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Gesucht: eine Gouvernante – ein behagliches Heim, jedoch keine Entlohnung wird der Dame angeboten, die eine Stellung sucht, um zwei Kinder in Musik, Zeichnen und Englisch zu unterrichten.
Anzeige in der TIMES, 1847
Als Olivia das erste Mal nach ihrer Krankenzeit in die Küche kam, empfing Mrs Moore sie mit weit geöffneten Armen und drückte sie fest an sich. Ihre Umarmung war so süß wie das von ihr zubereitete Zuckerwerk.
»Livie, meine Liebe, wie sehr ich für Sie gebetet habe! Ich kann Ihnen nicht sagen, wie gut es ist, Sie gesund und munter zu sehen und wieder einmal Besuch von Ihnen in meiner Küche zu haben. Jetzt setzen Sie sich, ich gieße Ihnen eine Tasse heiße Schokolade ein und wir gönnen uns ein Schwätzchen.«
Olivia lächelte und fühlte, wie es ihr warm ums Herz wurde, noch bevor sie einen Schluck des heißen Getränks genossen hatte.
Mrs Moore eilte geschäftig hin und her und stellte dann eine Tasse Schokolade zusammen mit feinem Buttergebäck vor ihr auf den Tisch. Sie hob die dünnen Brauen und schaute sie aus großen Augen erwartungsvoll an. »Und?«
»Und was, Mrs Moore?«
»Ohhh! Ich konnte es kaum erwarten, meinen Namen von Ihnen zu hören. Sagen Sie noch etwas.«
»Mrs Moore, Sie machen mich verlegen. Ich komme mir vor, als stünde ich vor meinem Französischlehrer und sollte ihn damit beeindrucken, wie gut ich die neue Sprache beherrsche.«
»Ach!« Sie klatschte in die Hände. »Doris hat gesagt, dass Sie wie eine echte Dame sprechen, und bei meiner Treu, sie hatte recht.«
Olivia lachte. »Ist es so merkwürdig, mich sprechen zu hören?«
»Merkwürdig und wunderbar, mein Mädchen. Merkwürdig und wunderbar.«
Es klopfte an der Küchentür und Mrs Moore erhob sich. »Bleiben Sie hier und trinken Sie Ihre Schokolade. Ich bin sofort wieder da.«
Olivia beobachtete schweigend, wie Mrs Moore die Tür zum äußeren Treppenhaus öffnete und drei Hasen von Mr Croome in Empfang nahm. Über die gefleckten grauen Tiere hinweg fing der Wildhüter Olivias Blick auf, nickte ihr kurz zu und drehte sich ohne ein Wort des Abschieds auf dem Absatz um.
»Danke, Avery!«, rief Mrs Moore ihm nach.
Mrs Moore legte die Hasen in einen Korb neben den Arbeitstisch und warf Olivia einen Blick zu. »Er hat nach Ihnen gefragt, als Sie krank waren.«
»Tatsächlich?«
Mrs Moore nickte. »Sie müssen wirklich keine Angst vor Mr Croome haben, Livie. Er ist kein schlechter Mensch. Er hatte es schwer im Leben, der arme Kerl.«
Olivia zog die Brauen zusammen. »Sie sind die Erste, die so anteilnehmend über ihn spricht.«
»Wie könnte ich anders über ihn sprechen? Er hat seine Frau verloren. Sie war meine eigene Schwester.«
Olivia war sprachlos. Einen Moment lang saß sie einfach nur da und starrte die Köchin an. Dann streckte sie eine Hand aus und legte sie auf die von Mrs Moore. »Er war mit Ihrer Schwester verheiratet?« Es passte nicht in Olivias Vorstellung, dass ein hartherziger, wütender Mann wie Croome eine Frau, die auch nur die geringste Ähnlichkeit mit der warmherzigen, freundlichen Mrs Moore hatte, verdient haben könnte. Andererseits – hatte Simon Keene Dorothea Hawthorn verdient?
Mrs Moore nickte. »Aber sie ist schon lange tot. Jetzt liegt sie auf dem Friedhof.« Trotz der vielen vergangenen Jahre wurden die Augen der Köchin feucht. »Sie … ach, achten Sie nicht auf mich.« Sie schniefte und ihr Gesicht hellte sich plötzlich auf. »Wir feiern Ihre Rückkehr – vom Krankenlager und vom Schweigen.« Mrs Moore drückte ihre Hand. »Das ist wirklich ein glücklicher Tag!«
Olivia lächelte und nippte an ihrer Schokolade. »Wissen Sie, Lord Bradley hat mir erzählt, dass Mr Croome einen der Hunde erschossen hat, bevor er mich angreifen konnte.«
»Was Sie nicht sagen! Mir hat er nichts davon verraten.«
»Ich überlege, ob ich mich bei ihm bedanken soll.«
Wieder hob Mrs Moore die dünnen Brauen und machte ein unschuldiges Gesicht. »Meinen Sie?«
Olivia entging ihr Zwinkern nicht. »Ich nehme nicht an, dass Sie irgendwelche Leckerbissen übrig haben, die Sie nicht gern wegwerfen wollen?«
Olivia traf Croome beim Holzhacken an, und beim Anblick, wie er die Axt schwang, war ihr unheimlich zumute. Zu seinen Füßen befand sich ein grauer Vogel mit orange-braun gefleckten Flügeln, der ihre Angst nicht zu teilen schien. Er folgte Croome, als dieser einen weiteren Holzklotz auf den Baumstamm setzte und sauber in zwei Teile spaltete. Krachend flogen die Teile auseinander.
Croome hielt inne, als er sie sah. »Was machen Sie hier, Mädchen?«
»G-guten Tag, Mr Croome. Ich bin Olivia Keene, wie Sie vielleicht wissen.«
»Ich erinnere mich. Die Frau, die ich erwischt habe, als sie an einem Ort herumgeschnüffelt hat, an dem sie nichts verloren hatte.«
Er zerteilte das nächste Holzstück.
Sie dachte an Mrs Moores Rat. »Achten Sie darauf, dass Sie sich nichts von ihm gefallen lassen.« Olivia antwortete mit fester Stimme: »Und ich erinnere mich, Sie, Mr Croome, an einem Ort gesehen zu haben, an dem Sie nichts verloren hatten. Im Wald von Chedworth mit einer … interessanten Gruppe von … Bekannten.«
Er ließ die Axt neben sich fallen und warf ihr einen scharfen Blick zu. Selbst das stolze, hahnenähnliche Gesicht des Vogels schien sie zu verhöhnen. »Was ich mache, wenn ich nicht hier bin, geht weder Sie etwas an noch sonst jemanden.«
»In Ordnung.«
Er starrte sie wütend an und sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten.
Er bückte sich und hob ein weiteres Stück Holz auf. »Ich dachte, Sie würden dem Herrn davon erzählen.«
»Das habe ich nicht getan.«
Er kniff die Augen zusammen. »Und warum nicht?«
»Egal, was Sie vielleicht sonst noch alles machen, Sie haben mich auf jeden Fall an diesem Abend im Wald gerettet.«
Er hob erneut die Axt, zögerte jedoch. »Natürlich hab ich das. Ein junges Mädchen, in den Händen eines widerwärtigen, verkommenen Mannes …« Er führte die Axt mit einem gewaltigen Schlag nach unten und sie fragte sich, ob er nur von Borcher sprach oder noch jemand anderes im Kopf hatte.
Sie fuhr fort: »Und jetzt habe ich erfahren, dass Sie wieder dabei geholfen haben, mich zu retten. Dieses Mal vor den vierbeinigen Kötern in diesem Wald.«
Er zuckte die Achseln. »Ist doch meine Pflicht, oder?« Er warf die gespaltenen Scheite auf einen Haufen.
»Trotzdem bin ich Ihnen dankbar. Ich fürchte, ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, was an diesem Tag passiert ist, aber Lord Bradley hat Ihr schnelles Handeln sehr gelobt.«
Croome hielt inne und blickte ihr ins Gesicht. »Hat er das?« Einen Moment lang hellte sich seine Miene auf, doch dann fiel sein Blick auf die zugedeckte Schüssel in ihren Händen. Sofort machte er wieder ein böses Gesicht.
»Ich hab’s Ihnen schon einmal gesagt. Ich brauche Ihre Almosen nicht.«
»Es freut mich, das zu hören, denn ich habe Ihnen nichts zu geben. Was ich hier mitgebracht habe ist von Mrs Moore. Hasenpfeffer, hat sie gesagt, soweit ich mich erinnere. Sie hat mehr gemacht, als im Herrenhaus gebraucht wird, und meinte, falls Sie zu starrköpfig sind, um es anzunehmen, könnten Sie es wieder an Ihre Schweine verfüttern. Ihr ist das egal.«
»Das hat sie gesagt, ja?« Die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Lippen. Dann zitterte seine Hand leicht. »Klingt ganz nach Nell. Ein herrisches Weib.«
»Nehmen Sie es an oder soll ich es auf dem Heimweg im Wald ausleeren? Denn zumindest ich möchte ihre Gefühle nicht verletzen.«
»Kein Grund, das Essen wegzuwerfen. Sie hätten es nicht bringen sollen, aber ich mag Verschwendung genauso wenig wie diese berechnende Frau. Lassen Sie es hier. Ich habe nicht nur Schweine, sondern auch Hunde. Wir werden es unter uns aufteilen.«
»Wie Sie wollen.« Sie stellte die Schüssel auf die Treppe, drehte sich ohne weiteres Wort um und marschierte erhobenen Hauptes davon.
Es dauerte jedoch einige Minuten, bis ihr Herzschlag sich wieder beruhigt hatte.
Edward trank Kaffee zum Frühstück, Judith dagegen nahm Tee. Sein Vater hatte sich noch nicht zu ihnen gesellt. Hodges brachte den Teller mit den Briefen herein – Rechnungen für ihn, einen Brief aus Swindon für Judith.
Judith setzte die Teetasse ab, brach den Brief auf und sagte, nachdem sie ein paar Sätze überflogen hatte: »Ein Brief von meiner Mutter. Es scheint, dass meine liebe Schwiegermutter sich bei ihr über die Tatsache beschwert hat, dass die Kinder momentan keine Gouvernante haben. Diese aufdringliche Person!«
Sie hielt inne, um an ihrem Tee zu nippen, dann starrte sie wieder auf den Brief. Edward vermutete, dass seine Cousine eine Brille brauchte, aber sie war zu eitel, um es zuzugeben.
»Du liebe Güte!« Judiths Wangen röteten sich. »Mama bietet an – es kommt mir eher wie eine Drohung vor –, meine frühere Gouvernante anzustellen, wenn es mir nicht selbst gelingt, eine zu finden. Was für eine Frechheit!«
»Ich bin sicher, Tante Bradley möchte dir nur freundlich helfen.«
»Freundlich!« Judith wandte ihm aufgebracht das Gesicht zu. »Erinnerst du dich nicht an Miss Ripley? Ich bin sicher, du bist ihr einige Male begegnet.«
»Ich fürchte, an dieses Vergnügen erinnere ich mich nicht.«
»Sie war so barsch und fordernd, dass ich mich vor ihr zu Tode geängstigt habe. Verglichen mit ihr war Miss Dowdle ein Goldstück! Was man auch tat, nie konnte man es der Frau recht machen. Mich schüttelt es bei dem Gedanken, so ein Geschöpf in unser … ich meine, in dein Haus zu bringen.«
»Brightwell Court ist jetzt auch dein Zuhause, Judith, das weißt du. Du kannst hier so lange bleiben, wie du möchtest.«
»Danke, aber ich möchte mir nicht anmaßen –«
»Natürlich musst du dich um die Erziehung deiner Kinder kümmern.«
»Aber es sind nicht meine Kinder.«
»Judith« – in seiner Stimme schwangen ein leichter Tadel und eine ernsthafte Bitte mit – »jetzt sind es deine Kinder. Du weißt, Dominick würde von dir erwarten, dass du sie wie eigene Kinder behandelst.«
»Ja, vermutlich. Wenn seine Mutter nicht so von der Gicht geplagt wäre, würde sie wahrscheinlich darauf bestehen, sie selbst großzuziehen.« Judith seufzte. »Wie schade, dass Mädchenpensionate in der vornehmen Gesellschaft so aus der Mode gekommen sind.«
»Aber Audrey ist noch sehr jung. Mir widerstrebt der Gedanke, sie in so zartem Alter wegzuschicken.«
»Tatsächlich?« Judiths Blick wurde weich.
Edward schaute zur Seite. »Andrew wird eines Tages auf eine Schule geschickt werden müssen, aber ich hoffe, dass das noch nicht so bald sein wird.«
»Wie liebenswürdig du bist, Edward. Den meisten Männern würde es nicht gefallen, die Kinder eines anderen Mannes um sich zu haben.«
»Judith, sie sind hier sehr willkommen, das weißt du doch.«
Sie kräuselte nachdenklich die Stirn. »Es gibt ein Mädchenpensionat in St. Aldwyns, soweit ich weiß. Audrey wäre also nicht weit weg.«
»Tugwell und ich haben uns neulich über diese Schule unterhalten«, erwiderte er in trockenem Ton, erklärte aber den Anlass nicht. »Trotzdem halte ich es für viel besser, sie hier zu Hause zu unterrichten.«
»Es freut mich so, das von dir zu hören, Edward«, sagte Judith, die Wangen leicht gerötet.
Edward nickte, doch ihr Lob war ihm unangenehm. Dass sie hier alle wohnen konnten, verdankten sie nicht ihm, sondern der Großzügigkeit seines Vaters.
Judith studierte den Brief noch einmal nachdenklich. »Ich nehme nicht an, dass … Nein, das wäre wohl nicht das Richtige.«
»Was meinst du?«
»Ich frage mich … Wie wäre es mit Miss Keene?«
»Miss Keene?«
»Sie kann gut mit den Kindern umgehen und hat nichts von der Überheblichkeit, die mich an Gouvernanten so stört.«
Edward starrte sie an. Er war völlig vor den Kopf geschlagen und wusste nicht, ob er diesen Vorstoß gutheißen oder verbieten sollte. Ihm war klar, dass Miss Keenes »Probezeit« vorbei war und er kein Recht dazu hatte, sie länger hier zu behalten, falls sie Brightwell Court verlassen wollte. Würde ein solcher Posten sie verlocken, weiter zu bleiben?
Judith sprach weiter und schien der Idee immer mehr abzugewinnen, je mehr sie sich damit beschäftigte. »Ich bin bereits mit ihr bekannt und die Kinder auch. Und sie ist sehr gebildet, weißt du. Sie hat eine schöne Schrift und spricht oder schreibt zumindest Französisch und Italienisch. Und sie spielt Klavier. Zumindest ein bisschen.«
Er konnte nicht widerstehen, sie zu necken. »Bist du so enttäuscht, dass sie sich nicht als ausländische Prinzessin entpuppt hat, dass du deshalb eine Gouvernante aus ihr machen willst?«
Sie zog die Nase kraus, und ihr Gesichtsausdruck erinnerte ihn an ihre früheren Tage, als sie Spielkameraden gewesen waren.
Er fragte: »War sie vorher schon einmal Gouvernante?«
»Das glaube ich nicht, aber ihre Mutter war die Gouvernante von Tante Margery und Tante Philippa. Und als ich ihr ein paar Fragen gestellt habe, hat sie zugegeben, dass sie an einer Mädchenschule unterrichtet hat – ich weiß nicht mehr, wo. Wenn sie von dort ein Leumundszeugnis bekommen könnte, wäre ich zufrieden.«
Er musterte sie verblüfft. »Warum tust du das, Judith? Hast du wirklich grundsätzlich so viel gegen Gouvernanten einzuwenden oder gibt es einen anderen Grund, warum du Miss Keene diese Aufgabe anvertrauen willst?«
»Ich habe viele Gründe. Sie ist offensichtlich eine intelligente, geduldige junge Frau, die Kinder liebt. Die meine Kinder liebt. Sie hat es bereits auf sich genommen, ihnen das Rechnen beizubringen und ihre Lesefähigkeit zu verbessern. Und währenddessen hat sie alle ihre anderen Pflichten hervorragend erfüllt. Wie groß ist die Chance, eine Fremde zu finden, der das so gelänge und die genauso gut in unseren Haushalt passen würde? Ich gebe zu, der Wechsel würde ein paar Umstellungen nötig machen. Dazu gehört, dass wir sie alle Miss Keene nennen müssten, statt sie bei ihrem Vornamen zu rufen.«
»Du und ich tun das bereits.«
Judith nickte. »Es war mir nie wohl dabei, ihren Vornamen zu benutzen«, erklärte sie leichthin. »Ihre Haltung hat etwas so Damenhaftes an sich. Ich fürchte, sie kann sich immer noch als adelig entpuppen und ich möchte mir nichts vorzuwerfen haben.«
»Ich muss sagen, Judith, ich bin beeindruckt … Es kommt mir fast so vor, als läge dir das Mädchen am Herzen.«
Sie zuckte die Achseln. »Ganz und gar nicht. Mir gefällt nur die Vorstellung, meine Freunde mit Geschichten über unsere zeitweise stumme Gouvernante amüsieren zu können.«
Edward schüttelte langsam den Kopf. Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. »Ich vermute, dass eine einmonatige Probezeit nicht schaden kann. Wir können immer noch eine andere Gouvernante anstellen, falls wir mit Miss Keene nicht einverstanden sind. Soll ich Mrs Hinkley beauftragen, mit ihr zu sprechen, oder würdest du das lieber selbst übernehmen?«
Olivia zögerte. »Gouvernante? Du liebe Güte. Ich weiß nicht, was ich sagen soll …« War das die Antwort auf ihr Gebet um Leitung? Oder sollte sie sich jetzt, wenn es ihr möglich war, verabschieden und das Risiko eingehen, nach Hause zurückzukehren, obwohl ihre Mutter sie gebeten hatte, das nicht zu tun?
Mrs Hinkley reichte Olivia eine Tasse Tee. Sie saßen zusammen im Salon der Haushälterin. »Ich kann es Ihnen nicht verübeln, Olivia. Es würde eine ziemliche Veränderung für Sie bedeuten. Keine Freundschaften mehr mit der Dienerschaft, keinen Tee und Gebäck mehr in der Küche mit Mrs Moore …«
»Aber warum nicht?«
»Meine Liebe, wissen Sie nichts von der misslichen Lage einer Gouvernante?«
»Nein.« Ihre Mutter hatte ihr nichts von dieser Zeit erzählt.
»Eine Gouvernante gehört weder zur Dienerschaft noch zur Familie. Sie darf mit beiden Seiten keinen gesellschaftlichen Umgang pflegen. Sie ist begrenzt auf die Gemeinschaft mit ihren Schülern. Zu den Eltern ihrer Schüler hat sie nur kurzen Kontakt, soweit es nötig ist, um von Problemen zu berichten, die sich ergeben.«
»Ich maße mir nicht an, Teil der Familie zu sein, Mrs Hinkley.« Die Ironie dieser Aussage hallte in ihren Ohren. »Aber wollen Sie mir wirklich sagen, dass meine liebe Freundin Mrs Moore sich weigern wird, mit mir zu sprechen, falls ich dieses Angebot annehme? Und Sie ebenfalls?«
Mrs Hinkley rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. »Es wäre nicht so, dass wir uns strikt weigern würden oder absichtlich unhöflich wären, aber eine sehr reale Mauer würde zwischen uns entstehen. – Ich sage das nicht, um Sie zu entmutigen, damit Sie den Posten ablehnen, denn es besteht kein Zweifel, dass Sie den Kindern viel mehr nützen, als es Miss Dowdle jemals getan hat. Und ich weiß, dass Sie den höheren Lohn verdienen … aber ich möchte auch nicht, dass Sie die Stelle annehmen, ohne eine Ahnung zu haben, was das für Sie bedeutet. Sie werden für uns verloren sein, meine Liebe. Und ich für meinen Teil werde das sehr bedauern.«
Olivia griff nach Mrs Hinkleys Hand und drückte sie. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, mich vorzuwarnen. Aber es war immer mein Wunsch zu unterrichten. Ich wünschte, was Sie sagen, wäre nicht wahr. Denn ich werde sehr einsam ohne Sie alle sein.«
»Ja, meine Liebe. Ich fürchte, das werden Sie ganz bestimmt sein.« Einen Moment lang betrachtete die Haushälterin sie mit einem beinahe kummervollen Blick. Dann richtete sie sich so abrupt auf, als hätte sie in die Hände geklatscht. »Nun gut, wenn das Ihr Herzenswunsch ist, muss nur noch eines erledigt werden.«
Mrs Hinkley erhob sich und holte Federkiel, Tinte und Papier aus ihrem kleinen Schreibtisch. »Mrs Howe würde gern an die Schule schreiben, in der Sie Assistentin waren, und um ein Leumundszeugnis bitten.«
Olivias Herz begann dumpf gegen ihre Brust zu pochen. Ihre kurze Freude verließ sie. Sie hätte das vorhersehen sollen. Ohne Zeugnis als niedriges zweites Kindermädchen angestellt zu werden, ließ sich noch vertreten, doch wenn es um den Posten einer Gouvernante ging, sah die Sache anders aus. Schließlich würde sie für die Erziehung zweier Kinder verantwortlich sein.
»Wenn Sie mir also einfach nur die Adresse aufschreiben, dann gebe ich sie an Mrs Howe weiter.«
Sie reichte Olivia die Feder und das Papier.
Das Blut rauschte in Olivias Ohren. Sollte sie es wagen? Sie zweifelte nicht daran, dass Miss Cresswell eine faire und lobende Beurteilung schreiben würde – zumindest hätte sie vor diesem unglücklichen Vorfall fest damit gerechnet. Hatte Miss Cresswell erfahren, was sie getan hatte? Wenn sie diesen Brief erhielt, würde Miss Cresswell wissen, wo Olivia lebte. Würde sie sich verpflichtet fühlen, diese Information an ihren Vater weiterzugeben, sofern er noch lebte – oder an den Wachtmeister, falls ihr Vater tot wäre?
Ihre Gedanken gingen wieder zu dem stillen Schulzimmer im obersten Stock von Brightwell Court. Es lag dort wie ein braches Feld und wartete darauf, wieder zu nützlichem Leben erweckt zu werden. Innerlich aufs Höchste angespannt, hob Olivia den Federkiel und tauchte ihn in die Tinte. Mit bebenden Fingern schrieb sie den Namen und die Anschrift. Was jetzt nur eine Kombination geschwungener Buchstaben aus Tinte war, konnte eines Tages zur Schlinge um ihren Hals werden.