29
Wenige Gouvernanten konnten erwarten, einen Posten zu erhalten, wenn sie die vierzig überschritten hatten.
Ruth Brandon, Governess, The Lives and Times of the Real Jane Eyres
Das Haus war ihm während der Abwesenheit seines Vaters und Miss Keenes leer vorgekommen, und er hatte die quälende Befürchtung gehabt, Miss Keene würde nicht nach Brightwell Court zurückkehren. Er war erleichtert, sich darin geirrt zu haben.
Sein Vater vertraute ihm das Wenige an, was er bei dieser Reise erfahren hatte, doch Miss Keene schien sich in Schweigen zu hüllen.
Drei Tage nach der Reise wurde Edward von Judith aufgeschreckt, die in sein Studierzimmer stürmte und ihn am Arm fasste. »Edward, sei so lieb und komm mit. Meine Mutter und meine Schwiegermutter sind da – alle beide! Ich brauche moralische Unterstützung. Eine Ablenkung. Verstärkung. Irgend so etwas.«
Er lachte leise und stand auf. »Ich werde sie natürlich begrüßen, aber erwarte bitte nicht von mir, dass ich stundenlang dabei sitze, wenn ihr tratscht und euch über die neuste Mode und was weiß ich noch alles austauscht.«
Er folgte ihr, als sie in die Halle hinaushastete. Sie beeilte sich, die Damen zu begrüßen, noch bevor Hodges sie ins Empfangszimmer führen konnte.
»Mama! Mutter Howe! Was für eine Überraschung! Ich habe euch nicht erwartet. Auf jeden Fall nicht gleichzeitig. Wenn ich …« Judith hielt inne und hatte beim Anblick einer dritten Frau hinter den anderen beiden offenbar die Sprache verloren.
Judiths Schwiegermutter folgte ihrem Blick und erklärte: »Deine Mutter war so freundlich, mir dabei zu helfen, deine frühere Gouvernante ausfindig zu machen.«
Judith nickte der unauffälligen dünnen Frau Ende vierzig steif zu. »Miss Ripley«, murmelte sie und wandte sich dann schnell wieder ihrer Mutter zu. »Aber hast du meinen Brief denn nicht erhalten, Mama? Ich habe eine neue Gouvernante angestellt, genau wie du es vorgeschlagen hast. Es war nicht nötig, Miss Ripley hierher zu bringen.«
»Nun, wir sind jetzt jedenfalls alle hier«, antwortete Judiths Mutter. »Werden wir hereingebeten oder sollen wir in der Halle stehen bleiben?«
»Natürlich, kommt doch bitte ins Empfangszimmer. Ich werde Tee bringen lassen.«
Während Osborn und Hodges den Damen die Umhänge abnahmen, stand Edward unbehaglich daneben und wartete auf eine Gelegenheit, den Besuch zu begrüßen. Judith schien sich plötzlich an seine Anwesenheit zu erinnern, die einen Moment zuvor so unabdingbar für sie gewesen war. »Sie erinnern sich an Lord Bradley, unseren Cousin?«
»In der Tat«, antwortete Judiths Schwiegermutter. »Er war ein enger Freund meines armen Dominick, Gott hab ihn selig. Wie geht es Ihnen, lieber Junge?«
Edward drückte der Frau die Hand. »Mir geht es gut, Mrs Howe. Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Ich hoffe, es geht Ihnen auch gut?«
»Ich habe die Gicht in einem Bein. Aber sonst geht es ganz gut.«
»Und Tante Bradley, was für eine Freude.« Er küsste die gepuderte Wange seiner Tante.
»Meiner Treu«, sagte Judiths Mutter. »Du siehst deinem Vater immer ähnlicher.«
»Tatsächlich?« Edward zögerte. »Ich … danke dir. Ihr seid hier herzlich willkommen, meine Damen. Ich hoffe, ihr habt einen angenehmen Aufenthalt.«
»Willst du nicht mit uns Tee trinken?«, fragte Judith mit angestrengtem Lächeln.
»Danke, nein. Ich muss mich von euch verabschieden.«
Er verbeugte sich vor den Damen und ignorierte Judiths entsetzte Miene. Er ließ sich nicht mit dieser Schar Frauen in einen Raum locken. Um keinen Preis der Welt.
Schwer atmend gab Osborn Olivia zu verstehen, dass sie sofort ins Empfangszimmer herunterkommen sollte, wo Mrs Howe und ihre Gäste sie zu sprechen wünschten.
Als Olivia den Raum wenige Minuten später betrat, erfasste sie die Szene vor sich mit wenigen Blicken. Judith Howe stand mit nervös zuckenden Händen neben dem Kamin. Zwei matronenhafte Damen Ende fünfzig saßen in vollkommen aufrechter Haltung auf der Couch. Eine schlecht gekleidete Frau, dünn wie eine Bohnenstange und ungefähr zehn Jahre jünger als die anderen beiden, hatte auf einem Stuhl in der Ecke Platz genommen.
Olivia durchquerte das Zimmer und Judith musterte sie anerkennend. Olivia war froh, dass sie sich die Zeit genommen hatte, um ihr Haar neu hochzustecken und ihre Röcke glattzustreichen.
»Mutter, Mutter Howe, darf ich euch Miss Olivia Keene vorstellen, unsere neue Gouvernante?«
Mrs Howe, die ältere der beiden fülligen Damen, kniff die Augen zusammen. »Dieses Kleid. Ich habe es schon einmal gesehen. Ist es nicht eins von denen, die ich dir für deine Aussteuer empfohlen habe?«
»Das glaube ich nicht.« Judith stieß ein verkrampftes Lachen aus. »Aber ich trage schon so lange Trauer, dass ich mich an meine früheren Kleider nicht mehr erinnern kann. Auf jeden Fall bezweifle ich, dass ich nach der Geburt eines Kindes jemals wieder in eins davon hineinpassen werde.«
»Versuche, weniger zu essen«, riet Mrs Howe. »Das dient der Sparsamkeit hinsichtlich der Nahrung und auch der Bekleidung.«
Judiths Lächeln gefror. »Sehr freundlich von Ihnen, Madam, mir Ihren Rat zu geben, aber warum machen Sie sich darüber Sorgen? Meine Kleidung und die Nahrung für mich und meine Kinder wird ja nicht von Ihrem Geld bezahlt.«
Die ältere Frau erstarrte. »Wenn du gern bei mir leben möchtest, Judith, bist du herzlich willkommen. Mit entsprechender Sparsamkeit könnten wir gut zurechtkommen, wenn jede von uns Näharbeiten übernehmen würde.«
»Nein, danke, Madam. Die Kinder und ich, wir fühlen uns hier sehr wohl.«
»Ich frage mich, wie lange das noch so sein wird?« Dies kam von der jüngeren Dame, Judiths Mutter.
»Was meinst du damit?«
»Lord Bradley ist nicht mehr so jung, mein Mädchen. Wenn er heiratet, wird es der neuen Herrin des Hauses vielleicht nicht so gut gefallen, das Haus ihres Mannes, sein Geld und … seine Aufmerksamkeit … mit dir zu teilen.«
Mrs Howe verfolgte das vorherige Thema weiter, als sie einwarf: »Die liebe Jeanette, Gott hab sie selig, trug direkt wieder ihre Mädchenkleider, nachdem Audrey auf der Welt war.«
»Wie schön für sie«, antwortete Judith mit gekünstelter Herzlichkeit.
Mrs Bradley, so elegant und attraktiv, wie es ihre Tochter zweifellos auch bleiben würde, betrachtete Olivia mit kühlem Blick. »Miss Keene ist der Name, ja? Von wo kommen Sie? Kenne ich Ihre Familie?«
»Das glaube ich nicht, Madam. Ich komme von Withington.«
»Ich kenne keine Keenes. Hat Ihre Familie irgendwelche nennenswerten Verbindungen?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Und Ihr Vater … was für eine Art Gentleman ist er?«
Olivia hob das Kinn. »Er ist überhaupt kein Gentleman. Er arbeitet als Buchhalter auf einem Anwesen.«
»Ein Buchhalter? Wirklich, Judith, wo hast du diese Frau aufgegabelt? Warum hieltest du sie für geeignet?«
»Sie hat eine sehr gute Schule besucht, Mama. Sie kann Französisch und Italienisch lesen und schreiben und noch eine Menge mehr.«
»Tatsächlich?«
»Ja, Madam«, antwortete Olivia selbst. »Ich war auf Miss Cresswells Mädchenschule. Und anschließend war Miss Cresswell so freundlich, mich zu ihrer Assistentin zu machen.«
»Ich habe noch nie von einer Miss Cresswell gehört«, murmelte Judiths Schwiegermutter und zog einen losen Faden aus ihrem Ärmel.
»Und Ihre Mutter, Miss Keene?«, fragte Mrs Bradley. »Vermutlich dürfen wir nicht darauf hoffen, dass sie von vornehmer Herkunft ist?«
»Das ist sie in der Tat«, erklang die Stimme des Earls von der Tür her. Die Frauen zuckten zusammen. »Vergeben Sie mir, meine Damen, aber ich konnte nicht umhin, Ihr … Gespräch mit Miss Keene mit anzuhören.«
»Lord Brightwell!«, rief seine Schwägerin aus. »Wir hatten nicht die Absicht, Ihre Ruhe zu stören.«
»Tatsächlich stören Sie meine Ruhe, wenn Sie Miss Keenes Eignung infrage stellen. Sie ist nicht nur außerordentlich klug und gebildet, sondern ihre Mutter stammt auch von den Hawthorns in Cirencester ab, mit denen Sie, glaube ich, etwas bekannt sind.«
»Von den Hawthorns?«, erwiderte Judiths Schwiegermutter. »Also, diese Familie haben wir schon seit Jahren nicht mehr gesehen, nicht seit Thomas Hawthorn starb und seine Frau mit ihren Töchtern wegzog.«
»Hatten Ihre Schwestern nicht eine Gouvernante mit Namen Hawthorn?«, fragte Mrs Bradley den Earl.
»Das stimmt, Madam. Dorothea Hawthorn ist die Mutter von Miss Keene und sie war die beste Gouvernante, die mir je begegnet ist.«
Seine Schwägerin zog die Stirn kraus. »Ich meine, mich im Zusammenhang mit dieser Gouvernante an etwas zu erinnern. Was war das nur? Sie ging weg, ohne zu kündigen, glaube ich. Aber da war noch etwas …«
Der warnende Blick des Earls stand im Widerspruch zu seiner höflichen Antwort. »Was für ein gutes Gedächtnis Sie haben, Mrs Bradley.«
»Ach, denken Sie nur, ich erinnere mich auch an etwas, das diese Familie betrifft«, sagte Judiths Schwiegermutter und richtete den Blick auf das mit Kuchen und Törtchen beladene Teetablett, das Osborn hereinbrachte. »Natürlich verloren sie ihr Zuhause, als Mr Hawthorn starb und der Besitz an einen Cousin vererbt wurde. Aber eine der Schwestern machte eine ausgezeichnete Partie. Sie heiratete einen wohlhabenden Gentleman, einen Mr Crenshaw aus Faringdon, und soweit ich weiß, lebt Mrs Hawthorn bei ihrer Tochter auf Crenshaws Anwesen.«
Mrs Bradley gab Osborn ein Zeichen, den Tisch vor ihr für den Tee zu decken, als wäre sie hier die Herrin, dann richtete sie ihren kühlen Blick wieder auf Olivia. »Während die andere Schwester, Ihre Mutter, einen … Buchhalter heiratete?«
»Miss Keene«, warf Lord Brightwell ein, »wenn Sie Ihr Gespräch mit diesen reizenden christlichen Damen beendet haben, hätten Sie dann etwas Zeit für mich in der Bibliothek? Ich bin auf einen weiteren Fehler in den Abrechnungen des Anwesens gestoßen und brauche Ihr geübtes Auge und Ihre mathematischen Fertigkeiten.«
Olivia vermutete, dass er sich die Geschichte ausgedacht hatte, um die Damen zu beeindrucken, aber sie nahm keinen Anstoß daran. Ganz im Gegenteil, am liebsten hätte sie ihm die Hand geküsst.
Nachdem sie kurz in Lord Brightwells Bibliothek gewesen war und einen Blick auf die Abrechnungen geworfen hatte – in denen sie innerhalb von Minuten einen kleinen Fehler fand –, entschuldigte sich Olivia, weil sie zu Audrey und Andrew zurückkehren wollte. Im Gang traf sie auf Miss Ripley, die allein auf einer Bank neben der Tür zum Empfangszimmer saß. Von dort waren angeregte Gespräche und das zarte Klingen der Porzellantassen zu hören, während die Damen zusammen Tee tranken. Miss Ripley gab eine bedauernswerte Figur ab, und Olivia, die schon einen kleinen Eindruck vom Los einer Gouvernante erhalten hatte, hatte Mitleid mit ihr.
»Miss Ripley, hätten Sie Lust, mich ins Schulzimmer zu begleiten?«
Das abgezehrte Gesicht der Frau erhellte sich und wurde dann wieder düster. »Danke, Miss, aber ich bin Ihnen dort nur im Weg.«
»Aber ganz und gar nicht. Hätte ich Sie sonst gefragt?«
Aufgrund von Olivias Antwort, deren Ton etwas schärfer ausgefallen war als beabsichtigt, fühlte sich die Frau gezwungen, sich zu erheben und Olivia die vielen Stufen zum Schulzimmer hinauf zu folgen. Olivia öffnete die Tür mit Schwung, insgeheim stolz auf die Einrichtung des Zimmers. Während Olivia ein paar zusätzliche Kohlen in den Ofen legte, begutachtete Miss Ripley mit offensichtlicher Anerkennung die säuberliche Anordnung von Bank und Tisch, Landkarten und Globus, Staffeleien und aufgehängten Landschaften, Büchern und Tafeln.
Sie fuhr mit ihren knochigen Fingern über die Bücher auf Olivias Schreibtisch und fragte: »Was für Lehrbücher verwenden Sie?«
»Überwiegend Mangnall's Questions, und dazu –«
»Ausgezeichnet. Es gibt nichts Besseres. Und wie sieht es mit der Disziplin aus, Miss Keene? Haben Sie Ihren Schülern genügend Disziplin beigebracht?«
»Ich weiß es nicht. Ich muss gestehen, dass es mir manchmal schwer fällt, ihnen die nötige Aufmerksamkeit abzuverlangen.«
»Sagen Sie das nicht! Sie müssen mit eiserner Faust – oder Rute – herrschen, Miss Keene. Ein paar tüchtige Ohrfeigen schaden auch nie.«
»Ich glaube nicht …« Olivia erkannte, dass es nichts bringen würde, Widerspruch zu äußern, und sagte stattdessen: »Ich bin davon überzeugt, dass Mrs Howe das nicht erlauben würde.«
»Als Mädchen hat Miss Judith ihren Anteil an disziplinarischen Maßnahmen abbekommen, das dürfen Sie mir glauben, und es hat ihr sehr gut getan. Ich werde mit ihr sprechen, bevor ich abreise, und sie ermutigen, strenger mit den Kindern zu sein und Ihnen das auch zu erlauben.«
»D-danke, Miss Ripley. Aber das ist nicht notwendig. Das heißt, ich werde schon zurechtkommen.«
»Ohne Disziplin werden Sie nie zurechtkommen, Miss Keene. Machen Sie nicht den Fehler, sich mit Ihren Schülern anfreunden zu wollen. Sie sind nicht ihre Freundin, Sie sind ihre Gouvernante, und Sie müssen das Sagen haben. Das wird ihnen nicht gefallen. Erwarten Sie nichts in dieser Richtung. Erwarten Sie, dass sie Ihnen weder Wärme noch Wertschätzung entgegenbringen, dann werden Sie nicht enttäuscht.«
Olivia starrte die ältere Frau an und erkannte die brüchige Fassade, hinter der sich Jahre der Ablehnung und der schlechten Behandlung verbargen. Sie sagte in ruhigem Ton: »Es ist eine einsame Art zu leben, nicht wahr?«
»Natürlich ist es das. Aber jede Gouvernante, die etwas auf sich hält, weiß das von vornherein und erwartet nichts anderes.«
»Aber … ohne Freunde, ohne Wärme oder Anerkennung zu leben?«
Miss Ripley schaute Olivia an, als sähe sie sie zum ersten Mal. »Das ist unser Los.«
Olivia berührte die Frau am Arm und diese zuckte zusammen, als hätte sie sich verbrannt. »Möchten Sie gern Tee mit mir trinken, Miss Ripley?«
Die Augen der Frau glänzten feucht. »Danke.«
Becky brachte ihnen Tee und einen Teller mit Mrs Moores Ingwerkeksen, und die zwei Gouvernanten setzten sich zusammen an den Tisch im Schulzimmer.
»Ich war darauf vorbereitet, Sie zu hassen, Miss Keene«, gab Miss Ripley über den Rand der Teetasse hinweg zu. »Die unerfahrene Frau, die den Posten einnimmt, den ich selbst gern hätte. Ich brauche eine Stellung, wissen Sie. Offenbar will niemand eine Gouvernante in meinem Alter.«
Miss Ripley nippte damenhaft an ihrer Tasse und betrachtete Olivia mit ernsthafter Miene. »Ich war nicht die Einzige, die überrascht war, wie jung Sie sind. Bevor die Damen mich wegschickten, machte Mrs Bradley eine Bemerkung darüber zu Miss Judith. Sie sagte, Sie wären insgesamt viel zu jung und hübsch, um vertrauenswürdig zu sein. Soweit ich verstanden habe, hat sie die Sorge, Sie könnten Lord Brightwell den Kopf verdrehen.«
»Lord Brightwell?« Olivia glaubte, sich verhört zu haben.
»Ja.« Miss Ripley biss ein zierliches Stück von ihrem Keks ab. Hätte sie etwas mehr Schick besessen, wäre sie richtig elegant gewesen. »Miss Judith fragte ihre Mutter, ob sie Lord Bradley meinte, den Sohn von Lord Brightwell, aber Mrs Bradley beharrte auf ihrer Einschätzung. Dann merkte sie, dass ich zuhörte und sagte nichts mehr.«
»Wie seltsam. Lord Brightwell ist alt genug, um mein …« Das Wort blieb Olivia im Hals stecken. »Ich versichere Ihnen, dass nichts dieser Art vor sich geht.«
Miss Ripley zog eine schmale Schulter hoch und lächelte wissend. »Ich würde es Ihnen nicht vorwerfen, wenn es anders wäre. Wir müssen alles tun, was wir können, um unsere Zukunft zu sichern. Das ist meine Meinung.«
Olivia ergriff dankbar die Gelegenheit, das Thema zu wechseln. »Und was werden Sie jetzt tun, Miss Ripley? Nach Hause zurückkehren?«
»Ich habe kein Zuhause, Miss Keene. Über zwanzig Jahre lang hab ich in den Häusern anderer Menschen gelebt. Ich habe Räume mit lockigen Jungen in Nachthemden geteilt – Jungen, die inzwischen längst im Krieg gefallen sind oder eigene Kinder haben. Kaum jemand erinnert sich noch an mich, und wenn ja, dann nicht mit Zuneigung. Ich traf einmal eine Gouvernante – eine Miss Hayes, die von ihren Schützlingen so geliebt wurde, dass sie bei ihnen einzog, als sie erwachsen waren, und als Gouvernante für deren Kinder diente. Und dann, als sie zu alt zum Arbeiten war, lebte sie als geliebte Freundin bei der Familie. Ich habe nur eine solche Geschichte gehört. Viel häufiger sind Geschichten von Gouvernanten, die zu alt zum Arbeiten sind oder zumindest zu alt, um einen schönen Anblick zu bieten, und die deshalb keine Anstellung mehr bekommen, niedrige Arbeiten übernehmen, in winzigen gemieteten Zimmern leben und dann auf der Straße, wo sie langsam verhungern.« Sie nahm einen weiteren Bissen von ihrem Keks. »Niemand wird aus eigener Wahl Gouvernante. Es ist eine Rolle, die man aus Notwendigkeit übernimmt. Um zu überleben. Das einzige echte Mittel für eine Frau aus vornehmem Stand, dafür zu sorgen, dass sie ein Dach über dem Kopf und Nahrung und Kleidung hat.«
Miss Ripley musterte Olivia von Kopf bis Fuß. »Ich weiß, welche Umstände mich vor vielen Jahren dazu zwangen, diesen Weg einzuschlagen, aber ich frage mich, was Ihre Gründe sind. Ich vermute, Ihr Vater konnte oder wollte Sie nicht unterstützen. Aber Sie sind zu hübsch, um nicht einige Heiratsanträge zu bekommen, und Sie hätten stattdessen an einer Mädchenschule unterrichten können. Darf ich fragen, was Sie dazu bewegt hat?«
Olivia starrte die Frau an, verblüfft über ihre lange und unverblümte Rede. Wann war wohl das letzte Mal gewesen, dass Miss Ripley einen anderen Erwachsenen gehabt hatte, mit dem sie als Gleichgestellte sprechen konnte?
»Ich war Assistentin in einer Mädchenschule«, bestätigte Olivia, »aber bestimmte Umstände, wie Sie es von sich auch sagen, brachten mich hierher.« Ihr Vater hatte sie finanziell unterstützt. Olivia konnte nichts anderes behaupten. Aber sie fühlte sich auch nicht verpflichtet, ihn zu verteidigen. Schließlich war er zum großen Teil dafür verantwortlich, dass sie sich in dieser Situation befand.