.«
Lord Bradley lachte gutmütig. »Du fliegst auf jeden Fall schon wie einer.«
Audrey ging auf ihn zu, als er sich erhob, blieb aber ein paar Meter entfernt stehen. Ihr Blick war schüchtern und bewundernd zugleich. Sie zog an ihrem Zopf und biss sich auf die spröde Lippe.
Lord Bradley lächelte ihr zu und schenkte ihr die Aufmerksamkeit, nach der sie sich offensichtlich sehnte. »Guten Morgen, Miss Audrey. Wie siehst du heute hübsch aus! Mir gefällt deine Frisur.«
»Unser neues Kindermädchen hat das gemacht.«
Er zögerte. »Tatsächlich, hat sie das?«
Sein Blick schweifte durchs Zimmer und traf Olivias, die an der Tür zum Schlafzimmer stand. Sie machte einen Knicks. Seine Augen verweilten noch einen Moment auf ihr, bevor er sich wieder Audrey zuwandte.
»Nun gut, ich bin nur gekommen, um zu sehen, wie es euch allen geht.« Er legte jedem Kind eine Hand auf den Kopf.
»Wir sind so fröhlich, jetzt, wo Miss Dowdle weg ist«, antwortete Andrew. »Kein Schulzimmer und keinen Unterricht mehr!«
Olivia biss sich auf die Lippe.
»Aber Miss Livie hat dafür gesorgt, dass wir unsere Gebete vor dem Frühstück lesen«, erzählte Audrey. »Und eine von Äsops Fabeln.«
»Aha, welche denn?«
»Der Wolf im Schafspelz.«
Eine blonde Braue hob sich. »Was für eine interessante Wahl. Erinnerst du dich an die Moral?«
»Betrüger und Lügner werden am Ende immer entlarvt«, antwortete Audrey. »Und sie büßen ihre Taten entsprechend.«
»Ich hoffe, dass jeder von euch sich das merken wird.« Wieder huschte sein Blick zu Olivia, und sie spürte, wie sie verlegen errötete.
Andrew grinste. »Livie hat Audrey noch einmal von vorn anfangen lassen, als sie versucht hat, eine ganze Zeile auszulassen. Audrey dachte, sie würde es nicht merken, aber sie hat es doch gemerkt!«
Audrey senkte den Kopf.
»Na schön, gewöhnt euch nur nicht zu sehr an ein Leben ohne Unterricht«, erklärte Lord Bradley, »Eure Mama wird sicher bald eine andere Gouvernante anstellen.«
Andrew stöhnte auf.
»Nun gut.« Lord Bradley klatschte in die Hände. »Wer möchte heute reiten?«
Beide Kinder meldeten sich begeistert.
»Fein.« Er schaute hoch und sein Lächeln verschwand, als seine Augen einen Punkt oberhalb von Olivias Kopf fixierten. »Bitte ziehen Sie ihnen ihre Reitkleider an und bringen Sie sie um zehn zu den Ställen.«
Olivia nickte, aber innerlich seufzte sie auf. Als Lord Bradley den kleinen Alexander zu seiner Mutter hinunterbrachte, begann sie mit der Aufgabe, all die Schleifen und Schließen zu öffnen, die sie eben erst gebunden und zugemacht hatte.
Zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit führte Olivia ihre Schützlinge die Treppen hinunter und zur hinteren Gartentür hinaus. Um genau zu sein, waren es eher die Schützlinge, die Olivia führten. Audrey nahm Olivia an der Hand und wies ihr die Richtung, als wäre sie blind und nicht stumm. In der Zwischenzeit hopste Andrew mit seinen kleinen energiegeladenen Beinen über den feuchten Rasen. Er drehte sich um und lief rückwärts, um zu sehen, wie sie vorankamen. Sie hätte ihn gern ermahnt, vorsichtig zu sein, aber das konnte sie natürlich nicht.
Andrew stolperte über eine Baumwurzel und wäre zu Boden gestürzt, hätte nicht der Mann mit den kastanienbraunen Haaren, den Olivia am Frühstückstisch gesehen hatte, einen Sprung vorwärts gemacht und ihn aufgefangen. Olivia drückte sich erleichtert die Hand auf die Brust und warf dem Stallknecht ein Lächeln zu.
Er antwortete mit einem breiten Grinsen. Er sah nett aus – nicht zu groß, aber breitschultrig, mit heller sommersprossiger Haut und braunen Augen. Sie hatte ihn bereits bei der Jagd gesehen, wie sie sich jetzt erinnerte.
»Ich bin Johnny Ross«, stellte er sich vor. »Und Sie sind das Mädchen, das nicht sprechen kann. Miss Livie, stimmt’s?«
Sie nickte.
»Hören können Sie aber?«
Sie nickte wieder und versuchte, nicht zu grinsen. Natürlich konnte sie hören. Glaubte er, sie könne Gedanken lesen?
»Bestimmt gibt es viele Männer, die gern ein Mädchen hätten, das nicht reden kann.« Er fügte hastig hinzu: »Ich nicht, ich meine, es macht mir nichts aus, wenn ein Mädchen nicht sprechen kann. Aber es macht mir auch nichts aus, wenn sie es kann.« Vor Verlegenheit lief sein Gesicht so rot an, dass man die Sommersprossen fast nicht mehr sehen konnte.
Sie biss sich auf die Lippe, konnte sich aber diesmal ein Lächeln nicht verkneifen. Sie senkte den Kopf und ging an ihm vorbei, um Audrey und Andrew einzuholen. Sie waren weitergelaufen, um Lord Bradley zu begrüßen, der vor dem Stall stand und auf sie wartete. Es wäre ganz und gar nicht gut, wenn er sie im Gespräch oder besser gesagt, nicht im Gespräch mit dem Stallknecht ertappen würde.
»Ich hoffe, ich sehe Sie später noch einmal, Miss«, rief Ross hinter ihr her.
Als sie näher kam, warf Lord Bradley einen Blick auf seine Taschenuhr. »Genau auf die Minute. Hervorragend. Ich werde sie ins Kinderzimmer zurückbringen, wenn wir fertig sind.«
Olivia wäre gern dageblieben und hätte den Kindern beim Reiten zugesehen, aber die Verabschiedung war unmissverständlich gewesen.
Nachdem sie nun etwas Zeit hatte, ging Olivia in die Küche, in der Hoffnung auf ein Lächeln von Mrs Moore und einen Mandelkeks. Sie traf die Köchin über ihren Arbeitstisch gebeugt an.
»Oh oh«, murmelte die Frau, ganz offensichtlich bekümmert. Sie starrte mit zusammengekniffenen Augen auf das Rezept in ihrer molligen Hand und Olivia fragte sich, ob sie wohl eine Brille brauchte.
Mrs Moore blickte auf und begegnete Olivias verwundertem Blick. »Hallo, meine Liebe. Kümmern Sie sich nicht um mich.« Sie nickte zur Keksdose hin. »Bedienen Sie sich.«
Olivia legte ihren Umhang ab, suchte sich einen Keks aus und nahm auf einem Hocker Platz.
Mrs Moore wedelte das Rezept durch die Luft. »Wissen Sie, Lady Brightwell hat manchmal für Gesellschaften und solche Dinge den französischen Koch von den Lintons ›ausgeliehen‹«, erklärte sie und es war nicht zu übersehen, dass dieses Vorgehen sie kränkte. »All die besten Häuser ziehen einen Koch vor – und meistens noch einen Franzosen«, schnaubte sie. »Jetzt will Miss Judith, dass ich sein coq au vin noch einmal zubereite, aber so sehr ich mich auch abmühe, ich kann sein französisches Geschreibsel nicht lesen.«
Olivia legte den Keks auf den Tisch und streckte ihre Hand aus.
Die ältere Frau zögerte, dann händigte sie ihr das fettverschmierte Blatt Papier aus. Olivia überflog die Zeilen, nickte und machte ein Zeichen, dass sie eine Feder brauchte. Schnell holte die Köchin Feder und Tinte aus ihrem kleinen Sekretär und übergab Olivia beides.
Olivia nahm sich einen Moment Zeit, um die Notizen genau anzuschauen, dann tauchte sie die Feder ein und fing an, die Zutaten und die Zubereitung ins Englische zu übersetzen.
»Sie haben eine wunderschöne Schrift, Livie«, sagte Mrs Moore über Olivias Schulter.
Olivia lächelte zu ihr auf und beugte sich wieder über das Papier. In wenigen Minuten hatte sie die Übersetzung vollendet und reichte sie Mrs Moore mit einer schelmischen kleinen Verbeugung.
Mrs Moore schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Vielen Dank, meine Liebe. Diesen Keks haben Sie sich auf jeden Fall verdient!«
Nach ihrem Besuch in der Küche stieg Olivia die Treppen zum Schulzimmer hoch, das sie gern einmal bei Tageslicht sehen wollte.
Beim Eintreten atmete sie den Kreidestaub tief ein und schwelgte in Erinnerungen.
Ihre Mutter hatte ein eigenes Schulzimmer auf dem Dachboden ihres kleinen Hauses eingerichtet und war ihre einzige Lehrerin gewesen, bis Olivia begonnen hatte, Miss Cresswells Mädchenschule zu besuchen. Was für einen Streit ihre Eltern deshalb ausgefochten hatten! Am Ende hatte ihre Mutter an den Stolz des Vaters appelliert. Sollten seine Nachbarn glauben, er könne sich den Unterricht seines eigenen Kindes nicht leisten? Wollte er sich das Vergnügen rauben, dass seine Tochter als Klassenbeste gerühmt wurde? Sie hatte sogar versprochen, den Unterricht selbst zu bezahlen, von ihrem eigenen Lohn für die Näharbeiten, die sie jede Woche übernahm, und einem gelegentlichen Schüler.
Sie hatte gewonnen.
Wie sehr hatte Olivia diese Stunden bei Miss Cresswell geliebt, wo Erwachsene bestimmt, aber freundlich sprachen, auch bei Ermahnungen. Wo die Schülerinnen voll Erstaunen lächelten, wenn Miss Cresswell ihnen aus ihren liebsten Gedichten, Romanen oder Geschichtsbüchern vorlas und dabei mit ihrer vollen, musikalischen Stimme jede Figur zum Leben erweckte. Ja, es gab auch schwierige Stunden, wenn man darum kämpfte, französische oder italienische Texte zu übersetzen, oder lateinische Verben deklinieren musste. Die Mädchen führten Stücke zusammen auf, unternahmen Wanderungen in der Natur und fragten sich gegenseitig in Rechtschreibung und Vokabeln ab. Sie strahlten, wenn sie von Miss Cresswell gelobt wurden, und strengten sich noch mehr an, wenn sie sie ermahnte.
Olivia sehnte sich danach, eine solche Lehrerin zu sein. Sie wollte Kinder für das Lernen begeistern, sie in die Welt der Literatur einführen, die Schönheit der Musik und die Musik der Mathematik weitergeben, die Wunder der Schöpfung in Geografie und den Wissenschaften vermitteln und so vieles mehr.
Als Miss Cresswells Assistentin war sie auf dem Weg dorthin gewesen, aber jetzt schienen ihr solche Träume unerreichbarer denn je.
Seufzend schloss die die Tür und kehrte zu ihren Pflichten als neues zweites Kindermädchen in Brightwell Court zurück.