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Die Gouvernante sollte niemals, unter keinen Umständen, zulassen, dass sie die Ursache für eine Auseinandersetzung in der Familie wird. Genauso wenig sollte sie in einem häuslichen Streit Partei ergreifen.
The Guide to Service, 1844
Olivia begegnete Lord Brightwell, als er aus dem Raum neben dem Studierzimmer kam. Sie wartete, bis er die Tür geschlossen hatte, und flüsterte dann: »Mylord, wie geht es Ed- Lord Bradley?«
Dem Earl stand die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben, doch er raffte sich zu einem schwachen Lächeln für sie auf. »Dr. Sutton ist sehr zuversichtlich, dass er wieder vollständig hergestellt wird. Der Balken hat Edward an der Nase und an beiden Augenbrauen getroffen. Er hat kleinere Verbrennungen um die Augen herum, aber Sutton rechnet nicht mit einer längerfristigen Beeinträchtigung des Sehvermögens. Sein linker Arm ist ebenfalls verletzt. Und an zwei Fingern hat er Verbrennungen, aber sie sind nicht dramatisch.«
»Wie furchtbar.«
»Es geht ihm nicht schlecht, Olivia.«
Er deutete mit dem Kinn auf die Tür, aus der er gerade herausgekommen war. »Ich war gerade bei ihm und seine einzige Sorge war, ob es Andrew und Ihnen gut geht.«
»Es tut mir so leid, Mylord«, brachte Olivia mühsam hervor. Der Kloß in ihrem Hals war groß.
»Meine Liebe, diese Kinder laufen frei herum, seit sie hier sind. Wenn Judith Ihnen zu verstehen gegeben hat, dass sie vor Ihrer Ankunft unter wachsamen Augen waren, dann hat sie Ihnen einen falschen Eindruck vermittelt.« Er blickte sie voller Zuneigung an und tätschelte ihre Hand. »Sie haben diesen Kindern mehr Aufmerksamkeit und Aufsicht geschenkt als Judith je zuvor. Versichern Sie ihr, dass es nicht wieder vorkommen wird, und alles ist gut.«
Olivia schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich sollte meinen Abschied nehmen. Ich bin sicher, dass Mrs Howe das lieber wäre, und ich kann es ihr nicht verdenken.«
»Olivia, Sie tragen an all dem keine Schuld und ich werde Judith zur Vernunft bringen. Aber wenn es hart auf hart kommt, ist sie nur meine Nichte, während Sie meine –«
Sie drückte seinen Arm. »Sagen Sie es nicht.«
»Nun gut, aber wenn Judith Sie nicht mehr als Gouvernante haben will, lade ich Sie ein, als mein … Mündel hierzubleiben.«
Erneut schüttelte Olivia den Kopf. »Ich bin fünfundzwanzig, Mylord, und keineswegs eine Waise; ganz bestimmt kann ich nicht jemandes Mündel sein.«
»Das werden wir ja sehen.«
»Ich bin dankbar, dass Sie das immer noch wollen … nach allem, was geschehen ist«, flüsterte sie. »Aber ich bitte Sie, schlagen Sie sich den Gedanken aus dem Kopf.«
Nachdem sie an diesem Abend mit Audrey gebetet und sie auf die Stirn geküsst hatte, ging Olivia nach unten, um noch einmal nach Andrew im Krankenzimmer zu schauen. Er lag so friedlich da, dass sie einen Moment lang fürchtete, er habe aufgehört zu atmen. Sie brachte ihr Ohr dicht an sein Gesicht. Als sie seinen warmen Atem an ihrer Wange spürte und das sanfte Heben und Senken seiner Brust beobachtete, küsste sie ihn und verließ den Raum. Im Gang bemerkte sie, dass eine Tür offen stand – die Tür, aus der Lord Brightwell vor kurzem gekommen war.
Sie zögerte. Sie wusste, dass sie eigentlich nach oben und zu Bett gehen sollte. Doch sie wusste auch, dass sie nicht würde schlafen können. Nicht, bevor sie Lord Bradley mit eigenen Augen gesehen hatte. Um sich zu vergewissern, dass er alles hatte, was er brauchte, und dass er ihr keine Schuld gab.
Sicher kümmerte sich Osborn darum, dass er es in jeder Hinsicht angenehm hatte – es war dumm von ihr, sich darüber Gedanken zu machen. Dr. Sutton war vor einer halben Stunde gegangen und er wäre sicher hier geblieben, wenn er Anlass zur Sorge gehabt hätte.
Warum schlug dann ihr Herz so schnell?
Olivia blieb nur eines übrig. Sie eilte durch den Gang und konnte kaum glauben, dass sie tatsächlich am späten Abend allein in sein Schlafzimmer ging. Nein, sie würde sicher nicht allein sein. Lord Brightwell würde an seinem Bett sitzen oder zumindest würde Osborn da sein.
Vor der Tür blieb sie stehen, hörte aber nichts. Um ihn nicht zu wecken, falls er schlief, klopfte Olivia ganz vorsichtig. Als keine Antwort kam, holte sie tief Luft und schob die Tür ein paar Zentimeter weiter auf. Sie würde nur einen Blick auf ihn werfen. Wenn er schlief, würde sie nur sichergehen, dass er atmete, und dann weghuschen. Nur kurz hinein und gleich wieder weg. Und wenn Osborn dort war, würde sie … was? Irgendeine Ausrede erfinden – dass Audrey nicht schlafen könne, ohne sicher zu wissen, dass es Lord Bradley gut ging? Sie log ungern, aber sie wollte auch nicht, dass am nächsten Morgen die gesamte Dienerschaft über sie tratschte.
An der Schwelle zögerte Oilvia. Einige Kerzen brannten, doch sie konnte niemanden sehen. Ein schwarz-golden lackierter chinesischer Wandschirm stand mitten im Raum und verdeckte ihr die Sicht.
Ein Kichern ertönte aus dem Gang und Olivia wandte den Kopf. Am anderen Ende des dunklen Korridors sah sie, wie der hochmütige Osborn, Lakai und Kammerdiener, Doris gegen die Wand drückte und küsste.
Geräuschlos trat Olivia einen Schritt vor. Als sie die Tür ein Stück weiter öffnete, sah sie den Teekessel daneben stehen. Sie hob ihn hoch und betrat vorsichtig das Zimmer.
»Wo waren Sie so lange, Osborn?«, murmelte Lord Bradley dumpf.
Etwas an seiner Stimme beunruhigte sie und sie bewegte sich leise vorwärts, ohne sich zu erkennen zu geben. Den Kessel in der Hand – den Osborn wahrscheinlich bringen wollte, als Doris ihm auflauerte – spähte sie hinter den Wandschirm, in der Annahme, Lord Bradley würde dort auf seinen Tee warten. Sie blieb abrupt stehen und unterdrückte einen Aufschrei.
Er saß in der Badewanne, den Kopf an den hohen Rand gelehnt, eine große Bandage über den Augen. Schwarze Rußreste hingen an seinem markanten Kinn und in den Lachfältchen um den Mund herum. Seine linke Hand war ebenfalls bandagiert. Sie hing über den Rand der Wanne und wurde von einem Stuhl gestützt, der offenbar zu diesem Zweck neben die Wanne gestellt worden war.
Ihr Blick wanderte von seiner verbundenen Hand über seinen muskulösen Unterarm zur Schulter hoch. Auf seiner breiten Brust glänzten goldene Haare. Olivia spürte, wie sie rot wurde. Ihr Herz dröhnte wie eine tiefe Basstrommel.
»Lassen Sie mich wissen, wenn eine Stunde vergangen ist. Ich möchte diesen stinkenden Umschlag möglichst bald loswerden.« Seine Stimme war ungewöhnlich schleppend, und sie fragte sich, wie viel Laudanum der Arzt ihm verabreicht hatte. Olivia war dankbar, dass seine Augen bedeckt waren und dass niemand sehen konnte, wie ihr ganzes Gesicht brannte.
Er schnaubte. »Wenn Sie darauf bestehen, mein Haar noch einmal zu waschen, legen Sie los. Ich könnte zwei Wochen lang schlafen.«
Olivias Mund fühlte sich plötzlich wie ausgetrocknet an.
Sein Haar musste noch einmal gewaschen werden – der sonst so helle Farbton war durchzogen von aschgrauen Strähnen. Wie würde es sich anfühlen, es zu waschen? Mit den Fingern in die glatten blonden Haare zu greifen? Sie stellte es sich vor und stieß bebend die Luft aus.
Er hob den Kopf und runzelte die Stirn. »Osborn?«
Ertappt. Sie blieb reglos stehen und erwartete, dass jeden Moment der Umschlag herabrutschen und er sie schockiert und empört über ihr plumpes Eindringen anstarren könnte. Vor lauter Angst stellte sie platschend den Kessel ab und floh aus dem Zimmer.
Den ganzen nächsten Morgen machte Olivia sich Vorwürfe. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, sein Schlafzimmer zu betreten! Von Audrey hatte sie erfahren, dass Lord Bradley schon wieder auf den Beinen war. Das war zumindest eine gute Nachricht. Trotzdem war es später Nachmittag, bis sie sich schließlich ein Herz fasste und zu seinem Studierzimmer hinunterging. Würde er sie nicht für äußerst undankbar und seinem Wohlbefinden gegenüber gleichgültig halten, wenn sie das nicht täte? Würde es nicht seinen Verdacht über den gestrigen schweigenden Besucher bestätigen, wenn sie ihm fernbliebe? Sie drückte sich die Hand gegen die Brust, um ihr pochendes Herz zu beruhigen, und klopfte an die Tür.
»Herein.«
Sie wischte sich die feuchten Hände am Rock ab, drückte die Tür auf und trat ein.
»Ah, Miss Keene …« Lord Bradley, der an seinem Schreibtisch saß, legte den Brief weg, den er gerade gelesen hatte. Seine Jacke hing ihm über eine Schulter, der verletzte Arm lag nicht in der dafür vorgesehenen Schlinge.
»Mylord.« Sie knickste leicht und ärgerte sich über die Hitze, die sich auf ihrem Gesicht ausbreitete. Denn obwohl er jetzt vollständig angezogen war, sah sie ihn unwillkürlich so vor sich, wie sie ihn zuletzt vor Augen gehabt hatte.
»Sie wollten mich … noch einmal sehen?«, fragte er. War da ein Funkeln in seinen blauen Augen oder bildete sie sich das ein?
Sie leckte sich die trockenen Lippen. »Ich wollte mich vergewissern, dass es Ihnen gut geht.«
»Und jetzt, wo Sie mich … vollständig … gesehen haben, was sagen Sie da?«
Sie spürte, wie ihr die Hitze im Nacken hochstieg, obwohl sie ihn nicht – sie wiederholte es für sich – nicht vollständig gesehen hatte. Er wusste es also. Oder war sich ziemlich sicher. Sie würde ihm nicht die Befriedigung schenken, es zuzugeben.
Seine Augen wanderten mit unverhohlener Belustigung über ihr brennendes Gesicht und ihre nervösen Hände.
Sie legte die zappligen Hände fest an ihren Körper und räusperte sich. »Ja, also … ich wollte Ihnen danken, dass Sie Andrew so mutig gerettet haben.«
»Das habe ich ausgesprochen gern gemacht«, antwortete er. Er stand auf, ging um den Schreibtisch herum und lehnte sich dagegen. »Obwohl ich nicht ganz verstehe, warum Sie es für nötig halten, sich dafür zu bedanken.«
»Sie wissen, dass ich Andrew von Herzen liebe, und wenn ihm etwas zustieße … Und natürlich fühle ich mich auf schreckliche Weise verantwortlich, weil ich es zugelassen habe, dass er allein weggelaufen ist.«
Er nickte. »Es ist beklagenswert, dass Andrew von Ihrem geheimen Versteck erfahren hat und dass Talbot nichts davon wusste, als er ihn suchte, sonst wäre dies hier« – er hob seinen verbundenen Arm – »wahrscheinlich vermeidbar gewesen.«
Beschämt senkte sie den Kopf.
»Andererseits hätte ich mir dann Ihre Dankbarkeit nicht verdient.«
Sie blickte ihn an, unsicher, ob er es ernst oder sarkastisch meinte. »Wenn Sie den Wunsch haben, mich zu entlassen, verstehe ich das, und werde sofort abreisen.«
Er verschränkte die Arme, zuckte zusammen und ließ sie wieder fallen. »Ich halte das kaum für nötig. Ich bin auch nicht bereit, mich von Ihnen zu trennen. Judith war verärgert, das weiß ich, aber das wäre jede Mutter – und jede Stiefmutter – gewesen. Etwas von ihrem Zorn ist verraucht, als sie erfuhr, dass ihr lieber Bruder wahrscheinlich für den Brand verantwortlich ist – obwohl Felix das natürlich nicht zugibt.«
Er seufzte. »Auf jeden Fall war es ein unglücklicher Zufall. In der Zwischenzeit werden wir die Pferde bei den Lintons unterbringen, die dies freundlicherweise angeboten haben, und den Stall wieder aufbauen. Ich persönlich freue mich auf das Projekt und plane ein paar Verbesserungen und Erweiterungen, obwohl es mir leid getan hat, das Werk unseres alten Verwalters zerstört zu sehen.«
Olivia betrachtete ihn genauer. »Meinen Sie, Sie werden das schaffen? Wie kommen Sie zurecht? Schmerzt Ihr Arm Sie nicht?«
»Nicht der Rede wert. Er tut ein bisschen weh, ist aber nicht gebrochen, wie Sutton zuerst befürchtete. Die Finger jucken wie verrückt von der grässlichen Salbe, die er aufgetragen hat. Aber abgesehen davon ist alles in Ordnung.«
»Und was ist mit Ihrem Gesicht?«
Er schnitt eine Grimasse. »Sagen Sie es mir. Ich habe es gewagt, in den Spiegel zu schauen und fand mich lächerlich mit diesen versengten Brauen und der geschwollenen Nase. Die wurde mir schon als Junge verbogen und jetzt hat sie noch einmal etwas abbekommen.«
»Sie sehen … gut aus, finde ich.« Sie sprach schnell weiter. »Und was ist mit Ihren Augen?«
»Mein Sehvermögen scheint unbeeinträchtigt, Gott sei Dank.« Er musterte sie. »Ich glaube sogar, ich sehe jetzt deutlicher als je zuvor.«
Sie schluckte. »Tatsächlich?«
Er hielt ihren Blick noch einen Moment länger fest. Blaue Augen starrten in blaue Augen, und in seinen leuchtete etwas Unergründliches auf. »Oh ja.«