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Ein Wilderer endet als gebrechlicher alter Mann, wenn er glücklich genug ist,
der Deportation oder dem Galgen zu entgehen …

The Gamekeeper’s Directory

 

Als der Sack von ihrem Kopf gezogen wurde, stellte Olivia fest, dass sie sich in einer kleinen Stube befand und einen glatzköpfigen Mann und eine rundliche Frau mit Schürze vor sich hatte. Der Mann stellte sich vor. »Ich bin John Hackam, der Dorfwachtmeister. Immer noch.«

»Immer noch«, wiederholte die Frau. »Keiner ist bereit, ihn abzulösen.«

Der Wachtmeister deutete mit einem Nicken auf die Frau. »Meine gute Ehefrau.«

»Bei was hat der Bedienstete des Earls Sie erwischt?«, erkundigte sich Mrs Hackam. »Beim Stehlen?«

Ein Earl? »Nein«, protestierte Olivia. »Ich habe nichts ge-«

»Keine Zeit, mir Ihre Jammergeschichte jetzt anzuhören, Mädchen. Ich hab ein Gasthaus zu führen, und wir sind heute Abend proppenvoll.«

»Proppenvoll.« Seine Frau nickte zustimmend.

Mr Hackam fasste Olivias Ellbogen. »Heute Abend kommen Sie erst einmal in die Arrestzelle, und wir kümmern uns morgen um die Sache.«

Der Wachtmeister führte sie aus dem Nebenzimmer der Gaststätte, durch eine Seitentür hinaus und zu einem fensterlosen achteckigen Gebäude in etwa 20 Meter Entfernung.

»Gericht wird hier in meinem bescheidenen Gasthof regelmäßig gehalten, aber die Friedensrichter sind heute alle in Brightwell Court und ich kann mir Ihren Fall momentan nicht anhören.«

Er schloss die schwere Tür auf und schob sie energisch, aber nicht grob ins Innere. Die Tür fiel hinter Olivia zu und ließ sie in völliger Dunkelheit zurück. Sie hörte, wie der Schlüssel knirschend herumgedreht wurde und die Schritte sich entfernten. Müdigkeit und Angst überfielen sie, und sie hätte nicht sagen können, was davon überwog.

War das Gottes Strafe für ihre Tat? Sie machte sich erneut große Vorwürfe, nicht direkt zum Pfarrhaus gegangen zu sein.

Olivia zwinkerte und versuchte, ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Es war doch nicht völlig dunkel – ein kleiner roter Punkt glühte ein paar Meter von ihr entfernt. Das Auge einer Ratte? Nein, eine brennende Zigarre. Plötzlich flackerte eine Flamme auf und erwachte zum Leben. Sie beleuchtete einen großen Mann, der einen Kerzenstummel in der einen und eine Zigarre in der anderen Hand hielt.

Ihr sank das Herz, und ihr Magen zog sich zusammen. Borcher!

Der riesige Mann hob die Kerze hoch und spähte zu ihr hin. Sie betete, dass er sie nicht von ihrer Begegnung in Chedworth Wood erkennen würde.

»Schau mal einer an, was haben wir denn da?« Er trat näher und hielt ihr die Kerze nahe ans Gesicht. Im tanzenden Licht verzogen sich seine fetten Lippen zu einem raubtierhaften Grinsen. »Die wilde Göre aus dem Wald.«

»Nein, ich –«

Er warf die Kerze beiseite und rammte Olivia hart gegen die Tür. Schmerz schoss ihr durch den Rücken. Sie drehte sich zur Tür und hämmerte mit den Fäusten dagegen. »Hilfe! Zu Hilfe, bitte!« Ihre Schreie brachen jäh ab, als Borcher ihr eine Hand auf den Mund schlug und sie mit der anderen am Arm packte und ruckartig zurückriss. Er kicherte ihr teuflisch ins Ohr und sein stinkender Atem würgte sie.

»Ich hab dir gesagt, ich würde dich kriegen, Mädchen, und jetzt hab ich dich.«

Sie wehrte sich und versuchte zu schreien, aber hinter seiner dicken Hand drang nur ein gedämpftes Murmeln hervor. In ihrem Kopf drehte sich alles. Nein, nein, nein! Sie öffnete den Mund und versuchte, ihm in die Hand zu beißen.

»Nicht noch einmal, Schätzchen.« Er zog seine Hand weg, jedoch nur, um ihren Hals mit beiden Händen zu umklammern. Er drückte zu, bis Olivia dachte, seine Daumen würden ihre Luftröhre zerdrücken. In ihrer Kehle platzte etwas.

Olivia würgte und kämpfte gegen den Schmerz und das Ersticken. Sie wurde von Panik ergriffen, als sie sich abquälte, um wenigstens eine winzige Menge Luft einzusaugen. Hatte ihre Mutter die gleiche Erfahrung gemacht? Wenigstens war es Olivia gelungen, sie zu retten. Oh Gott, betete sie lautlos. Bitte vergib mir. Ich wollte ihn nur aufhalten … Sie hoffte, er würde es kein zweites Mal versuchen. Bitte halte deine Hand über ihr, flehte Olivia lautlos, als ihr Bewusstsein sich trübte und die Tore des Denkens sich fest verschlossen.

Es wurde schwarz um sie.

Vage nahm sie ein Geräusch wahr. Ein Schlüssel im Schloss? Die Tür wurde donnernd aufgeschlagen, wobei Olivia nichts von dem Laternenlicht sehen konnte, das zweifellos hereinflutete. Borcher knurrte und stieß sie unsanft weg, während er sie losließ. Sie wäre zu Boden gefallen, doch starke Arme fingen sie auf. Sie versuchte zu atmen, doch ihre Kehle fühlte sich wie zugeschnürt, wie zerquetscht an. Sie keuchte schmerzerfüllt auf und nahm den Schweißgeruch eines Mannes und Rauch aus einer Pfeife wahr. Röchelnd schnappte sie nach Luft und merkte, dass ihr Sehvermögen zurückkehrte. Der Wachtmeister stellte sie aufrecht hin und blickte mit finsterem Gesicht erst zu ihr, dann zu Borcher.

»Du da.« Er starrte Olivias Angreifer wütend an. »Du bekommst vierzehn Tage extra. Und Sie kommen mit mir. Jemand will Sie sehen.«

Vierzehn Tage?, dachte Olivia fassungslos. Mehr ist mein Leben nicht wert?

Erleichtert, die Arrestzelle verlassen zu können, stellte sie keine Fragen. Mit zitternder Hand fasste sie vorsichtig nach ihrem Hals, um ihre brennende Kehle zu untersuchen. Es kam ihr wie ein Wunder vor, dass ihr Genick nicht gebrochen war. Nach diesem heftigen Angriff zitterten ihre Beine vor Schock. Als sie stolperte, nahm der Wachtmeister ihren Arm und zog sie weiter. Ohne diese Stütze hätte sie sich nicht aufrecht halten können.

»Lord Bradley will Sie befragen.« Der Wachtmeister seufzte leidgeprüft. »Zweifellos möchte er dafür sorgen, dass der Eindringling angemessen bestraft wird.« Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Sieht schrecklich grimmig aus, der Herr, oh ja!«

Er führte sie zurück in den Schwanen, stieß die Tür zum selben Zimmer wie vorhin auf und schob sie mit Schwung hinein.

Olivia schrak beim Anblick des großen schlanken Mannes in vollständiger Abendgarderobe zurück. Seine blauen Augen musterten sie eindringlich und misstrauisch, es schien jedoch kein Wiedererkennen in seinem Blick zu liegen. Sie jedoch wusste sofort, wen sie vor sich hatte. Es war der hochmütige junge Mann aus der Jagdgesellschaft. Lord Bradley. Und sein Vater war ein Earl? Und das Gespräch, das sie mitangehört hatte, war zwischen diesen beiden geführt worden?

Sie senkte den Kopf und hoffte, dass er sich nicht an sie erinnern würde. Sie konnte sich vorstellen, dass sie mit sauberem Gesicht, dem ordentlich hochgesteckten Haar – zumindest war es das einmal gewesen – und der neuen Haube darüber völlig verändert aussah.

Olivia spürte seinen wütenden Blick auf sich. Sie nahm seine vornehm gekleideten Füße wahr und hob dann langsam den Kopf. Ich bin kein Hund, der sich in eine Ecke ducken muss, sprach sie sich Mut zu und zwang sich, den eiskalten blauen Augen des Mannes zu begegnen. Er schaute mürrisch drein und sein Gesicht verfinsterte sich. Hatte er sie doch von der abgebrochenen Jagd erkannt?

Während er auf die zierliche Gestalt vor sich starrte, bemühte sich Edward Stanton Bradley, seinen Herzschlag zu verlangsamen und sein Gemüt zu beruhigen. Er war innerlich immer noch in Aufruhr, nicht nur wegen der niederschmetternden Neuigkeit, die er bisher kaum hatte verarbeiten können, sondern auch wegen des bedrohlichen Verdachts, dass jemand die Mitteilung, die er am liebsten für immer vergessen würde, belauscht hatte. Er ballte die Fäuste und versuchte vergeblich, das irrationale Verlangen zu unterdrücken, diese unbekannte Feindin zu zermalmen, sie zum Schweigen zu bringen, bevor sie den Mund öffnen und seine ganze Familie zerstören könnte.

Als sie den Blick zu ihm hob, spürte Edward eine leise Ahnung, dass er sie schon einmal gesehen hatte, aber sie verlor sich schnell. Er kannte diese armselige Gestalt nicht. Gütiger Himmel, was war ihr denn zugestoßen? Sie schien kaum in der Lage zu gehen, geschweige denn zu stehen. Hätte Hackam sie nicht am Arm festgehalten, wäre sie allem Anschein nach umgekippt. Ihr Gesicht war leichenblass und ihr Hals … Was um alles in der Welt war passiert?

»Hackam, was haben Sie mit dem jungen Ding gemacht?«

»Nichts, Mylord.«

»Hat mein Bediensteter Ihnen das angetan?«, fragte er Olivia direkt, denn er wusste, dass Hackam nicht zögern würde, seinem Wildhüter die Schuld zuzuschieben.

Mit glasigem Blick schüttelte die junge Frau den Kopf.

»Hackam! Haben Sie vor der Anhörung eine Strafe vollstreckt?«

»Nein, Mylord. Es war ein anderer Gefangener. Gordon hat mir nicht gesagt, dass er einen Wilderer in die Arrestzelle gesperrt hatte. Ich dachte, sie wäre leer.«

Edward unterdrückte einen Fluch und schüttelte grimmig den Kopf. Doch er glaubte Hackam. Der Wachtmeister war kein grausamer Mann, aber er war sehr beschäftigt mit seinem Gasthaus und brachte wenig Eifer für seine zweite Rolle als Konstabler auf. Die vierteljährlichen Verhandlungen und die häufiger stattfindenden kleinen Anhörungen brachten seinem Geschäft Kunden, deshalb nahm er die unbeliebte Pflicht widerwillig Jahr für Jahr auf sich, da niemand anderes sich dafür meldete.

»Wünschen Sie, etwas über den Wilderer zu erfahren, Mylord?«, fragte Hackam. »Wahrscheinlich gehört er zu der Bande, die uns den ganzen Sommer durch die Lappen gegangen ist. Ist das keine gute Nachricht, Mylord?«

Edward ignorierte den Ablenkungsversuch des Mannes. »Die nächste Sitzung findet erst in zwei Wochen statt und es steht außer Frage, eine frühere Anhörung anzuberaumen. Mein Vater verlässt morgen früh das Land, und Farnsworth ist bereits auf dem europäischen Festland. Wenn der Frau in einer halben Stunde so etwas zustoßen kann, was würde dann in einer Woche aus ihr werden?«

»Ich hab vor, sie nach Northleach hochzuschicken. Sollen sich doch die Friedensrichter dort um sie kümmern.«

Hackam meinte das neue Gefängnisgebäude – eine festungsähnliche Haftanstalt, die erst ungefähr so alt war wie Edward selbst. Gegenüber den früheren Gefängnissen, in denen Männer und Frauen zusammen untergebracht waren, stellte sie eine Verbesserung dar, aber es war trotzdem eine Strafanstalt. »Das wird nicht nötig sein.«

»Natürlich ist es das. Ihr Bediensteter sagte, sie hätte sich widerrechtlich auf Ihrem Besitz herumgetrieben und wäre vielleicht eine Diebin.«

Die junge Frau schwankte und Hackam verstärkte seinen Griff.

»Gibt es irgendeinen Beweis, dass sie etwas stehlen wollte?«, fragte Edward. Er wusste, dass unbefugtes Betreten ein geringfügiges Vergehen darstellte, wenn es nicht mit Diebstahl, Schädigung des Landes oder Verletzung einer Person verbunden war. Konnte jedoch nicht auch ein großer Schaden durch ihr Lauschen entstehen? Ganz zu schweigen von den Auswirkungen, die es für seinen Vater hätte, wenn seine Täuschung öffentlich bekannt würde?

»Nun ja, sie war kein geladener Gast, nicht wahr? Was sonst hätte sie dort vorhaben sollen?«

»Das wüsste ich auch gern.« Edward wandte sich der blassen Frau zu. »Wie heißen Sie?«

Sie öffnete ihren Mund, um zu antworten, und ihre zierlichen Lippen formten ein lautloses O. Sie zuckte überrascht zusammen, ihre leuchtenden blauen Augen füllten sich mit Tränen und sie griff sich mit feingliedrigen Fingern an die Kehle, die sich zusehends verfärbte.

Konnte sie wirklich nicht sprechen oder war sie eine vollendete Schauspielerin?

»Ich könnte sie am Pranger auspeitschen lassen«, schlug der Wachtmeister leutselig vor. »Das würde ihr die Zunge lösen.«

Die ohnehin blasse Frau wurde beinahe weiß wie ein Leichentuch.

»Oder wir könnten sie auf der Dorfwiese in den Stock schließen. Als abschreckendes Beispiel für andere etwaige Diebe.« Der Wachtmeister schaukelte auf den Fersen hin und her, während er weiter nachdachte. »Oder auf den Tauchstuhl setzen und untertauchen. Diesen Apparat hab ich seit meiner ersten Amtszeit nicht mehr benutzt.«

Die Frau riss die Augen weit auf, dann verschleierte sich ihr Blick. Ihr Körper wurde steif. Mit offenen, jedoch blinden Augen fiel sie nach vorne, bevor Edward erfassen konnte, was geschah. Hackams Griff reichte nicht aus, um ihr Fallen zu verhindern, und so sackte sie auf dem Boden zusammen.

Als Olivia einige Zeit später wieder zu Bewusstsein kam und unter den Wimpern hervorspähte, stellte sie fest, dass ein bebrillter mittelalter Mann gebeugt über ihr stand. Sie schrak instinktiv zurück und merkte erst in diesem Moment, dass sie flach auf dem Rücken lag, während er neben ihr saß und auf sie herabschaute. Er berührte ihre Kehle mit sanften tastenden Bewegungen. Ein Apotheker, nahm sie an. Oder ein Arzt. Sie schloss ihre Augen wieder und lauschte auf die Unterhaltung über ihr.

»So eine Verletzung könnte in der Tat zu einem zeitweiligen Verlust der Sprachfähigkeit führen. Haben Sie Grund zu der Annahme, dass ihre Stummheit nur vorgetäuscht ist?«

»Sie wurde dabei erwischt, wie sie unerlaubt unser Landgut betreten hat.« Das war Lord Bradleys Stimme.

»Heute Abend waren sehr viele Menschen in Brightwell Court. Warum halten Sie ihre Absichten für frevelhaft?«

Lord Bradley gab keine Antwort. Stattdessen fragte er: »Kann sie transportiert werden?«

»Ich denke schon. Es scheinen keine Knochen gebrochen zu sein. Auf jeden Fall habe ich ihr Laudanum verabreicht. Die Verletzung am Hals muss furchtbar schmerzhaft sein.«

»Transportiert, Mylord?«, erklang die ungläubige Stimme des Wachtmeisters. »Wohin denn?«

»Es ist doch offensichtlich, dass ich sie nicht hier lassen kann, Hackam. Und ich wünsche auch nicht, dass sie nur wegen unerlaubten Betretens nach Northleach gebracht wird. Geben Sie sie fürs Erste in meinen Gewahrsam.«

Hackam hob die Stimme. »Sind Sie sicher, dass das klug ist, Mylord?«

»Ich finde nicht, dass sie gefährlich aussieht«, warf der Mediziner ein.

»Ist das Ihre professionelle Diagnose?« Bradleys Ton war schneidend. »Dann werden Sie mir dafür bürgen.«

»Aber –«, versuchte Hackam es erneut. »Sie könnte sich immer noch als Diebin erweisen.«

»Dann werden Sie am Ende doch noch Ihre Chance bekommen, sie auszupeitschen.«

Olivia versank erneut in der Dunkelheit, dank einer hohen Dosis Laudanum. Und aus Angst.

Edward und der Wachtmeister halfen Dr. Sutton, die junge Frau hinten in Suttons Pferdewagen unterzubringen.

»Wenn wir gerade vom Transportieren sprechen«, sagte der Arzt, »ich hoffe sehr, dass die Reise nach Italien Ihrer Mutter gut tut.«

»Danke, Sutton. Das hoffe ich auch.«

»Viele meiner Kollegen bestätigen die wohltuende Wirkung eines warmen mediterranen Winters für ihre Patienten.«

»Können Sie dem beipflichten?«

»Was ich auf jeden Fall bestätigen kann, ist die wohltuende Wirkung, wenn man einem nasskalten Winter in England aus dem Weg geht. Das empfehle ich aus tiefster Überzeugung. Wann reisen sie ab?«

»Morgen.«

Der Arzt nickte. »Dann wünsche ich ihnen alles Gute.«

Der Wachtmeister hatte ihnen gerade gute Nacht gewünscht und war zum Schwanen zurückgekehrt, als der Pfarrer, Mr Charles Tugwell, über die gepflasterte Straße zu ihnen kam. »Guten Abend, die Herren.« Sein Blick huschte von den Männern zu der bewusstlosen jungen Frau und seine braunen Augen verdüsterten sich vor Sorge. »Was ist denn hier los?«

»Charles«, antwortete Edward schnell. »Ich fürchte, Sie treffen mich zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Kann ich vielleicht nächste Woche im Pfarrhaus vorbeikommen?«

»Natürlich, gern. Aber diese junge Frau – ich kenne sie!«

Edward war verblüfft. »Tatsächlich?«

»Das heißt, ich bin ihr heute in der Nähe des Flusses begegnet. Was ist ihr zugestoßen?«

»Sie wurde beim unerlaubten Betreten des Geländes von Brightwell Court erwischt und, so leid es mir tut, von einem männlichen Gefangenen in der Arrestzelle angegriffen.«

»Du liebe Güte!«

»Sutton glaubt, dass sie sich bald wieder erholen wird.«

»Gott sei Dank.« Der Geistliche schüttelte den Kopf. »Eine junge Frau wie sie, zusammen mit einem Kriminellen eingeschlossen!«

»Wir wissen nicht, ob sie nicht auch eine Kriminelle ist.«

Wieder schüttelte Mr Tugwell den Kopf. »Sie kam mir wie eine vornehme, höfliche Dame vor.«

»Eine Dame?«, wiederholte Edward spöttisch. »Was ist das für eine Dame, die hinter Bäumen lauert, am Abend ohne Begleitung unterwegs ist und private Gespräche belauscht?«

»Eine verzweifelte Dame, das steht fest, aber wir sollten mit unserem Urteil nicht vorschnell sein. Ich habe sie selbst zu Miss Ludlow begleitet, wo sie die Handschuhe ersetzen wollte, die ihr bei einem Malheur abhanden gekommen waren. Ich glaube, sie sagte, sie sei auf dem Weg nach St. Aldwyns, um eine Stelle zu suchen.«

»Und natürlich haben Sie ihr geglaubt.«

Der Pfarrer musterte ihn nachdenklich. »Haben Sie einen Grund zu der Annahme, sie sei von etwas anderem als Neugier angetrieben worden? Meine eigenen Jungen waren versucht, heute Abend nach Brightwell Court hinüberzuschleichen und einen Blick zu erhaschen … auf all die vornehmen Kutschen und Pferde, Lakaien und Musiker und was weiß ich noch alles. Ich musste Hesekiel ohne Abendessen zu Bett schicken und Tom verbieten, sein Fenster aufzulassen in der Hoffnung, die Musik zu hören. Jeder im Dorf wusste von der Gesellschaft. Ich kann mir sogar gut vorstellen, dass Miss Ludlow es ihr gegenüber erwähnte. Die junge Frau sollte heute Abend zum Pfarrhaus kommen und in unserem Gästezimmer schlafen.«

»Tatsächlich?«

»Ich habe mich gefragt, was aus ihr geworden ist, und habe eben bei Miss Ludlow vorbeigeschaut, um zu sehen, ob sie ihre Pläne geändert hat. Wahrscheinlich hat sie einen kurzen Umweg gemacht, um einen Blick auf das Treiben beim Herrenhaus zu werfen, mehr nicht. Bitte beschmutzen Sie nicht ihren Ruf, indem Sie sie als Kriminelle bezeichnen, bevor sie sich erholt hat und Sie ihre wahren Absichten erfahren.«

»Unabhängig von ihren Absichten hat sie wahrscheinlich –« Edward unterbrach sich mit einem Seitenblick auf Sutton und schwieg, während der Arzt auf die Bank seines Pferdewagens stieg.

»Hat sie wahrscheinlich – was?«, hakte Tugwell nach.

Edward senkte die Stimme. »Das kann ich nicht sagen. Aber es ist zwingend notwendig, dass ich erfahre, wer sie ist und ob sie das, was sie möglicherweise belauscht hat, zu gewinnsüchtigen Zwecken zu nutzen beabsichtigt.«

»Du liebe Güte, Edward. Was ist los?«

»Vergeben Sie mir, Charles. Ich habe nicht die Freiheit, das zu erklären.«

Die Augenbrauen seines Freundes hoben sich. »Nicht einmal mir gegenüber?«

Edward verzog das Gesicht. »Nicht einmal Ihnen gegenüber.«

Das Schweigen der Miss Keene
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