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HAINES, George, für den Diebstahl eines Gewehrs und einer Pulverbüchse, dem Eigentum von James Hickman; und eines Kaninchens, dem Eigentum von Henry Simcox.
Drei Kalendermonate für das erste Vergehen; einen Kalendermonat für das zweite.

Northleach House of Correction Records, 1850
(übertragen von Phil Mustoe)

 

Als der Lakai der Crenshaws ihr Lord Bradleys Karte reichte, explodierten verschiedene Gefühle wie Feuerwehrraketen in ihrem Körper – Panik, Angst, Hoffnung. Sie war versucht, ihn nicht zu empfangen, aber sie wusste, dass sie das nicht tun konnte. Nicht nach seinem Entschuldigungsbrief. Und was wäre, wenn Lord Brightwell krank wäre? Oder wenn einem der Kinder etwas zugestoßen wäre?

»Führen Sie ihn bitte herein.«

Die folgenden Minuten kamen ihr wie eine Stunde vor, aber als sie seine Schritte hörte, kamen sie viel zu schnell näher. Sie schluckte und atmete ein paar Mal tief durch, um sich zu beruhigen.

Als sich die Tür wieder öffnete, erhob sich Olivia unsicher. »Lord Bradley, ich … ich habe Sie nicht erwartet.«

Er verbeugte sich. »Dessen bin ich mir bewusst.« Er schaute auf seine Stiefel hinunter. »Und ich erwartete, dass der Lakai mir unmissverständlich klarmachen würde, Sie wären nicht zu Hause – ob Sie nun hier wären oder nicht.«

»Ich habe es in Betracht gezogen, das gebe ich zu.« Ihr Lachen klang in ihren eigenen Ohren gezwungen. »Aber ich wollte keine Aufregung verursachen, nachdem ich hier nur Gast bin.«

Durch seine goldenen Wimpern hindurch sah er sie an. »Ein verehrter Gast, hoffe ich?«

Olivia biss sich auf die Lippe und lächelte dann. »Doch, ja. Meine Mutter ebenfalls. Sie sind alle zusammen nach Cirencester gefahren, sonst würde ich Sie vorstellen.«

Er nickte. Sie standen einen Moment lang verlegen im Zimmer. Schließlich räusperte er sich und drehte seinen Hut in der Hand.

»Oh! Vergeben Sie mir«, sagte Olivia. »Bitte setzen Sie sich.«

»Eigentlich … geht es mir ein bisschen wie Andrew im Schulzimmer. Ich habe zu viel Energie, um mich hinzusetzen. Wären Sie so freundlich, ein paar Schritte mit mir zu gehen? Als ich hereingeritten bin, habe ich einen schönen Garten gesehen.«

»Natürlich … ich hole nur schnell meine Haube.«

Sie schlenderten zusammen durch den gepflegten Garten, der von Mauern aus marmoriertem Stein eingefasst war. Die Sonne schien und die Luft war erfüllt von Rosen- und Lavendelduft.

»Haben Sie meinen Brief erhalten?«, erkundigte Edward sich.

»Ja. Obwohl ich gesehen habe, dass Ihr Vater ihn adressiert hat.«

Er nickte. »Seit dem Tag, an dem Sie uns verlassen haben, habe ich ihn angefleht, mir zu sagen, wo Sie sind, und endlich hat er nachgegeben.«

Edward war so nervös gewesen, dass er sie bis zu diesem Moment noch gar nicht richtig angesehen hatte. Er blieb stehen und betrachtete sie. Ihr rosarotes Kleid hatte einen tiefen, geraden Ausschnitt, der ein zartes Schlüsselbein und bezaubernde weibliche Rundungen sehen ließ. Ein passendes rosafarbenes Band zog seinen Blick nach oben zu ihrem anmutigen Hals. Unter ihrer Haube baumelten Ohrringe von kleinen weißen Ohrläppchen, und glänzende Locken aus dunklem Haar umrahmten ihr Gesicht. Ihre Lippen schimmerten und ihre geröteten Wangen waren äußerst angenehm anzuschauen. »Was haben sie mit Ihnen angestellt?«

Ihre Lippen öffneten sich und ihre Röte vertiefte sich.

»Bitte verzeihen Sie mir, das ist völlig falsch herausgekommen. Ich meinte, na ja, Sie sehen wunderschön aus. Das war schon immer so, aber – mir gefällt Ihr Haar und … nun ja … alles an Ihnen.«

Sie neigte den Kopf. »Danke. Meine Tante besteht darauf, dass ihre Kammerzofe mich frisiert und ankleidet. Das dauert viel zu lang, fürchte ich.«

»Aber es lohnt sich, das versichere ich Ihnen.«

Ihr angedeutetes Grinsen verwandelte sich in ein Lächeln.

Als sie weitergingen, beide die Hände hinter dem Rücken verschränkt, erzählte er ihr alles, was in letzter Zeit in Brightwell Court geschehen war und was er erfahren hatte.

Olivia blieb stehen, Mund und Augen weit geöffnet. »Avery Croome ist Ihr Großvater!« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin verblüfft und doch … ich hätte es ahnen sollen.« Mit funkelnden blauen Augen musterte sie sein Gesicht. »Tatsächlich, ich entdecke eine Ähnlichkeit.«

Er sagte trocken: »Ich weiß nicht, ob das ein Kompliment ist oder nicht.«

»Vor ein paar Monaten wäre es das nicht gewesen, aber seit ich ihn besser kennengelernt habe, ist es eins.«

Während sie weiterspazierten, warf er ihr einen Seitenblick zu und bemerkte an ihrer gekräuselten Stirn, dass sie immer noch grübelte.

»Das bedeutet, Alice Croome war Ihre Mutter«, sagte sie. »Und Mrs Moore … hat sie das die ganze Zeit gewusst?«

Edward schüttelte den Kopf.

»Nein, das dachte ich auch nicht. Haben Sie es ihr gesagt?«

»Ja.«

»Wie hat sie reagiert?«

Edward atmete tief durch. »Ich fürchte, ich habe im Untergeschoss einige Aufregung verursacht.«

»Ach ja?«

»Zwei Küchenmädchen haben beobachtet, wie ich ihre Wange küsste.«

»Nein!«, sagte Olivia mit gespielter Empörung und lachte dann. »Bitte erzählen Sie mir alles.«

Er folgte ihrem Wunsch und sie wanderten durch den Garten und unterhielten sich fast eine ganze Stunde lang.

Als er seine Geschichte zu Ende erzählt hatte, fragte sie: »Was werden Sie jetzt machen?«

»Eine ausgezeichnete Frage. Was werden Sie machen?«

Sie holte tief Luft. »Ich werde den Rest des Sommers hier verbringen. Dann gehe ich nach Kent und unterrichte in einer Mädchenschule, so wie ich es immer wollte.«

»Aber das war nicht ganz genau das, was Sie immer wollten, oder?«

Sie zuckte die Achseln. »Nicht ganz genau, nein. Ich hatte davon geträumt, einmal eine eigene Schule mit meiner Mutter aufzumachen. Aber das muss fürs Erste ein Traum bleiben.« Sie seufzte. »Ich werde mich damit zufriedengeben, einer weiteren erfahrenen Schulleiterin zur Seite zu stehen, und möglichst viel von ihr lernen.«

»Kann ich Sie nicht überreden, nach Brightwell Court zurückzukommen?«

»Nein. So sehr ich Audrey und Andrew auch liebe, das … das kann ich nicht. Ich gebe zu, dass ich letzten Endes doch nicht dafür geeignet bin.«

»Unsinn. Sie sind die klügste, netteste –«

»Ich meinte das einsame Leben. Immer nur in Gesellschaft der Kinder zu sein. Lange einsame Stunden. Nirgendwo richtig dazuzugehören. Nie eine wahre Freundin zu haben … Bitte verzeihen Sie mir. Ich plappere schlimmer als Doris.«

Er schaute sie verständnislos an. »Doris …?«

Sie kniff die Augen zu. »Genau das meine ich.«

Sie gingen weiter. Edward spürte, dass er etwas Falsches gesagt hatte, aber er wusste nicht, wie er es wiedergutmachen könnte. Stattdessen bemerkte er: »Sicher könnten Sie etwas näher als in Kent unterrichten.«

»Vielleicht. Aber es ist auch etwas Verlockendes an einem neuen Anfang in weiter Ferne, jetzt wenn ich weiß, dass meine Mutter in Sicherheit ist. Ich habe dem Wachtmeister in Withington geschrieben und warte immer noch auf eine Nachricht über die Situation meines Vaters.«

Er räusperte sich. »Sie haben es also noch nicht gehört? Als ich Sie sah, habe ich das vermutet. Es gibt Neuigkeiten, fürchte ich – Neuigkeiten, die ich gern persönlich überbringen wollte.«

Sie schaute auf. »Was für Neuigkeiten?«

Aus seiner Jackentasche holte er einen Zeitungsausschnitt und entfaltete ihn. »Neuigkeiten über den Prozess Ihres Vaters, die genaue Anklage und das voraussichtliche Urteil.«

Er streckte ihr den Ausschnitt hin, aber sie griff nicht danach, sondern starrte nur reglos darauf. »Sagen Sie mir, was drin steht«, flüsterte sie.

Er atmete tief durch. Es war ihm unangenehm, der Überbringer solcher Nachrichten zu sein, und er ahnte, wie es sie innerlich zerreißen musste.

»Ihr Vater wird wegen Unterschlagung der Prozess gemacht, so wie es das Gerücht verlauten ließ. Wie es der Fall ist, wenn ein Untergebener seinen Herrn betrügt, und da es um eine ungeheure Summe geht, die fehlt, erwartet man, dass er aufgehängt oder lebenslänglich deportiert wird.«

»Du lieber Gott, nein …«

»Es tut mir leid, Olivia. Auch wenn Ihr Vater einige Fehler hat, muss dies doch ein furchtbarer Schlag sein.«

Ihre großen, entsetzten Augen flehten ihn an. »Aber er hat es nicht getan! Ich weiß, dass er es nicht getan hat. Man kann ihm viel vorwerfen, aber er ist kein Betrüger. Kein Dieb.«

Es brach ihm das Herz, sie so verzweifelt zu sehen. »Ich möchte keine falschen Anschuldigungen machen, nachdem ich Sie ermutigt habe, Ihren Vater in einem barmherzigeren Licht zu sehen. Aber könnte ihn nicht der Wunsch nach Rache in Versuchung getrieben haben, wenn es keine Habgier war?«

Sie nickte. Dieser Gedanke war ihr auch schon in den Sinn gekommen.

Schweigend gingen sie ein paar Minuten lang weiter. Dann wandte er sich ihr erneut zu. »Unser Anwalt steht zu Ihrer Verfügung und alle finanziellen Mittel, die Sie brauchen, um –«

Sie packte ihn am Arm. »Bringen Sie mich zu ihm. Würden Sie das bitte tun? Ich muss ihn sehen, ihn fragen.«

Er legte seine Hand auf ihre, unfähig, die Gelegenheit, sie zu berühren, verstreichen zu lassen. »Ich habe eine andere Idee. Sie werden sich erinnern, dass ich ein wenig mit Sir Fulke und seinem Sohn Herbert bekannt bin. Vielleicht könnte ich mit ihnen reden und um Milde bitten oder wenigstens um ein weniger hartes Urteil.«

»Halten Sie sie für fähig, Gnade zu zeigen?«

»Sir Fulke? Das ist unwahrscheinlich. Wenn Herbert dort wäre, könnte ich ihn vielleicht bewegen, aber soweit ich weiß, ist er immer noch weg. Trotzdem würde ich es versuchen.«

»Tatsächlich?«

»Ihnen zuliebe, ja. Und ich bin sicher, dass Vater damit einverstanden wäre.«

»Warum sollten Sie das tun?«

Sie schauten sich in die blauen Augen und ihre Blicke verschmolzen miteinander.

»Olivia …«, erwiderte er und klang fast gekränkt. »Ich glaube, Sie kennen die Antwort darauf.«

Das Schweigen der Miss Keene
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